Otto Schily

 

Einführung zu

Reiner Geulen: Rechtliche Konsequenzen des Tschernobyl-Unfalls für den Betrieb atomarer Anlagen in der Bundesrepublik Deutschland

(1986)


Aus Joschka Fischer (Hrsg.), Der Ausstieg aus der Atomenergie ist machbar, S.139-41
© 1986 Rohwohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg
Transkription: Michael Gavin
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für REDS – Die Roten.


Politisch sind die Atomkraftbefürworter seit der Katastrophe von Tschernobyl in der Defensive. Ihre Sicherheitsphilosophie hat rapide an Vertrauen eingebußt. Das gigantische Gefahrenpotential, das in den atomaren Anlagen aufgebaut ist, erscheint inzwischen der Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik als das, was es ist: eine Bedrohung existentiellen Ausmaßes. Sie sind deshalb auch nicht mehr willens, der vorgeblich „unentrinnbaren“ Logik zu folgen, das „Restrisiko“, wie die Gefährdung aus dem Betrieb atomarer Anlagen verharmlosend genannt wird, sozusagen als schicksalhaft und naturbedingt zu akzeptieren.

Infolgedessen ist auch die Bereitschaft großer geworden, vorurteilsfrei über Alternativen der Energieversorgung nachzudenken und sich nicht von den falschen Propheten einschüchtern zu lassen, die das Ende der Zivilisation für den Fall des Ausstiegs aus der Atomenergie voraussagen. Während Atomkraftbesessene sich nicht vorzustellen vermögen, daß ein „normales Leben“ ohne Atomenergie möglich sei – so der frühere sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik Valentin Falin in einem Spiegel-Gesprach – sollte spätestens nach der Katastrophe von Tschernobyl die Erkenntnis allen zugänglich sein, daß es sich genau umgekehrt verhält.

Das Gerede von den vermeintlichen Sachzwängen, die dem Ausstieg aus der Atomenergie entgegenstehen, erweist sich bei näherer Prüfung als bloßes Unvermögen zum energiepolitischen Umdenken. Der Ausstieg ist realisierbar, das gilt gleichermaßen in technischer, wirtschaftlicher und juristischer Hinsicht.

Angesichts des wachsenden Zuspruchs, den die politischen Kräfte finden, die auf eine Energieversorgung ohne Atomkraftwerke hinarbeiten, setzen die Atomkraftbetreiber verstärkt auf juristische Hilfsmittel. In der Öffentlichkeit wird die Parole ausgegeben, die juristischen Bollwerke, in denen sich die Atomkraftwerksbetreiber verschanzt haben, seien uneinnehmbare Festungen, schon deshalb sei die Forderung nach dem Verzicht auf Atomkraftwerke illusorisch. Die juristischen Festungsanlagen sind in der Tat tiefgestaffelt, bestehen aber in Wahrheit nur aus brüchigen Bastionen. Wie Reiner Geulen in seinem Beitrag über die rechtlichen Konsequenzen des Tschernobyl-Unfalls für den Betrieb atomarer Anlagen in der Bundesrepublik Deutschland nachweist, hat die Erhöhung der Strahlenbelastung infolge der Katastrophe von Tschernobyl unmittelbare Auswirkungen auf die Frage der rechtlichen Zulässigkeit des Weiterbetriebs atomarer Anlagen in der Bundesrepublik. Die Steigerung der Strahlenbelastung aus dem Fall-out von Tschernobyl verbietet es, wie Reiner Geulen ausführt, Radioaktivitätsabgaben durch Atomkraftwerke zuzulassen, die zur Überschreitung der in der Strahlenschutzverordnung festgelegten Grenzwerte führen. Daraus ergibt sich, daß die Behörde nicht nur den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken untersagen darf, sondern daß sie ihn untersagen muß, wenn sie nicht dem Grundsatz zuwiderhandeln will, daß der Schutzzweck der atomrechtlichen Vorschriften, das heißt Leben, Gesundheit und Sachgüter vor den Gefahren der Atomenergie zu schützen (§ 1 Nr.2 AtomG), unbedingten Vorrang hat. Der Beitrag von Reiner Geulen bestätigt im übrigen, daß auch die Behauptung, die Schließung der Atomkraftwerke werde horrende Entschädigungsansprüche auslösen, auf äußerst schwachen Füßen steht. Wenn überhaupt Entschädigungen zu leisten wären, hätten sie nur einen sehr bescheidenen Umfang. Der Zeitwert von atomaren Anlagen, deren Nutzung aufgrund zwingender gesetzlicher Vorschriften nicht mehr möglich ist, wird kaum höher anzusetzen sein als der Schrottwert. Selbst der Schrottwert wird eher gering sein wegen der jedenfalls teilweise notwendigen Dekontaminierung des Materials.

Von den Regierungen in Bund und Ländern ist zu fordern, daß sie die unausweichlichen Konsequenzen aus der durch die Tschernobyl-Katastrophe verursachten Veränderung der Situation ziehen und durch Schließung der Atomkraftwerke dafür sorgen, daß die Bürger der Bundesrepublik künftig nicht mehr einer gesundheitszerstörerischen Strahlenbelastung über die nach der Strahlenschutzverordnung zugelassenen Grenzwerte ausgesetzt werden. Vor allem der neue Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, der am 6. Juni 1986 geschworen hat, er werde seine Kraft dem Wohle des Deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren und Schaden von ihm abwenden, wird sich fragen lassen müssen, oh er die Gesundheit der Bürger der Bundesrepublik und künftiger Generationen den kurzfristigen und kurzsichtigen kommerziellen Interessen der Atomkraftwerker opfern will. Verantwortliches politisches Handeln kann jedenfalls nicht darin bestehen, die Festlegung der strikten Grenzwerte durch sogenannte „effektive“ Strahlendosiswerte aufzuweichen und auf diese Weise die Strahlenhypothek, die den Menschen aufgebürdet wird, erheblich aufzustocken. Es wäre wahrlich verhängnisvoll, wenn die Grenzwerte den technischen Erfordernissen der Atomkraftwerke angepaßt würden, anstatt sich an der Belastungsgrenze zu orientieren, die für den körperlichen Organismus der Menschen nach bisheriger und ohnehin problematischer wissenschaftlicher Erkenntnis ohne Gesundheitsbeeinträchtigung gerade noch erträglich ist.

Damit der Vorrang des verfassungsrechtlich garantierten Schutzes von Leben und Gesundheit sich durchsetzt, müssen sich die Menschen selbst zu Wort melden und ihr Recht reklamieren.

 


Last updated on 3.1.2002