Ian Birchall

 

Arbeiterbewegung und Parteiherrschaft

 

Teil III. (1963-1973)

11. Der Osten ist Rosa

Die kubanische Raketenkrise von 1962 bezeichnete das Ende der Serie von atomaren Konfrontationen, die in den fünfziger Jahren einander abgelöst hatten. Von jetzt an respektierte jede Seite die Toleranzgrenzen der anderen Seite. Aber der Rüstungswettlauf kam zu keinem Halt; er eskalierte im Gegenteil weiter. Und da das Niveau, auf dem die anderen verschieden ist, führte diese Eskalation zu wachsenden Spannungen. Diese begannen, die militärischen Blöcke, die in den späten vierziger Jahren gebildet worden waren, zu zersetzen. Auf westlicher Seite brachte dies der französische Rückzug aus der NATO im Jahr 1965 zum Ausdruck, der nur das Symptom eines breiteren Interessenzusammenstoßes zwischen den USA und Westeuropa war. Im Osten gab es ähnliche Tendenzen, und Rumänien spielte eine Rolle, die der Frankreichs in einiger Hinsicht entsprach. Darüberhinaus war die Last der Rüstungsausgaben der Hauptgrund, warum die Sowjetunion ihr permanentes Problem der zu niedrigen landwirtschaftlichen Investitionen nicht lösen konnte.

Die UdSSR sah sich in den sechziger Jahren einer schleichenden Krise gegenüber. Diese war ein wichtiger Grund, dem Westen nicht zu aggressiv gegenüberzutreten Unter anderem war Chruschtschows Entfernung von der Macht im Herbst 1964 ein Ausdruck dieser Krise. Aber die Nachfolger hatten kein Rezept zur Lösung der Probleme von sinkenden Wachstumsraten und stagnierender Landwirtschaft Probleme, deren unmittelbare Ursache in den Rüstungsausgaben lag. Der sogenannte Libermann-Plan, der hätte der sechziger Jahre eingeführt wurde, suchte den Betriebsleitern mehr Anreize zur Gewinnmaximierung zu geben; andere Reformen und Dezentralisierungsmaßnahmen folgten. Aber die Getreidekrise von 1972 war der sichtbare Beweis ihres Mißerfolgs. Derweil dauerten die Verfolgungen von Intellektuellen, Juden und anderen, die irgendwie gegen das Regime opponierten, an. in ihrer Außenpolitik setzte die Sowjetunion nach Chruschtschow die Tradition der „friedlichen Koexistenz“ fort; die Russen wollten mehr und mehr als Hüter der „Weltordnung“ betrachtet werden. Natürlich unterstützten sie Vietnam militärisch; bemerkenswert ist jedoch der geringe Umfang der Hilfe [1] und die Tatsache, daß die Sowjetunion niemals die Greueltaten der Vereinigten Staaten in Vietnam zum Anlaß nahm, ihre guten Beziehungen zum Westen zu unterbrechen.

Das stalinistische Rußland beging zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren enorme Verbrechen; andererseits konnte es sich auch auf fundamentale wirtschaftliche Errungenschaften berufen. Dadurch rief es in der internationalen Arbeiterbewegung leidenschaftlichen Haß ebenso hervor wie leidenschaftliche Begeisterung. Die Sowjetunion der sechziger Jahre konnte mit ihrer sinkenden wirtschaftlichen Wachstumsrate und ihrer konservativen Außenpolitik keine derartigen Leidenschaften mehr entzünden.

Wenn jetzt eine neue Generation von Revolutionären im Ausland nach Helden suchte, blickte sie nach China, Vietnam oder Kuba. Auf diesem Hintergrund muß der chinesisch-sowjetische Bruch, mit seinen gewaltigen Auswirkungen auf die gesamte internationale Arbeiterbewegung, gesehen werden.

 

 

Der chinesisch-sowjetische Bruch

Nach einem Jahrzehnt kommunistischer Herrschaft versuchte China immer noch, sich aus eigener Kraft zu industrialisieren. Zu seinem Unglück konnte es nicht darauf zählen, daß die Sowjetunion ihm die für seine Entwicklung notwendige Unterstützung gab. Tatsächlich war die sowjetische Hilfe für China viel geringer als die für die „neutralen“ Länder; und was die Handelsbeziehungen anging, beutete die Sowjetunion China in der gleichen Weise aus wie ihre osteuropäischen Satelliten. [2]

Die chinesische Führung konnte für die ganze chruschtschowistische Strategie der „friedlichen Koexistenz“ kaum Begeisterung aufbringen. Erstens deshalb, weil die Notwendigkeit, mit dem Schweiß und Blut der Arbeiter die Produktivität zu erhöhen, die ständige Aufrechterhaltung eines Belagerungszustandes erforderte; und zweitens befürchteten die Chinesen, daß die „friedliche Koexistenz“ zu einer weiteren Verminderung der sowjetischen Hilfe führen würde.

Anzeichen von Reibungen zwischen der UdSSR und China ließen sich bis zum zwanzigsten Parteitag der KPdSU von 1956 zurückverfolgen, auf dem die Chinesen sich nur unter deutlichem Widerstreben mit der Entstalinisierung abfanden. 1957 sprachen sie deutlich aus, daß sie Chruschtschows Einschätzung über das Ausmaß des Schadens, den ein Atomkrieg anrichten würde, nicht teilten. 1960 schien der Konflikt offen auszubrechen – im Juni griff Chruschtschow die chinesische Haltung in bezug auf die Möglichkeit eines Atomkriegs scharf an und im August wurden die sowjetischen Techniker aus China zurückgezogen und verschiedene Hilfsabkommen gekündigt.

In diesem Stadium waren jedoch beide Seiten noch gewillt, den Streit unter sich auszutragen und „privat“ zu halten. Chruschtschow erinnerte sich zweifellos noch an den Ärger, den ihm die Bereinigung des Streits mit Tito gemacht hatte, und die Chinesen trauten sich noch nicht zu, eine wirkliche Alternative zu Moskaus internationaler Vorherrschaft anzubieten. Die Konferenz von 81 KPs, die im November 1960 in Moskau stattfand, war ein Versuch, die Risse zu verkleistern. Aber die Differenzen waren zu tief. Die endgültig auslösenden Momente waren erstens die kubanische Raketenkrise, in der die Chinesen mit einigem Recht Chruschtschow sowohl des Abenteurertums wie der Kapitulation für schuldig hielten, und zweitens der ergebnislose Krieg zwischen Indien und China im Herbst 1962, demgegenüber die Sowjetunion eine verlegene Neutralität wahrte, nachdem sie Waffen an Indien geliefert hatte. Der Streit brach 1963 mit einer Serie von Briefen zwischen den beiden Parteien aus. Die Heftigkeit und der Tonfall der Polemik steigerten sich dabei allmählich, bis sie dasselbe Ausmaß erreichten wie auf dem Höhepunkt des Bruchs zwischen Stalin und Tito fünfzehn Jahre zuvor.

Einige haben behauptet, die chinesische Linie repräsentiere in bestimmter Hinsicht eine Wiederbelebung des Trotzkismus und der „Linken Opposition“. Nichts dergleichen ist richtig. Tatsächlich ist es schwer, aus den vielen dicken Bänden mit Polemik und reinen Schmähungen, die die Pekinger Druckereien ausstoßen, eine zusammenhängende Linie herauszulesen. Man findet darin allerdings eine verbale Militanz, den Appell an abstrakte und körperlose Massen:

Wir setzen unser Vertrauen auf die große Stärke der Massen. Wir glauben, daß wir uns bei der Bekämpfung des Imperialismus und bei der Verteidigung des Weltfriedens hauptsächlich auf die Einheit und den Kampf der Völker aller Länder stützen müssen und auf den gemeinsamen Kampf des sozialistischen Lagers, der internationalen Arbeiterklasse, der nationalen Befreiungsbewegung und alter friedliebenden Kräfte. [3]

Dies steht mit seiner vollkommen unmarxistischen Bezugnahme auf so klassenlose Wesenheiten wie „alte friedliebende Kräfte“ voll und ganz in der politischen Tradition der Volksfront. Die Chinesen verfügten über keine ernsthafte Klassenanalyse der nationalen Befreiungskämpfe, denen sie so große Bedeutung beimaßen; China hielt sich die Möglichkeit offen, Bündnisse mit jedem afrikanischen oder asiatischen Staat, der ihm gegenüber freundlich gesinnt war, zu schließen. Wenn man doch einmal spezifischer nach Klassenkriterien vorging, wurde die Arbeiterklasse ausdrücklich zugunsten der Bauernschaft vernachlässigt: „Das Land und nur das Land kann die revolutionäre Basis liefern, von der aus die Revolutionäre zum endgültigen Sieg voranschreiten.“ [4]

Nachdem er einmal losgegangen war, eskalierte der Streit mit beängstigender Geschwindigkeit. Schon am 3. September 1963 behaupteten die Chinesen, daß die „Führung der KPdSU sich mit dem US-Imperialismus, den indischen Reaktionären und der titoistischen Renegatenclique gegen das sozialistische China und alle marxistisch-leninistischen Parteien verbündet hat, in offenem Verrat am Marxismus-Leninismus und am proletarischen Internationalismus.“

Danach scheinen die Chinesen jemanden angestellt zu haben, um die alten Exemplare von Für einen dauernden Frieden ... durchzugehen und nach zackigen Überschriften zu suchen. Den Preis für die kraftvollste hat wahrscheinlich die Volkszeitung vom 27. Januar 1967 verdient:

Schlagt machtvoll die wilde Provokation der schmutzigen sowjetrevisionistischen Schweine zurück!

Inzwischen hat sich der Konflikt über die bloß verbale Ebene hinaus entwickelt; im Frühjahr 1969 gab es bewaffnete Zusammenstöße zwischen sowjetischen und chinesischen Streitkräften wegen der unbewohnten Insel Tchen Pao, die in bestimmten Jahreszeiten unter dem Wasser des Ussuri verschwindet. In den frühen siebziger Jahren hatten die Russen schon beträchtlich mehr Truppen an der chinesischen Grenze stehen als in Europa.

 

 

Die Kulturrevolution

In China intensivierten die nachteiligen wirtschaftlichen Folgen des Entzugs der sowjetischen Hilfe und des Rückzugs der sowjetischen Techniker jene Konflikte innerhalb der Kommunistischen Partei, die ihren Ursprung in den fünfziger Jahren hatten und durch den Fehlschlag des „Großen Sprungs nach vorn“ von 1958 noch erbitterter geworden waren. [5] Das forcierte Drängen auf Industrialisierung mit Hilfe arbeitsintensiver Methoden und voller Kollektivierung der Landwirtschaft, die „Linie Maos“ also, wurde der „schwarzen Linie“ derer, „die den kapitalistischen Weg nehmen“ und von Liu-Schao-Schi geführt wurden, gegenübergestellt. Die vorsichtigere Politik wirtschaftlicher Entwicklung: Mechanisierung der Landwirtschaft, Betonung der Leichtindustrie zur Versorgung eines hauptsächlich bäuerlichen Marktes und ein stärkeres Sich-Stützen auf technisches und organisatorisches Geschick wurde in der „Kulturrevolution“ mit denen, die die „schwarze Linie“ vertraten, in Zusammenhang gebracht.

Im Mittelpunkt dieses Konfliktes standen „unkorrekte“ politische Einstellungen und „Bürokratismus“, also dieselben Laster, die auch die Hauptzielscheibe in der Kulturrevolution waren. Der überwältigende Moralismus der maoistischen Propaganda stellte einen Versuch dar, die objektiven Hindernisse der wirtschaftlichen Rückständigkeit durch Anstrengung und Hingabe zu überwinden. Die sowohl innerhalb wie außerhalb der Partei existierende Bürokratie stand großenteils einer zentralisierten Kontrolle der Gesellschaft, die für einen erneuten Industrialisierungsschub erforderlich war, im Wege, und Maos Vorliebe für arbeitsintensive Methoden bedeutete, daß die Zahl, die Privilegien und die Gehälter der Bürokraten in nützlicher Weise vermindert werden konnten. Gleichzeitig war die Durchführung von Alphabetisierungskampagnen und elementarer wissenschaftlicher Unterweisung, wie sie durch das „Mao-Tse-Tung-Denken“ vermittelt wurde, notwendig, um die Arbeitskraft einerseits hinreichend auszubilden, andererseits fügsam genug zu machen.

Die „Kulturelle Berichtigungskampagne“, die Maos Frau 1964 startete, stellte einen Frontalangriff auf jene literarischen Werke dar, die andeuteten, daß es bestimmte menschliche Probleme auch außerhalb politischer Erklärungszusammenhänge gibt. Die ausländische Literatur wurde angegriffen, aber ebenso bestimmte historische Themen und Interpretationen in der zeitgenössischen chinesischen Literatur. Ab November 1965, als ein Vizebürgermeister von Peking attackiert wurde, weil er ein Stück geschrieben hatte, das individuelle „gute“ Taten von Mitgliedern der alten Mandarin-Bürokratie zu verteidigen schien, wurde die Kampagne zu einem Angriff auf die Opposition gegen Mao innerhalb der Bürokratie erweitert. Im Frühjahr 1966 wurden eine Reihe führender Figuren der Partei in Peking aus dem Amt gejagt und die Universitätsstudenten in ganz China eingeladen, die kulturelle Debatte, in die sie bereits verwickelt waren, in einen Angriff auf die regierende örtliche Bürokratie umzuwandeln.

Im August 1966 folgte die Massenmobilisierung von Schülern und Studenten als „Rote Garden“. Ihnen wurde freie Verpflegung, Unterkunft und Transport in ganz China zugesagt. Als einzige politische Qualifikation wurde die Unterstützung Maos verlangt. Der Aufruf erging weder an die 20 Millionen Parteimitglieder noch an den kommunistischen Jugendverband und die Pioniere mit ihren Dutzenden von Millionen Mitgliedern; Mao mußte sich außerhalb der Parteimaschinerie nach einer ihm freundlich gesinnten Kraft umsehen. Auch die Arbeiter wurden im allgemeinen nicht zur Mobilisierung außerhalb der Fabriken aufgerufen. Die Arbeiter wurden ständig daran erinnert, daß die Aufrechterhaltung der industriellen Produktion von entscheidender Bedeutung war, während die Wirtschaft bei Schließung von Schulen und Universitäten nicht sofort zusammenbrechen würde.

Klar ist, daß die chinesischen Arbeiter die „Große Proletarische Kulturrevolution“ nicht gemacht haben, sondern zu ihren Opfern gehörten. Nicht nur ein Lohnstop, sondern Lohnkürzungen (durch den Entzug von Prämien) wurden ihnen aufgezwungen. Die Streikwelle in vielen der größeren chinesischen Städte Ende 1966 und Anfang 1967 wurde „einer Handvoll Personen, die den kapitalistischen Weg nehmen“ zur Last gelegt, die Lohnerhöhungen gefordert hätten, „um den Kampfwillen der revolutionären Arbeiter zu untergraben“. Wir wissen von diesen Streiks nur durch die maoistische Propaganda gegen sie, aber es ist offensichtlich, daß man sich der „Roten Garden“ bedienen mußte, um sie zu brechen. [6]

In einer Stadt wie Schanghai, wo es Massendemonstrationen von Arbeitern sowohl für wie gegen Mao gab, war auf beiden Seiten offensichtlich Manipulation im Spiel; man kann unmöglich sagen, daß die Arbeiterklasse in der Kulturrevolution eine unabhängige politische Rolle gespielt hat. [7]

Aber der Massenmobilisierung waren noch andere Grenzen gesetzt als die, die bei den Streiks von 1967 offenbar wurden. In ganz China reagierten studentische und andere Gruppen auf Maos Aufruf, „die Revolution zu machen“, aber einige ihrer Interpretationen waren zu radikal für Maos Geschmack. Einige Gruppen wurden als „großer konterrevolutionärer Mischmasch“ [8] öffentlich angeprangert oder als Anhängsel einer unheilvollen rechten Verschwörung in „ultralinker“ Verkleidung. Seit Anfang 1967 wurde die Armee – von maoistischen Propagandafeldzügen seit 1963 sorgfältig vorbereitet und im Januar 1967 endgültig von Oppositionsführern gesäubert – mehr und mehr dazu benutzt, die Ordnung wieder herzustellen.

Bis Ende 1968 waren wieder alle Gebiete und Städte Chinas unter Kontrolle von „Revolutionskomitees“, die sich auf das sogenannte „Drei-in-Eins“-Bündnis von Partei, Armee und Massen gründeten, und in deren Armee und Partei gemeinsam den Ton angaben. Die Bürokratie war beschnitten, aber nicht beseitigt worden. 4 der 7 Mitglieder des Parteipräsidiums und 13 der 17 Mitglieder ihres Politbüros waren aus ihren Positionen entfernt worden. Auf lokaler Ebene gab es einen stärkeren Kern führender Figuren, die ungeschoren blieben. [9]

Eine Reihe in Ungnade gefallener Führer wurde 1972 und 1973 wieder in Führungspositionen eingesetzt, während Lin Piao, der Führer der Armee und Held der Kulturrevolution, dessen Name auf dem 9. Parteitag 1969 in die Parteistatuten aufgenommen worden war, 1971 verschwand und später als Anstifter einer „ultralinken“ Verschwörung denunziert wurde. Was auch immer die Wahrheit über das Verschwinden und den Tod Lins sein mag, die ganze Affäre widerspiegelt jedenfalls die Bedeutung der Armee, die zur Kontrolle der regionalen Regierungen ebenso gebraucht wird wie zum Schutz vor der sowjetischen Bedrohung, während gleichzeitig ein verläßlicher Parteiapparat wieder aufgebaut wird. Währenddessen geht die Debatte über die wirtschaftliche Strategie weiter und es ist keine andere Lösung in Sicht als die ständige Abschöpfung von Mitteln aus der Industrie zugunsten der Landwirtschaft; außerdem sind die chinesischen Führer wieder an der Einführung ausländischer Technologie und Fachkenntnis interessiert. [10]

 

 

Die chinesische Außenpolitlk

Die Chinesen haben ihre Feindschaft gegen die friedliche Koexistenz oder ihre Begeisterung für den Guerillakrieg nicht so weit getrieben, daß ihre kommerziellen oder diplomatischen Beziehungen beeinträchtigt worden wären. Sie erklärten in ihrem Brief an die sowjetischen Führer vom Juni 1963, daß in den unterentwickelten Kontinenten

äußerst breite Teile der Bevölkerung sich weigern, Sklaven des Imperialismus zu sein. Das schließt nicht nur die Arbeiter und Bauern, die Intellektuellen und das Kleinbürgertum ein, sondern auch die patriotische nationale Bourgeoisie und sogar bestimmte patriotische Könige, Prinzen und Aristokraten.

Diese Betonung des „Patriotismus“ und nicht eine Klassenanalyse hat es China ermöglicht, gute Beziehungen mit Regimes in der ganzen unterentwickelten Welt ohne Rücksicht auf deren Politik anzuknüpfen, selbst dann, wenn diese gerade dabei sind, Guerilla-Truppen im eigenen Land zu unterdrücken. Unter den Herrschern, die freundliche Grußbotschaften und Hilfe von China bekommen haben, sind Kaiser Haile Selassie von Äthiopien, der Iman von Jemen und der Schah von Persien, die alle mit einem Guerillawiderstand im eigenen Land zu tun hatten.

Sogar im Fall Vietnams ist China, wenngleich es dem „heroischen“ und „unbesiegbaren“ vietnamesischen Volk immer wieder Beifall gespendet hat, in der Praxis sehr vorsichtig gewesen. Verständlicherweise gelüstete es China nicht nach einem neuen Korea. Mao sagte 1965 in einem Interview mit Edgar Snow, China würde keine Truppen ausschicken, wenn die Vereinigten Staaten Nordvietnam überfielen und nur kämpfen, wenn man in sein eigenes Gebiet eindringe. Am 3. Mai 1966 [11] veröffentlichten die Chinesen eine Antwort auf sowjetische Anschuldigungen, daß China den sowjetischen Nachschub behindere, der Vietnam nur über China erreichen konnte, weil die UdSSR keine gemeinsame Grenze mit Vietnam hatte. Die Chinesen erwiderten entrüstet, die sowjetische Hilfe sei nicht so groß, wie sie sein könnte, die Sowjetunion hätte sich unter Chruschtschow geweigert, Vietnam zu helfen, und im übrigen könnte sie ihren Nachschub auch auf dem Seeweg schicken. All das war zweifellos richtig, aber der eigentliche sowjetische Vorwurf wurde nicht bestritten. 1968 behaupteten weitere Berichte aus China, die Kulturrevolution sei für eine Unterbrechung der Versorgung Vietnams per Eisenbahn verantwortlich. [12]

Aber selbst viele Freunde Chinas, die es fertig gebracht hatten, all dies zu schlucken, waren bestürzt durch Chinas Verhalten im Jahr 1971. Im Frühling des Jahres war die Bewegung für die Unabhängigkeit Bangladeschs von Pakistan ausgebrochen. Im März wurde in „Ost-Pakistan“ ein Generalstreik ausgerufen. China half, den Streik zu brechen, indem es Zeitungspapier an West-Pakistan lieferte. Und als pakistanisches Militär eingesetzt wurde, um die Unabhängigkeitsbewegung von Bangladesch in der brutalsten Weise zu zerschmettern, verwendeten die Pakistani nicht nur chinesische Waffen und Treibstoff für die Luftwaffe, sondern erhielten auch spezielle finanzielle Hilfe in Höhe von 48 Mill. DM von den Chinesen. Am 13. April 1971 veröffentlichte die Pakistan Times einen Brief von Tschou En-Lai an den pakistanischen Führer Jaja Khan, in dem es hieß:

Unserer Meinung nach bieten die Vereinigung Pakistans und die Einheit der Völker von Ost- und Westpakistan die grundlegenden Garantien dafür, daß Pakistan zu Wohlstand und Stärke kommt. Hier ist es sehr wichtig, zwischen den breiten Massen des Volkes und einer Handvoll Leuten zu unterscheiden, die die Vereinigung Pakistans sabotieren wollen.

Eine ähnliche Position bezogen die Chinesen gegenüber Ceylon, als im April 1971 ein von der „Volksbefreiungsfront“ geführter Aufstand grausam unterdrückt wurde, – u.a. wurden ganze Gruppen von Gefangenen einfach hingerichtet. Die ceylonesische Regierung erhielt bei der „Wiederherstellung der Ordnung“ Schützenhilfe durch einen Brief Tschou-En-Lais, der am 27. Mai 1971 in den Ceylon Daily News veröffentlicht wurde, der Regierung gratulierte und die „Handvoll Leute, die sich ‚Guevaristen‘ nennen“, öffentlich brandmarkte.

Nach all dem kann die Bewillkommnung des US-Präsidenten Nixon in Peking im Frühjahr 1972, während immer noch die Bomben auf Vietnam niederhagelten, nur noch diejenigen überrascht haben, die glaubten, daß die rhetorische Beschwörung des US-Imperialismus als „Hauptfeind“ durch die Chinesen mehr war als Ausdruck einer zeitweiligen Taktik.

Natürlich muß jede revolutionäre Regierung, wie „rein“ ihre Prinzipien auch sein mögen, Bündnisse mit reaktionären Regimes schließen; die Beziehungen der Bolschewiki zu Deutschland in den frühen 20er Jahren sind dafür ein Beispiel. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn man zuläßt, daß diese Bündnisse sich auf das Verhalten der Revolutionäre innerhalb der betroffenen Länder auswirken.

 

 

Der Maoismus im internationalem Maßstab

Die Chinesen hatten nicht die Absicht, eine neue Internationale zu schaffen. Erstens waren ihre politischen Differenzen mit der Sowjetunion nicht zusammenhängend genug, um daraus ein Programm für eine solche Internationale zu entwickeln. Zweitens waren sie nicht bereit, die inneren Angelegenheiten der kommunistischen Partei Chinas und die Außenpolitik des chinesischen Staates der Diskussion und Prüfung einer internationalen Bewegung auszusetzen (selbst wenn sie sich aus promaoistischen Speichelleckern zusammensetzte). Sie wollten nicht einmal die politische Verantwortung für kleine Gruppierungen in entfernten Ländern übernehmen. Selbst eine bürokratisierte und monolithische Internationale hätte ihre Manövrierfreiheit eingeschränkt. Gute Beziehungen zur französischen Regierung waren ihnen wichtiger als eine Handvoll maoistischer Studenten, die aus der französischen KP ausgestoßen wurden.

Trotzdem führte der chinesisch-sowjetische Streit zu Spaltungen in KPs auf der ganzen Welt, und die Chinesen gewährten den neuen Gruppierungen – sie nannten sich gewöhnlich „Marxisten-Leninisten“ – eine Art Anerkennung. Den Russen, die sie der Spaltung bezichtigten, antworteten sie: „Wir unterstützen alle revolutionären Genossen, die am Marxismus-Leninismus festhalten. Wir haben in der internationalen kommunistischen Bewegung Kontakte mit Revisionisten; warum sollen wir dann keine Kontakte mit Marxisten-Leninisten haben?“ [13] In einigen wenigen Fällen waren die promaoistischen KPs von wirklichem Wert für Peking; anderswo konnten sie zumindest nützliche Public-Relations-Arbeit tun.

Die Schlüsselparteien für die Chinesen waren die japanische, indische und indonesische – alles Parteien mit Massenanhang in Gebieten, die China geographisch nahe lagen. Die japanische Partei verfügte über eine Viertel Million Mitglieder, eine Tageszeitung, von deren Sonntagsausgabe mehr als eine Million Exemplare verkauft wurden, und über drei Millionen Wähler. Ursprünglich richtete sie sich klar an China aus; ihre Abgeordneten stimmten 1964 gegen den von Japan ratifizierten Atomtest-Sperrvertrag in Übereinstimmung mit der Position Maos. Danach spaltete sich eine kleine Gruppe ab, die sich „Stimme Japans“ nannte und von Moskau unterstützt wurde. Jedoch folgte die JKP der chinesischen Linie nicht lange und weigerte sich schon 1966, eine Erklärung zu unterzeichnen, welche die Sowjetunion angriff. Sie blieb sowohl von Moskau wie von Peking unabhängig, obwohl die Volkszeitung am 16. November 1967 die JKP-Führer Nosaka und Miyamoto als „Stiefellecker der Sowjetrevisionisten“ bezeichnete. 1971 wohnten die JKP-Führer dem 24. Parteitag der KPdSU bei und gaben bekannt, man habe Obereinkünfte zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Parteien getroffen.

In Indien war die Situation noch komplexer. Eine Spaltung hatte seit dem Grenzstreit mit China in der Luft gelegen, als die KP Indien voll unterstützt hatte; sie hatte zum Beispiel ein Flugblatt herausgegeben, in dem es hieß:

Unsere moralische Verantwortung, unser Land zu verteidigen, wenn uns ein sozialistisches Land angreift, ist größer als die unserer Mitbürger, nicht geringer... wir müssen in dieser entscheidenden Stunde all unsere Differenzen beiseite legen und uns unter der gemeinsamen nationalen Fahne vereinigen.

Die Spaltung kam im November 1964; der moskautreue rechte Flügel behielt den Parteinamen, „Kommunistische Partei Indiens“, und rückte immer näher an die regierende Kongreßpartei, mit der er bei den Wahlen zusammenarbeitete. Die promaoistische Abspaltung, die Kommunistische Partei Indiens (Marxisten) – die KPM, nahm die Mehrheit der Mitglieder mit; aber sie repräsentierte ein politisches Spektrum, das von Linksreformisten bis zu Befürwortern des Guerillakrieges reichte. Ihr mangelnder politischer Zusammenhalt wurde bald offenbar. Von 1967 an orientierte die KPM sich immer stärker parlamentarisch, wodurch sie in die Staatsregierung von Westbengalen und Kerala kam. Nachdem sie aber bei den Wahlen von 1972 vernichtende Niederlagen erlitt, wollte Peking nichts mehr mit der Partei zu tun haben, welche sich daraufhin wieder der Unterstützung Moskaus zuwandte (besonders bei der Invasion der Tschechoslowakei 1968). Später nahm sie eine schwankende Position zwischen Moskau und Peking ein.

Schließlich führte die politische Zusammenhaltslosigkeit der KPM zu Spaltungen. Die Desavouierung durch die Chinesen und die wachsende Verstrickung in den Parlamentarismus kostete sie verschiedene Gruppen, die der chinesischen Linie des sofortigen bewaffneten Kampfes folgten. 1969 bildeten einige dieser Gruppen die Kommunistische Partei Indiens (Marxisten-Leninisten) – KPML. Wegen ihres anfänglichen Rückhalts bei den Naxalbaribauern in Westbengalen nannte man sie auch „Naxaliten“. Ihr Hauptrekrutierungsfeld war die Intelligenz von Kalkutta; ihre Strategie war zuerst die Landguerilla, dann der „rote Terror“ in den Straßen von Kalkutta. Das Ergebnis war grausame Unterdrückung und Demoralisierung.

Anderswo brachten die Chinesen nur kleine Splittergruppen zusammen (oft verschiedene im selben Land) oder winzige Parteien in strategisch bedeutungslosen Ländern, wie die KP Neuseeland mit ganzen 400 Mitgliedern. Unter den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern machte der Maoismus einzig in Italien wirkliche Fortschritte. Hier verbreitete er sich stark unter Studenten und Teilen der KP-Mitgliedschaft. In anderen Ländern war die Geschichte des Maoismus eher grotesk als tragisch. Die promaoistischen Tendenzen zogen eine buntscheckige Ansammlung von Menschen an. Sie setzte sich zusammen aus Kommunisten, die nie mit dem Vollblut-Stalinismus der Periode vor 1956 gebrochen hatten, aus Leuten, die vom verbalen Revolutionarismus angesteckt waren und schließlich aus solchen, die unklar spürten, daß die Bewegung seit den fünfziger Jahren weniger revolutionär geworden war.

Der Maoismus war nicht in der Lage, eine revolutionäre Alternative in der internationalen Bewegung anzubieten. Was er jedoch zustande brachte – indem er ein für alle mal den sowjetischen Anspruch auf die alleinige Führung in der Bewegung zerstörte – war die Herbeiführung einer offeneren Situation, in der allmählich echte revolutionäre Tendenzen sich herausbilden konnten.

 

 

Die Krise in Osteuropa

Aber China war nicht das einzige sozialistische Land, das den Russen Ärger machte. Die Niederwerfung der ungarischen Arbeiter 1956 hatte die sowjetische Herrschaft über die Staaten Osteuropas wieder hergestellt. Aber die Spannungen und Konflikte, die den gegenseitigen Beziehungen zugrunde lagen, waren nicht gelöst, und in den sechziger Jahren wurden sie wieder akuter.

Die Sowjetunion verlangte von ihren Satelliten weiterhin mehr für ihre Exporte als vom Westen; umgekehrt zahlte sie ihnen niedrigere Preise für die ihrigen. Da jeder der Satelliten-Staaten seine Wirtschaft entwickelte und die nationalen Bürokratien sich festigten, rückte die Möglichkeit einer wirklichen wirtschaftlichen Integration immer mehr in die Ferne. Die tschechischen Bürokraten wurden immer unzufriedener mit ihrer Rolle als Lieferanten von Produktionsmitteln an die weniger industrialisierten Volksdemokratien. Und ab Mitte der sechziger Jahre distanzierte sich Rumänien immer mehr vom Rest des Blocks, man hieß nicht nur Präsident Nixon, sondern auch eine Volkswagenfabrik in Rumänien willkommen.

Gleichzeitig sahen sich alle osteuropäischen Länder wirtschaftlichen Problemen derselben Art wie die Sowjetunion gegenüber. Am deutlichsten zeigte sich das im scharfen und anhaltenden Absinken der Wachstumsraten. Jedoch mußte unter den herrschenden Verhältnissen jeder Versuch, die wirtschaftliche Situation zu verbessern, auf Kosten der Arbeiter gehen. Und die Reaktion der Arbeiter, wenn sie für den Ausweg des Systems aus Schwierigkeiten bezahlen sollen, ähnelt sich in Ost und West bemerkenswert.

Die politische Entwicklung in Osteuropa war dementsprechend durch Wechselbäder von Liberalisierung und Unterdrückung gekennzeichnet. Die monolithischen und hierarchischen Strukturen der Bürokratie, die sich in den ersten Phasen der kommunistischen Herrschaft herausgebildet hatten, erwiesen sich zunehmend als ineffektiv, weil das System jede Rückkoppelung von unten verhinderte. Jedoch mußten die ökonomischen „Reformer“, die die eingesessene Bürokratie in Frage stellen wollten, ihre Reformen organisatorisch absichern. Dazu brauchten sie auch die Unterstützung anderer nichtbürokratischer Sektoren, besonders Teile der Mittelklasse wie Studenten und Intellektuelle, aber auch Teile der Arbeiterklasse. Des weiteren bedurfte es eines zugkräftigen demagogischen Appells. Die Parole vom notwendigen „Sozialismus mit einem menschlichen Gesicht“ und ähnliche wohlklingende, fromme Heucheleien sind Paradebeispiele dafür. Bei solcher Demagogie besteht allerdings immer die Gefahr, daß einige Leute die Versprechungen und Behauptungen für bare Münze nehmen und außer Kontrolle geraten. An diesem Punkt erkannten die Reformbürokraten gewöhnlich, wo ihre wirklichen Interessen lagen und schlossen sich wieder mit dem Rest der Bürokratie zusammen, um die Arbeiter und Studenten im Zaum zu halten.

 

 

Die Tschechoslowakei

Dieses stark schematisierte Bild der Dynamik der osteuropäischen Gesellschaften kann als Hintergrund für die Ereignisse in der Tschechoslowakei dienen, die eine gewaltige Auswirkung auf die internationale Arbeiterbewegung hatten. Die tschechoslowakische Wirtschaft geriet in den frühen sechziger Jahren in eine ernste Krise. Eine Rezession in der Sowjetunion und die Umlenkung des sowjetischen Handels in den Westen führte zu einem scharfen Wirtschaftsrückgang in der CSSR – mit der Konsequenz, daß der Fünfjahresplan aufgegeben wurde. Das Novotny-Regime löste die Krise vorübergehend, indem es zuließ, daß der Konsum auf Kosten der Akkumulation stieg; aber in bezug auf langfristige Lösungen war die Partei tief gespalten. Die Trennungslinie verlief nicht entlang prinzipieller Fragen – alle waren sich über die Notwendigkeit der Erhöhung der Produktivität und der Beschleunigung des technologischen Fortschritts einig; während jedoch die Novotny-Gruppe glaubte, dies durch die feste Kontrolle der Partei über die Wirtschaft erreichen zu können, hielt eine von dem Ökonomen Ota Sik geführte Opposition die Einführung von ökonomischen Dezentralisierungsmaßnahmen in Form von „Marktprinzipien“ für notwendig.

Im Januar 1968 löste Alexander Dubcek Novotny als ersten Sekretär der Partei ab. Das bedeutete einen Sieg für die Reformer. Dubcek selbst war ein anonymer Pragmatiker und in der Vergangenheit nie als Antistalinist hervorgetreten. Die Politik seiner Anhänger hatte nichts mit Sozialismus oder mit den Interessen der Arbeiterklasse zu tun. Ihre Leitschnur waren Effizienz und Produktivität. Für die Arbeiter hieß das, daß die Manager einen neuen Anreiz zur Erhöhung der Produktivität bekamen: Die neue Linie brachte auch die Gefahr wachsender Arbeitslosigkeit mit sich.

Das April-Programm der tschechoslowakischen KP drängte, zwecks Erhöhung der Effektivität, auf die Einführung von Marktkräften in die Wirtschaft. Jedoch ließen sich manche Leute von der liberalen Rhetorik einiger Dokumente mehr beeindrucken als von deren Klasseninhalt. Die Intellektuellen und Studenten in der Tschechoslowakei wurden vom gleichen kritischen Geist angesteckt, der sich sprunghaft unter den Studenten in Rom, Paris und Berlin ausbreitete. Noch wichtiger war die Tatsache, daß die Arbeiter sich zu fragen begannen, ob die Freiheit, mit der man soviel prahlte, auch für sie galt. Streiks fanden statt.

Es war offensichtlich, daß die Entwicklung in der Tschechoslowakei zu einem ersten Ärgernis für die Russen wurde. Dubcek war dabei, ein zweiter Tito zu werden, und zwar ein Tito, der nicht so werden konnte; darüber hinaus stand die ganze Legitimität der kommunistischen Herrschaft auf dem Spiel. So drangen in der Nacht des 20. August 1968 sowjetische Truppen und Flugzeuge, unterstützt von den Armeen aus vier „Bruderstaaten“ in die Tschechoslowakei ein. Sie machten sich daran, langsam aber sicher die Ordnung wieder herzustellen und eine prosowjetische Führung einzusetzen.

Die Arbeiterklasse trug die Hauptlast des Widerstandes gegen die Besetzung. Die Disziplin der Arbeiter war so groß, daß der 14. Parteitag der tschechoslowakischen KP im Herzen des von sowjetischen Truppen besetzten Prag abgehalten wurde – in einer Fabrik.

Soweit die Arbeiter sich jetzt gegen die sowjetischen Truppen und hinter Dubcek stellten, kämpften sie eher auf nationalen als auf Klassen-Positionen; aber nur die Arbeiter konnten als Klasse konsequent für das Recht nationaler Selbstbestimmung eintreten.

 

 

Die Internationale Auswirkung der Ereignisse in der Tschechoslowakei

Die Auswirkung der tschechoslowakischen Ereignisse auf die internationale kommunistische Bewegung unterschied sich sehr von derjenigen der ungarischen Revolution von 1956. An diesem Unterschied kann man ermessen, wie stark sich die Bewegung im Lauf von 12 Jahren entwickelt hatte.

Die Situation der Parteien im Westen hatte sich radikal verändert das war der erste und wichtigste Gesichtspunkt. 1956 waren sie immer noch Opfer der Isolation im Kalten Krieg und von jeder Teilnahme am nationalen Leben ausgeschlossen. Der Popularitätsverlust der KPs aufgrund der Unterdrückung der ungarischen Revolution hatte kein großes Problem dargestellt, weil Kriegsfieber und Presseverleumdungen ohnehin jegliche Popularität außerhalb der eigenen Reihen ausgelöscht hatten. Die Militanten, eingesperrt in ein Ghetto des Hasses, gingen mit beträchtlichem Recht davon aus, daß die bürgerliche Presse systematisch log und waren deshalb recht leicht von der Richtigkeit der sowjetischen Version der Ereignisse zu überzeugen.

1968 waren die verschiedenen KPs aus ihrem Ghetto herausgekommen; sie bemühten sich um politische Bündnisse mit einer ganzen Gruppe von sozialdemokratischen Parteien und trachteten danach, sich als respektable und glaubwürdige Organisationen zu repräsentieren, bei denen man sich darauf verlassen konnte, daß sie das nationale Interesse an die erste Stelle setzten und nicht als „Agenten Moskaus“ handelten. Einige Parteien hatten sogar auf eine Regierungsbeteiligung gesetzt. Eine Unterstützung der Sowjetunion hätte ihre Erfolgschancen stark beeinträchtigt und sie um einige Jahre zurückgeworfen.

Zweitens maßen die sowjetischen Führer der Unterstützung durch Bruderparteien im Zeitalter der atomaren Diplomatie weniger Bedeutung bei. Moralische Unterstützung war natürlich nützlich, aber es stand nicht mehr zur Debatte, sich auf die KPs im Westen als Verteidigungslinie zu stützen. Man könnte sogar argumentieren, daß die Russen, da sie die Rückkehr der KPs in Frankreich und Italien auf die Hauptstraße des politischen Lebens begrüßten, gar nicht sehr böse über eine Geste der Unabhängigkeit sein konnten. Drittens lag die Klassennatur der Ereignisse in der Tschechoslowakei offen zutage. Die Bourgeoisie erkennt ihresgleichen, und die salbungsvollen Phrasen von Dubcek und Sik waren von einem ganz anderen Kaliber als die namenlosen, rauhen Proletengesichter von Budapest. Das Image Dubceks – er wurde persönlich mit der Parole „Sozialismus mit einem menschlichen Gesicht“ identifiziert – war hervorragend geeignet, ihm die Unterstützung der Mittelklassen zu verschaffen – Innerhalb des kommunistischen Blocks sahen sich die Russen keinen großen Schwierigkeiten gegenüber. Einige wenige Personen demonstrierten und verteilten Flugblätter, aber mit ihnen wurde man leicht fertig. Die Nord-Vietnamesen gaben – mit etwa 2 Wochen Verzögerung eine Erklärung heraus, die die sowjetische Aktion guthieß. Sie wollten offensichtlich nicht ihre Rüstungsversorgung gefährden und in jedem Fall muß es von Hanoi aus gesehen einleuchtend genug gewesen sein, die Schuld den „amerikanischen Imperialisten und westdeutschen Revanchisten“ zu geben, Fidel Castro hielt eine lange Rede, in der er sich nachdrücklich und trotzdem irgendwie zweideutig auf die Seite der Sowjetunion schlug. Auch er konnte es sich nicht leisten, seine sowjetischen Freunde anzugreifen. Diese beiden Hilfsakte enttäuschten diejenigen grausam, die sich einbildeten, daß Kuba und Vietnam, weil sie gezwungen worden waren in vorderster Front gegen den Imperialismus zu kämpfen, auch wirksam mit dem Stalinismus gebrochen hatten.

Ebenso war vorauszusehen, daß die Chinesen sich gegen die Russen wenden würden, wenn auch ohne jede Sympathie für die Tschechoslowaken.

Die Parteien in der nichtkommunistischen Welt stellten die Ereignisse in der CSSR vor eine sehr schwere Entscheidung. Nicht nur der Sonderfall eines möglicherweise weit entfernten Landes in Osteuropa war hier das Problem. Es ging um die ganze Rolle der Parteien selbst darum, ob sie sich in stalinistische Sprachrohre Moskaus zurückverwandelten oder in sozialdemokratische Parteien, die nach den Bromsamen vom Tisch ihrer Bourgeoisie trachteten. Das erklärt, warum die tschechoslowakischen Ereignisse selbst an einer so entlegenen wie z.B. in der venezolanischen KP eine schwere Krise auslösten.

Diejenigen KPs, die die sowjetische Aktion unterstützten, waren entweder direkt von sowjetischer Hilfe abhängig (wie die Exilparteien) oder verfügten im eigenen Land über keine wirkliche Basis und hätten ihren ganzen Existenzgrund verloren, wenn sie die Nabelschnur nach Moskau durchtrennt hätten.

Die scharfe Mißbilligung der Okkupation durch die italienische KP fügte sich nur in das Schema ihrer früheren Politik ein, aber der Entschluß der französischen Partei, eine eher zögernde Kritik zu üben, war ein noch nicht dagewesener Schritt seitens einer Partei, die immer im Ruf gestanden hatte, die treueste der treuen zu sein. Zugegebenermaßen war ihre Erklärung widerwillig und verklausuliert; sie mußte einen Seiltanz zwischen Extremen auf beiden Seiten durchführen, und das Manöver hinterließ einige Wunden. Einerseits erklärte Jeanette Vermeersch, die Witwe des KP-Führers Maurice Thorez, aus Mißbilligung des Bruchs mit Moskau ihren Rücktritt aus dem Zentralkomitee. Andererseits wurde Roger Garaudy, dessen Strategie des Werbens um die Mittelklasse durch eine allzu glühende Begeisterung für Dubcek zusätzlichen Auftrieb erhielt, ausgeschlossen.

Die britische Partei folgte der französischen in der Ketzerei, wie sie ihr so oft in der Orthodoxie gefolgt war, obwohl unter der prosowjetischen Minderheit in ihren Reihen viele militante Fabrikkämpfer waren, die die Tage der Loyalität zu Moskau mit einer kraftvolleren Aktivität in den Fabriken identifizierten.

Die sowjetischen Führer reagierten auf diese Kritik mit Besorgnis, aber nicht mit tiefer Bestürzung; im allgemeinen versuchten sie sich recht versöhnlich zu geben in der Hoffnung, die Bewegung auf der Weltkonferenz im Sommer 1969 neu um sich gruppieren zu können. Aber eine der westeuropäischen Parteien stellte eine wirkliche Gefahr dar: die österreichische. Nahe der tschechoslowakischen Grenze und in regelmäßigem Kontakt mit der tschechoslowakischen Politik, hätte sich eine Anti-Moskau-Partei in Wien zu einem gefährlichen Eiterherd entwickeln können. Deshalb floß hier sowjetisches Geld herein um die Partei zur Revidierung ihrer Entscheidung gegen die Okkupation zu bringen. Zwei prosowjetische Zeitungen wurden gegründet, um eine Kampagne für einen Linienwechsel durchzuführen. Eine davon veröffentlichte zwei Spezialausgaben, die die Führer der antisowjetischen Tendenz attackierten, und stellte dann ihr Erscheinen ein. Im Oktober 1969 revidierte die österreichische KP ihre Entscheidung und ihr prominentester Intellektueller, der Veteran Ernst Fischer, wurde ausgeschlossen.

Die im Juni 1969 in Moskau abgehaltene Weltkonferenz brachte der KPdSU bei der Neugruppierung der Bewegung einen bedingten Erfolg, aber dieser wurde nur erreicht, indem man den erforderlichen Konsens sehr niedrig ansetzte. Von den 92 in der Welt auszumachenden KPs waren 75 anwesend. Von diesen stellten sich 12 nicht voll hinter die sehr vage Erklärung; im Hauptdokument über den Kampf gegen den Imperialismus wird die Tschechoslowakei nicht erwähnt.

 

 

Polen 1970

In der Tschechoslowakei konnte sich die prosowjetische Bürokratie wieder festsetzen, und Dubceks Anhänger wurden langsam aber sicher ausgeschaltet, – ganz zu schweigen von den Kräften, die links von Dubcek standen. Aber die Krise, die die Wirtschaften Osteuropas befallen hatte, dauerte an. Immer wieder brachen Krisen aus. In Polen fehlten 1970 ausreichende lnvestitionen zur Finanzierung des Plans; so wurde wie üblich versucht, die Arbeiter dafür zahlen zu lassen, und zwar mittels einer „Preisreform“, die unverhüllt den Lebensstandard der Arbeiter angriff. Die Preise der Grundnahrungsmittel stiegen steil an, während Luxusgüter billiger wurden. Daraufhin explodierte die Wut der Arbeiterklasse – es kam zu Streiks, Demonstrationen und sogar Fabrikbesetzungen. Gomulka, der 1956 zur Macht gekommen war, wurde zum Rücktritt gezwungen; sein Nachfolger Gierek mußte sich persönlich zu den Schiffswerften von Stettin begeben, um mit den Arbeitern zu verhandeln. Die Forderungen, die erhoben wurden, gingen weit über rein wirtschaftliche Forderungen wie die Rücknahme der Preiserhöhungen hinaus und verlangten freie Wahlen in den Gewerkschafts- und Parteiorganisationen und ehrliche Informationen über die Wirtschaftssituation. Auch in Jugoslawien wuchs die Unzufriedenheit unter Studenten und Arbeitern.

 

 

Schlußfolgerung

Jede der aufeinander folgenden Krisen in Osteuropa unterstrich immer stärker die Wahrheit der Aussage der polnischen Oppositionellen Kuron und Modzelewski in ihrem Revolutionär-sozialistischen Manifest von 1965:

So wenig die wirtschaftliche Krise im Rahmen der gegenwärtigen Produktionsverhältnisse überwunden werden kann, so wenig kann die allgemeine gesellschaftliche Krise innerhalb der Grenzen, die die herrschenden sozialen Verhältnisse setzen, überwunden werden. Eine Lösung ist nur durch den Sturz der herrschenden Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse möglich. Die Revolution ist eine Entwicklungsnotwendigkeit. [14]

So bot der kommunistische Block in den frühen siebziger Jahren ein Bild dar, das sich sehr von dem der frühen fünfziger Jahre unterschied. Tatsächlich konnte man kaum noch von einem Block reden. 1950 hatten alle Parteien mit einer einzigen Stimme gesprochen; ein Ketzer wie Tito konnte von Moskau genauso wirksam wie vom Vatikan exkommuniziert werden. In den siebziger Jahren gab es ein halbes Dutzend Rivalen, die sich alle auf die Rechtgläubigkeit und das Erbe des „Marxismus-Leninismus“ beriefen. Bündnisse und Spaltungen gründeten sich eher auf taktische Erfordernisse als auf die Ideologie, wie etwa das ziemlich unerwartete Bündnis von China und Rumänien 1971. Der Polyzentrismus breitete sich jetzt unaufhaltsam aus. Das hatte tiefe Auswirkungen im Westen und in der unterentwickelten Welt. Der chinesisch-sowjetische Bruch und die Invasion in der Tschechoslowakei verursachten gewaltige Umwälzungen. Aber langfristig noch wichtiger war das Verschwinden jedes Identifikationspunktes, jeder festen Führung, auf die die KPs sich beziehen konnten. Der Stalinismus alten Stils wurde schnell unmöglich. Der Übergang auf sozialdemokratische Positionen war fast abgeschlossen.

 

 

Anmerkungen

1. Die Frankfurter Rundschau vom 4.6.74 zitiert eine Studie der Defense Intelligence Agency, der zentralen Geheimdienstauswertung der US-Streitkräfte. nach der die USA während der Gesamtdauer des Krieges 107 Millliarden Dollar ausgaben gegenüber 3,65 Milliarden Dollar des gesamten „Ostblocks“ (der Hauptanteil davon entfällt auf die UdSSR). Nach dem gleichen Bericht leisteten die „Ostblock“-Staaten einschließlich China 1973 Waffenhilfe im Wert von ca. 290 Millionen Dollar – weniger als halb so viel wie 1972; dagegen stieg die US-Hilfe im gleichen Jahr (1973) von 2 Milliarden auf 2,3 Milliarden Dollar. (A.d.Ü.)

2. Für Einzelheiten über die ökonomischen Beziehungen siehe T. Cliff: China-Russia, International Socialism 14, 1963

3. A Comment on the Statement of the Communist Party of the USA, Peking 1963, S.10

4. Lin Piao: Long Live the Victory of People’s War (1965), in: H.M. Christman (ed.): Communism in Action, New York 1969, S.344

5. T. Cliff: Crisis in China, International Socialism 29, 1967 (Deutsche Übersetzung: Die Krise der Sechziger Jahre, in China und die Revolution in der Dritten Welt, Frankfurt/Main. 1971)

6. J. Gray, P. Cavendish: Chinese Communism in Crisis, London 1968, S.69-113

7. Vgl. N. Hunter, Shanghai Journal, New York 1969

8. Siehe T. Cliff: Whither China?, International Socialism 37, 1969

9. Vgl. Hunter, op. cit.

10. Vgl. N. Harris: China since Lin Piao, International Socialism 55, 1973

11. Sunday Times vom 14. Februar 1967

12. The Times vom 9. August 1968

13. People’s Daily vom 4. Februar 1964

14. op. cit., S.54

 


Zuletzt aktualisiert am 6.8.2001