Joschka Fischer

 

Vorwort zu

Der Ausstieg aus der Atomenergie ist machbar

(1986)


Aus Joschka Fischer (Hrsg.), Der Ausstieg aus der Atomenergie ist machbar, S.7-11
© 1986 Rohwohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg
Transkription: Michael Gavin
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für REDS – Die Roten.


Die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl ist für die Nutzung der Atomenergie ein historischer Einschnitt. Sie hat die Unbeherrschbarkeit dieser Technologie auf schreckliche Weise offenbar gemacht. Seit Tschernobyl wissen wir, daß die Nutzung des Atoms zur Energieproduktion eine grenzenlose Bedrohung für die Menschen darstellt.

Deshalb ist es an der Zeit umzukehren, eine energiepolitische Wende herbeizuführen, hin zu ökologisch und sozial verträglicheren Formen der Energieerzeugung und -nutzung. Der Ausstieg aus der Atomtechnologie ist heute schon technisch machbar. Er läßt sich auf lange Sicht auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten rechnen. Denn dezentrale Energiesysteme, gekoppelt mit den umfangreichen Möglichkeiten, vorhandene Energien ohne Komfortverzicht für den Einzelnen sparsam einzusetzen, sind langfristig billiger, arbeitsplatzgerechter und vor allem sicherer.

Allerdings ist der Weg in den Atomstaat inzwischen weit vorangeschritten. Da insbesondere in den letzten Jahren immer neue Atomkraftwerke ans Netz gingen, ist ein kurzfristiger Abschied von dem Irrweg Atomtechnologie heute mit mehr Problemen behaftet als noch in den siebziger Jahren. Dies sollte uns jedoch nicht von der gebotenen Wende abhalten, denn der Preis für den Ausstieg wird mit jedem Jahr höher. Und der Gegenwert für den Verzicht auf die Atomkraft ist unschätzbar hoch: Schließlich würden die ungeheuren Gefahren, die uns unter dem harmlosen Stichwort „Restrisiko“ vorgestellt wurden, entfallen.

Erinnern wir uns an den 1. Mai dieses Jahres. Es war ein strahlend schöner Sonnentag. Die Kinder spielten in den Sandkästen und auf Wiesen, die Älteren gingen spazieren – überall schnupperte man Frühlingsduft. Wer hätte an diesem Morgen schon geahnt, was mit dem Becquerel-Bericht am Abend Gewißheit wurde: daß wir an diesem Tag außer dem lauen Frühlingswind auch Beta- und Gamma-Strahlen inhaliert haben. Der Ost-Wind hatte die radioaktiven Strahler herübergetragen – aus 1500 km Entfernung. Quasi über Nacht war direkt Einfluß genommen worden auf unsere Lebensgewohnheiten. Wir waren abhängig, nicht von irgendwelchen Politiker-Entscheidungen, sondern vom Wetterbericht.

In den Behörden brach Chaos aus. Überall tagten Krisenstäbe, aus Bonn meldete sich tagtäglich die Strahlenschutzkommission mit neuen Grenzwerten zu Wort. Indessen gaben einzelne Länder eigene Richtlinien heraus – mit Recht, denn die Grenzwerte der Strahlenkommission waren nach Meinung anerkannter Experten viel zu hoch angesetzt.

Hätten die Bürger in den Tagen der Katastrophe hinter die Kulissen all jener Krisenstäbe und Expertenrunden der Regierenden blicken können, sie wären gänzlich desillusioniert worden. Die Krisenmanager und Atom-Fachleute, sie waren nämlich ratlos nach Tschernobyl.

Inzwischen ist langst wieder „Normalität“ eingekehrt. Dort noch ein bißchen Cäsium im Boden, hier ein wenig in der Johannisbeerenernte und die Waldpilze in diesem Jahr – lieber nicht genießen. Ansonsten kümmert uns nur noch wenig, was in den ersten Maitagen geschah. Alles schon vergessen?

Keinesfalls will ich der plumpen Panikmache das Wort reden. Eines jedoch sollte nach Tschernobyl klar sein: Es darf sich nie mehr wiederholen.

Deutsche Atomreaktoren, so wird uns immer wieder weisgemacht, seien die sichersten der Welt; ja sie seien sogar „absolut sicher“. Gibt es denn das?

Ich habe noch nie eine wirklich schlüssige Begründung dafür gehört, warum in der Bundesrepublik tatsächlich ein Super-GAU völlig ausgeschlossen werden könne. Ja, ich behaupte sogar, es gibt keine wirklich schlüssige Begründung: denn in allen Berechnungen bleibt ein „Restrisiko“ übrig. Dies, angeblich eine Größe, die so klein ist, daß man sie mathematisch nur ganz weit hinter dem Komma lokalisieren kann. Doch was von derlei Rechenkünsten der Experten zu halten ist, wissen wir inzwischen.

Deshalb müssen wir umdenken. Jetzt, nicht erst in grauer Zukunft gilt es, eine neue Energiepolitik einzuleiten. Die übrigens ist gar nicht neu. Kraft-Wärme-Kopplung, regenerative Energiequellen wie Sonne, Wind und Wasser, die vielfältigen Systeme, Energie einzusparen – dies alles sind keine neuen Stichworte. Die Energieversorgungspfade, für die sie stehen, wurden bisher nur nicht ernsthaft genug verfolgt.

Das ist auch nicht verwunderlich. Schließlich sind die Stromversorgungsunternehmen von ihrer Struktur her daran interessiert, ihren Absatz zu steigern, nicht daran, eine gesellschaftlich sinnvolle Verminderung des Strombedarfs herbeizuführen.

Nehmen wir die „Rheinisch-Westfälischen-Elektrizitätswerke“ (RWE), einen der großen Energiekonzerne in der Bundesrepublik als Beispiel. Ihr Vorstandsmitglied, Dr. Klätte, hat in einer Anhörung vor dem nordrhein-westfälischen Landtag im Herbst 1985 ganz unumwunden zugegeben, daß sich die RWE um Zuwachsraten beim Stromabsatz bemüht: „Wenn Sie uns den Stromabsatz schaffen, wenn Sie dafür sorgen, daß wir Zuwachsraten von sechs bis sieben Prozent haben und sehen“, dann könne über den Zubau zweier Kohlekraftwerke im Ruhrgebiet geredet werden, so der Energiefachmann. Doch ausbleibende Stromverbrauchszuwächse seien mit „geringerem Stromabsatz“ gleichzusetzen – da „brauchen wir auch keine Kraftwerke“, lautet seine Schlußfolgerung.

Und abschätzig spricht er davon, daß der Stromabsatz heute geradezu „verteufelt“ werde. Die „Bestrebungen, den Stromverbrauch zu reduzieren“ und namentlich das „Hessische Energiespargesetz“ – all dies paßt dem RWE-Vorstandsmann offenbar ganz und gar nicht. Dabei hat sich das im Juli 1985 von einer rot-grünen Mehrheit im Wiesbadener Landtag verabschiedete Energiespargesetz nur zum Ziel gesetzt, was heute, nach Tschernobyl, noch forcierter betrieben werden muß: eine „sparsame, rationelle, sozial- und umweltvertragliche Energienutzung in Hessen“ – und natürlich auch im Bund.

Der Ausstieg aus der Atom-Technologie kann nicht allein rein technisch vollzogen werden, indem man vom Uran auf die fossilen Brennstoffe Gas, Öl und Kohle umsteigt. Entscheidend ist, daß dieser Umstieg einhergeht mit einer umfassenden Umstrukturierung sowohl von der Energieerzeugung als auch vom Energieverbrauch her. Einer Umstrukturierung, hin zu örtlich angepaßten Systemen, die wirtschaftlich, arbeitsplatzgerecht und sozial sowie ökologisch vertraglich ist.

Kraft-Wärme-Kopplung beispielsweise, die Erzeugung von Strom und Wärme in einem „Block“, ist anerkanntermaßen eine sehr viel wirtschaftlichere Form der Energieerzeugung als die sogenannte „friedliche Nutzung des Atoms“. Warum sollte dieses System nicht starker genutzt werden? Ein anderes Beispiel: Noch immer basiert die Struktur der bundesdeutschen Stromversorger auf einem Gesetz von 1935. Dies ermöglicht ihnen Praktiken, die eine ganze Reihe von Stromsparvorsatzen, seien sie auch noch so ernst gemeint, schlicht blockieren. Warum also diesen völlig veralteten Nazi-Gesetzestext nicht umformulieren, nach den heute notwendigen Erfordernissen?

Tschernobyl markiert eine schreckliche Zäsur. Doch wir sollten die furchtbare Atom-Katastrophe auch als Chance nutzen. Es gibt heute die Möglichkeit, mit der politischen Akzeptanz breitere Bevölkerungskreise eine hochmoderne Energiestruktur aufzubauen, die kurzfristig auf den vorhandenen Energiequellen beruht und mittelfristig auf regenerative Energiequellen im Konzert mit einer sinnvollen, ressourcenschonenden Energienutzung baut.

Und dabei werden – entgegen den düsteren Prophezeiungen der Atombefürworter – die Bemühungen um eine Reduzierung der Schwefel- und Stickoxidemissionen selbst während der ersten Jahre, wenn also noch nicht bei allen Kraftwerken Rauchgasreinigungs- und Denoxanlagen installiert sein können, nicht stagnieren. Die Verknüpfung mit den verschiedenen, im Szenario genannten, flankierenden Maßnahmen zur rationellen Stromerzeugung und -Nutzung sowie kurzfristig realisierbare Verbesserungen an den Kraftwerken selbst, werden vielmehr zu einer spürbaren Verminderung der „klassischen Emissionen“ führen.

Wenn sich die Stromlobbyisten heute als frischgebackene Umweltschützer im grünen Förstergewand vorstellen und für den Fall des Ausstiegs das Schreckensgespenst eines sterbenden Waldes an die Wand malen, dann kann ich an die Ernsthaftigkeit dieser Prophezeiungen nicht so recht glauben. Schließlich wurden noch vor gar nicht langer Zeit ganz andere Rechnungen aufgestellt. Die letzte Fortschreibung des Energieprogrammes beispielsweise hat einen zusätzlichen Verbrauch von fossilen Brennstoffen etwa in dem jetzt für einen sofortigen Ausstieg notwendigen Maß für akzeptabel gehalten – und zwar trotz Ausbaues der Atomenergie. Und vor wenigen Monaten noch wollten die Kraftwerkbetreiber erst mal die Ursachen des Waldsterbens geklärt wissen, ehe Maßnahmen zu ergreifen seien. Buschhaus ging 1984 ans Netz ohne Rauchgaswäsche, Ibbenbüren 1985.

Im übrigen halte ich es für eine zynische Argumentation, den Wald gegen die radioaktiven Emissionen zu stellen. Auch die Horrorgemälde von den ausgehenden Lichtern treffen nicht die Realität. Das belegen nicht zuletzt auch die Berechnungen aus dem Hessischen Umweltministerium in diesem Buch.

Vermeintliche Versorgungsengpässe für ein Hinausschieben des notwendigen Ausstiegs aus der Atomtechnologie anzuführen, eine solche Argumentation schlagt fehl. Denn eine Vertagung auf später bedeutet keineswegs, daß sich die Bedingungen für den Ausstieg damit verbessern würden. Im Gegenteil: Wir haben seit den 70er Jahren erlebt, daß Zug um Zug forciert Atomkraftwerke zugebaut wurden. Da bedeutet der Status quo keineswegs, daß alles bleibt, wie es ist. Es wird vielmehr weitergehen: zwei Atomkraftwerke – Mühlheim-Kährlich und Brokdorf – sind derzeit noch nicht am Netz, drei weitere befinden sich im Bau, dazu der Schnelle Brüter in Kalkar, die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf und der vorliegende Antrag auf ein Atomkraftwerk im nordhessischen Borken – kurz: der Zubau ist vorprogrammiert, und damit werden auch alle Aus- und Umstiegsmöglichkeiten zugebaut.

Heute hingegen ist der Ausstieg aus der Atomtechnologie politisch möglich, weil eine Mehrheit der Bevölkerung ihn wünscht. Und er ist technisch machbar, weil die kurzfristigen Probleme sich noch im erträglichen Rahmen bewegen und die Umorientierung auf ökologisch angepaßte Systeme auf lange Sicht wirtschaftlicher ist. Gleichwohl wird eine grundlegende Wende in der Energiepolitik auf den Widerstand mächtiger Interessensgruppen stoßen. Um so bedeutsamer ist es, daß dieser Kurswechsel auf demokratischer Diskussion und Entscheidung beruht. Das Ausstiegs-Szenario aus dem Hessischen Umweltministerium, vorgelegt am 22. Mai 1986, war diesbezüglich von richtungsweisender Bedeutung: es hat zu einem Zeitpunkt, als die Stromlobbyisten in großangelegten Öffentlichkeitskampagnen den Bürgern die Unverzichtbarkeit der Atomenergie vorgaukeln wollten, klargestellt, daß es auch ohne geht – wenn nur der politische Wille für den Ausstieg vorhanden ist. Jetzt geht es in der Debatte nicht mehr um technische Detailprobleme, es geht um die politische Frage, das, was technisch machbar ist, auch zu realisieren – zum Schutze der Menschen. Der vorliegende Band soll eine Grundlage darstellen für die anstehenden Diskussionen. Ich danke allen, die daran mitgearbeitet haben.

Joschka Fischer
Wiesbaden, im Juli 1986

 


Last updated on 3.1.2002