Ian Birchall

 

Arbeiterbewegung und Parteiherrschaft

 

Teil III. (1963-1973)

13. Die Revolution im Westen steht wieder auf der Tagesordnung

In den frühen sechziger Jahren verkündeten Sozialdemokraten in der ganzen fortgeschrittenen kapitalistischen Welt, daß der Reformismus funktioniert hätte, daß es keine Krisen mehr geben würde und daß die Zeiten des Klassenkampfes vorüber seien. Aber die Wirklichkeit ging kompliziertere Wege als ihre Interpreten. In der Rüstungswirtschaft („arms economy“) entwickelten sich Reibungspunkte. In dem Maß, in dem die Technologie Fortschritte machte, wuchs die Arbeitslosigkeit unter ungelernten Arbeitern und führte zu einem sozialen Konflikt, der seinen dramatischsten Ausdruck bei den schwarzen Amerikanern fand. Die gleiche Technologie führte zu einer breiten Ausdehnung von höherer Ausbildung und brachte eine immer mehr gegen die Manipulation rebellierende Studentenschaft hervor. Die Konzentration des Kapitals führte zu einem Niedergang der Gebiete am Rand der Industriezentren, was die Wiederbelebung der verschiedensten nationalistischen und separatistischen Bewegungen mit sich brachte.

Das System konnte diese Konflikte mit Hilfe einiger Korrekturen und dem liberalen Gebrauch der Polizei eindämmen. Bedrohlicher für die Herrschenden war, daß die Arbeiterklasse sich nicht hatte bestechen lassen; im Gegenteil hatte eine lange Periode von steigenden Löhnen und Vollbeschäftigung ihre Erwartungen erhöht und sie kampfentschlossener denn je gemacht. Das Jahr 1963, in dem der chinesisch-sowjetische Bruch offen zu Tage trat, brachte auch große Kämpfe in ganz Westeuropa – Streiks von deutschen Metallarbeitern, französischen Bergarbeitern und italienischen Technikern.

Kämpfe dieser Art, die aus dem Unwillen der Arbeiter entsprangen, sich dem kapitalistischen System anzupassen, brachten die herrschenden Klassen in ganz Westeuropa in den sechziger Jahren dazu, auf die eine oder andere Form von Lohnstop zurückzugreifen. Er wurde als Einkommenspolitik etikettiert und oft von Gesetzen begleitet, die zur Einschränkung des Organisations- und Streikrechts der Gewerkschaften bestimmt waren. Nicht der kurzfristige Erfolg oder Mißerfolg dieser Maßnahmen ist wichtig; wichtig ist die Tatsache, daß solche Maßnahmen eine angeblich „apathische“ Arbeiterklasse wieder politisierten. Wenn die Regierung direkt in Lohnverhandlungen eingreift, wird jeder Streik zum politischen Streik.

Diese Bewegung entwickelte sich langsam und ungleichzeitig; ein großer Streik, selbst ein Generalstreik, kuriert die Arbeiterklasse noch nicht vom Reformismus. In den siebziger Jahren behaupteten nur wenige Leute immer noch, der Klassenkampf sei vorüber. In Westeuropa standen die beiden Länder mit den kommunistischen Massenparteien, Frankreich und Italien, in vorderster Front bei der neuen Flut von Militanz.

 

 

Frankreich

Das vordringliche Ziel der französischen KP bestand darin, sich wieder in den Hauptstrom des französischen politischen Lebens einzugliedern. Das wurde nach Beendigung des Algerienkrieges leichter; die Parteien ordneten sich wieder zur traditionellen politischen Aufstellung. Die KP strebte auf einer antigaullistischen Plattform die breitest mögliche Einheit an; sie erreichte dies durch die Charakterisierung des Gaullismus als eines Regimes der „persönlichen Macht“, und die Forderung der Rückkehr zur „Demokratie“.

Jedoch brachte sie de Gaulles Außenpolitik dabei in bestimmte Schwierigkeiten. Sein Nationalismus führte ihn zum Bruch sowohl mit dem „Gemeinsamen Markt“ wie mit dem Atlantischen Bündnis und wurde deshalb von der Sowjetunion begrüßt. Die nichtkommunistische französische Linke war jedoch stark proamerikanisch und für den gemeinsamen Markt. Schon hatte der Siebzehnte Parteitag der KP eine gemeinsame Aktion mit der Sozialistischen Partei und anderen Anhängern des Gemeinsamen Marktes beim Kampf gegen die antisoziale und undemokratische Politik der Monopole, die die EWG beherrschten, gefordert. Aber hier brachte ein Bericht von René Piquet an das Zentralkomitee der Partei am 4. Januar 1966 (unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl) die Entscheidung. Er verdammte die gaullistische Außenpolitik unzweideutig und erklärte, sie läge rein im Interesse der französischen Bourgeoisie und sei von der reaktionären Innenpolitik der Regierung nicht zu trennen.

Während ihr de Gaulle große Schwierigkeiten machte, war sie gar nicht zimperlich dabei, die Grundaussagen des Marxismus über Bord zu werfen. Der geschäftsführende Generalsekretär der KP, Waldeck-Rochet, versicherte den Sozialisten 1963, daß die „Machtergreifung durch eine aktive Minderheit nie die Konzeption der Kommunisten gewesen ist ... es gibt keine kommunistische Theorie, die besagt, daß es nur eine einzige Partei geben dürfte, da wir die vollste Zusammenarbeit zwischen Kommunisten, Sozialisten und anderen Demokraten nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft für notwendig halten, um gemeinsam den Aufbau des Sozialismus in Angriff zu nehmen ... Man kann in Frankreich eine Diktatur des Proletariats von kürzerer Dauer und mit neuen und weniger gewaltsamen Formen ins Auge fassen.“ [1]

Ein Flügel der sozialistischen Partei unter Führung des Jachtbesitzers und Bürgermeisters von Marseille, Gaston Deferre, wollte die sozialistische Partei zugunsten einer breiten Oppositionsgliederung wie der Demokratischen Partei der USA auflösen. Der Mehrheit hinter dem antikommunistischen Veteranen Guy Mollet war klar, daß sie sich wenig Hoffnung auf politische Fortschritte machen konnte, wenn sie nicht die fünf Millionen KP-Wähler mobilisieren konnte. Daher reagierten sie ab 1962 positiv auf die Annäherungsversuche der KP. Im Laufe der Wahl von 1962 sagte Mollet, die Sozialisten sollten im zweiten Wahlgang dort, wo man die Gaullisten draußen halten mußte, kommunistisch wählen. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1965 unterstützten KP und Sozialisten gemeinsam Francois Mitterrand, der relativ erfolgreich war, indem er verhinderte, daß de Gaulle schon im ersten Wahlgang gewann. Mitterrands politische Vergangenheit sprach nicht gerade besonders für ihn – er war beim Ausbruch des Algerienkrieges Innenminister gewesen – aber er hatte einen großen Vorteil: da er weder Mitglied der KP noch der Sozialistischen Partei war, konnte er die Grundlage für ein Bündnis abgeben, ohne daß der Eindruck entstand, eine der beiden Parteien steche die andere aus. Den einzigen Mißton erzeugte die Sektion der literaturwissenschaftlichen Abteilung der kommunistischen Studentenunion der Universität Paris, die sich weigerte, Mitterrand zu unterstützen – und aufgelöst wurde.

Im Herbst 1966 wurde ein formeller Dialog eröffnet, indem die Dokumente der KP und SP gleichzeitig in den Zeitschriften der je anderen Partei veröffentlicht wurden, und im Frühjahr 1967 erreichte die KP ein formelles Abkommen über den gegenseitigen Rückzug im zweiten Wahlgang mit dem „Linken Bündnis“, das die SP und die Radikalen umfaßte. Dies führte dazu, daß die KP im zweiten Wahlgang Männer wie Georges Bonnet (Französischer Außenminister auf der Münchner Konferenz), Robert Lacoste (Minister in Algerien auf dem Höhepunkt der Folterungen) und Max Lejeune (verantwortlich für die Entführung Ben Bellas 1956) unterstützte. Die „Linke“ schnitt bei den Wahlen gut ab und gewann 194 von 487 Sitzen.

Das Jahr 1963 hatte den ersten großen Sieg der französischen Arbeiterklasse seit einem Jahrzehnt gesehen, als ein Bergarbeiterstreik breite Unterstützung fand, eine vereinte Aktion der verschiedenen Gewerkschaften zustande brachte und die Regierung zu beträchtlichen Zugeständnissen zwang. Eine Serie großer Streiks – oft begleitet von massiven Demonstrationen und Besetzungen – folgte in den nächsten Jahren und zeigte das wachsende Selbstvertrauen der französischen Arbeiterklasse.

Aber der CGT lag nicht daran, die Führung der Streiks zu übernehmen und sie auf ein höheres Niveau zu heben; ihr Hauptziel bestand darin, der parlamentarischen Strategie der KP den Rücken zu stärken. Die CGT gab ihre Politik der pauschalen Opposition gegen den Gemeinsamen Markt auf, verfolgte eine „Politik der Anwesenheit“ in bezug auf die Kontrollorgane der EWG und stimmte Gesprächen über eine gemeinsame Aktion mit der italienischen CGIL zu. Sie willigte auch ein, Vertreter zu den Treffen der französischen Planungsgremien zu schicken – als Beobachter, nicht als Teilnehmer.

Gleichzeitig versuchte die KP eine Politik der Aktionseinheit mit den anderen Gewerkschaftsverbänden zu entwickeln. Besonders die katholische Gewerkschaft – die jetzt ihre offizielle Verbindung mit der Kirche aufgegeben hatte und sich CFDT nannte (an Stelle von „christlich“ hieß es jetzt „demokratisch“) hatte in einigen modernen Industrien beträchtliche Fortschritte gemacht; mit der tatsächlichen Abnabelung von der Christdemokratie konnte sie den Anspruch, eine „unabhängige“ Gewerkschaftsbewegung zu sein, begründeter vertreten als die CGT, wo jede Anti-KP-Tendenz fest in Schach gehalten wurde. Die CGT mußte vermeiden, überflügelt zu werden; gleichzeitig würde die Gewerkschaftseinheit einen wertvollen Wahlkampf-Trumpf für eine vereinigte Linke darstellen; schon 1965 hatten sich alle Gewerkschaften bei Renault vereinigt, um für Mitterrand zu arbeiten.

Eine Meinungsumfrage zeigte 1966, daß 40 Prozent der Franzosen eine Regierungsbeteiligung der KP begrüßen würden (verglichen mit 31 Prozent 1964) und immerhin 68 Prozent glaubten, daß sie „nichts zu verlieren hätten, wenn in Frankreich ein kommunistisches Regime errichtet würde.“ [2]

Beweise wie dieser und die Gewinne der KP bei den Wahlen von 1967 erhöhten die Glaubwürdigkeit ihrer Strategie einer allmählichen Wiedereingliederung in den politischen Hauptstrom und der schließlichen Regierungsbeteiligung.

Die Ereignisse, die Frankreich im Frühjahr 1968 erschütterten, waren Ergebnis sowohl des grundlegenden Klassenkonflikts wie auch der besonderen Probleme der Studenten in der modernen Gesellschaft. Seit den frühen sechziger Jahren hatten Studenten von Berkeley bis Tokio gegen die Bedingungen, denen sie in den Universitäten ausgesetzt waren, rebelliert. Im Zuge der rapiden Ausdehnung der Universitäten seit dem Zweiten Weltkrieg waren die Studenten von einer kleinen Minderheit, die bestimmt war, die Elite der nächsten Generation zu werden, zu einem viel breiteren Gesellschaftsteil geworden, der künftig rein administrative Funktionen wahrzunehmen hatte. Zugleich machte sie ihre akademische Erfahrung – besonders in den aufkeimenden Sozialwissenschaften – zugänglich für eine verallgemeinerte Kritik des Systems, in dem sie lebten, demgegenüber sie aber zu vollkommener Impotenz verdammt waren.

In Frankreich wurde die Studentenfrage durch das hochgradig zentralisierte Erziehungssystem und durch die Unfähigkeit aller Nachkriegsregierungen, Zeit für die Durchführung einer umfassenden Bildungsreform zu finden, kompliziert. Lehrpläne und räumliche Beschaffenheit der Universitäten waren gleich veraltet. Die KP war nicht in der Lage, an den Universitäten eine wirksame Führung anzubieten; abgesehen von den Schwierigkeiten, die sie mit einigen Studentensektionen wegen des Mitterrand-Wahlkampfes hatte, verfügte sie über beträchtliche Unterstützung seitens der Universitäts- und Gymnasiallehrer, was sie sehr widerstrebend gegen eine radikale Reform des Erziehungswesens machte:

Ein Student im ersten oder zweiten Abschnitt (Oberstufe des Gymnasiums und erstes Universitätsjahr) kann den wissenschaftlichen Wert eines Professors nicht beurteilen. Natürlich kann und soll er seine Technik bei der Wissensvermittlung kritisieren, aber hier muß seine Kritik enden. [3]

Weiterhin zog die ziemlich gemäßigte Linie der KP bezüglich Vietnam die vielen Studenten nicht an, die von antiimperialistischer Aktivität ergriffen worden waren. Daraus resultierte die Entwicklung einer ganzen Reihe von politischen Tendenzen im Studentenmilieu, die vom Anarchismus zum Trotzkismus und Maoismus reichten; eine neue Generation von Führern tauchte auf, von denen Daniel Cohn-Bendit, der als „deutscher Anarchist“ [4] bezeichnet wurde, der farbigste war. Er war der Gründer der „Bewegung des 22. März“, einer Bewegung, die kein Programm, keine Organisation und keine Mitglieder hatte (trotzdem hielt es die französische Regierung für notwendig, sie im Juni 1968 aufzulösen).

Am 2. Mai 1968 wurde nach einer Reihe von Studentendemonstrationen die Universität Paris geschlossen. Die Demonstrationen hielten an, und am Abend des 10. Mai wurden die Studenten von der traditionell besonders üblen Pariser Sicherheitspolizei, die dasselbe Giftgas wie in Vietnam und später in Nordirland benutzte, brutal angegriffen. Die Studenten bauten gemeinsam mit einigen jungen Arbeitern und mit Hilfe der Bewohner des Quartier Latin Barrikaden und leisteten der Polizei Widerstand: am folgenden Tag wurden die gefangenen Studenten freigelassen. Aber dieser Sieg ermutigte die Bewegung, statt sie zu befriedigen; die CGT und CFDT riefen gemeinsam einen Generalstreik für Montag, den 13. Mai aus; zehn Millionen Arbeiter streikten; am folgenden Tag besetzten Studenten die Sorbonne und Arbeiter die Flugzeugfabrik Sud-Aviation in Nantes. Die Bewegung wuchs sich lawinenartig zu einem unbefristeten Generalstreik aus.

Anfangs schätzte die KP die Basis der Studentenbewegung und die Sympathie, die sie bei den Arbeitern gewinnen konnte, vollkommen falsch ein. Am 3. Mai brachte L’Humanité einen Artikel von George Marchais, der bald der wirkliche Führer der Partei werden sollte. Dieser Artikel enthielt einen plumpen Aufruf an die Arbeiterklasse, die Studenten anzugreifen:

Die Ansichten und Aktivitäten dieser „Revoluzzer“ sind lachhaft – im allgemeinen sind sie nämlich Kinder der Großbourgeoisie und verachten Studenten, die aus der Arbeiterklasse stammen. Sie werden bald ihren revolutionären Enthusiasmus dämpfen, Papas Geschäft übernehmen und die Arbeiter in den besten Traditionen des Kapitalismus ausbeuten.

Er fügte einen Appell betreffs der Studenten aus armen Elternhäusern an, die mit ihrem Studium weiterkommen wollten.

Angesichts ihrer Isoliertheit in der ganzen Studentenwelt mußte die KP hastig ihre Position umkehren und am 12. Mai erklärte das Politbüro der Partei: „Die französische Kommunistische Partei steht vorbehaltlos hinter dem gerechten Kampf der Studenten.“ KP-Aktivisten wurden in die Sorbonne geschickt, um die Politik der Partei zu „erklären“, hatten aber wenig Erfolg.

Weder die Flugblätter über die Einheit von Studenten und Arbeitern, noch der Mut und das moralische Beispiel der Studenten brachten die Arbeiter zum Handeln. Es war vielmehr die Tatsache, daß das Regime angesichts der Aktion der Studenten zurückgewichen war, daß es sich zu Zugeständnissen bereit gezeigt hatte. Jetzt war es an der Zeit, um mehr zu kämpfen.

Die erste Fabrikbesetzung bei Sud-Aviation scheint mit Unterstützung der Sektion der Force Ouvrière – einer Sektion, die stark von den Trotzkisten der OCI-(Lambertistischen)-Tendenz beeinflußt war begonnen worden zu sein. Aber solches politisches Eingreifen war nur möglich wegen des vorausgegangenen langen Kampfes gegen Entlassungen. Das Beispiel machte schnell Schule – in einem Land, wo es eine lebendige Tradition von Fabrikbesetzungen gab und der Generalstreik von 1936 immer noch in der Erinnerung der Arbeiter lebte. Innerhalb einer Woche breiteten sich die Besetzungen im ganzen Land aus und bald waren zehn Millionen Arbeiter beteiligt – weit mehr als 1936. Aber anders als 1936, als alle Arbeiter sich in den Fabriken verbarrikadierten, wurden die Besetzungen jetzt nach einem Rotationssystem organisiert.

Jeder Generalstreik, was immer sein Anlaß gewesen und wie immer er geführt worden sein mag, wirft die Machtfrage auf. Allein aus diesem Grund wären die Ereignisse des Mai 1968 ein Wendepunkt in der Geschichte der französischen Arbeiterklasse gewesen. Aber der Mai 1968 war mehr als dies; es gibt eine Menge Beweise, die zeigen, wie die Arbeiter tastend und langsam nach einem Verständnis des notwendigen nächsten Schritts: der Produktionskontrolle, sogar der Machtfrage, suchten. In einigen Fabriken wurden Basiskomitees errichtet und täglich allgemeine Streikversammlungen abgehalten. Anderswo fanden Diskussionen über die Fabrikkontrolle statt.

Ein Delegierter aus der Renault-Fabrik bei Flins berichtet:

Die jungen Militanten verstanden allmählich immer mehr die Bedeutung der Veränderung der Beziehungen innerhalb der Fabrik; und nicht nur der Beziehungen der Arbeiter zu den Aufsehern, Mann gegen Mann, sondern der Beziehungen, die sich in der Fabrik kollektiv zwischen allen, Hand- und Kopfarbeitern und der Geschäftsführung entwickeln. [5]

Die Karneval-Atmosphäre, die die Sorbonne und andere von Studenten besetzte Stätten kennzeichnete, griff manchmal auf die Fabriken über. Die riesigen schöpferischen Möglichkeiten eines unentfremdeten Menschen deuteten sich an.

Aber es sollte bei der Andeutung bleiben. Da es keine Kraft gab, die die politische Führung übernehmen und den Weg nach vorn hätte weisen können, blieb die Entwicklung des Streiks begrenzt. An den meisten Plätzen stellten die Arbeiter nur die Arbeit ein und machten keinen Versuch, die Produktion unter ihrer Kontrolle fortzusetzen. Die Wichtigsten Ausnahmen kamen da vor, wo die Arbeiter sich bereit erklärten, Dienstleistungen wie Gas- und Elektrizitätsversorgung aufrecht zu erhalten, oder verderbliche Güter weiter zu verarbeiten. Nur an einigen Stellen ging die Bewegung normal weiter – der interessanteste Fall ist vielleicht die Elektronik-Fabrik CSF in Brest, wo die Arbeiter nicht nur die Produktion aufrechterhielten, sondern beschlossen, Produkte von besonderem Wert für die Bewegung herzustellen, nämlich „walkie-talkie“-Radios für den Gebrauch von Demonstranten.

Viel stärker trat die Selbsttätigkeit in den Aktionskomitees zutage, die von Arbeitern und Studenten in ganz Frankreich errichtet wurden. Ende Mai soll es 450 solcher Komitees allein in Paris gegeben haben, obwohl viele von diesen nur sehr spärliche Verbindungen mit den Arbeitern hatten. Da sie keine Vertretungskörperschaften waren, sondern freiwillige Zusammenschlüsse von Militanten, drückte sich in ihnen der fortgeschrittenste Bewußtseinsstand aus; sie betrieben Propaganda und übernahmen auch praktische Aufgaben wie die Beseitigung von Müll, kümmerten sich um die Nahrungsmittelversorgung, indem sie Verbindungen mit den Bauern anknüpften usw.

Das höchste Organisationsniveau wurde in Nantes und St. Nazaire erreicht, wo die Streikkomitees tatsächlich die Verwaltung der Stadt übernahmen. Die Streikenden kontrollierten die Preise, bemannten die Tankstellen und teilten Benzin zu, während ihre Frauen die Verteilung von Gemüse organisierten. Gewerkschaftlich organisierte Lehrer sahen nach den Kindern der Streikenden, und die Gewerkschaften schufen ein System von Lebensmittelkarten für notleidende Familien. [6]

Welche Rolle spielte die KP und ihre rechte Hand, die CGT, während dieses Ausbruchs von Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse? Die KP beschränkte ihre Parolen auf liberale und demokratische Forderungen; sie stellte das Regime nie direkt infrage. Am 7. Mai schrieb L’Humanité: „Für eine neue Demokratie, die tiefgreifende Veränderungen garantieren wird!“ Am 14. Mai: „Für eine demokratische Öffnung des Weges zum Sozialismus“; am 17. Mai: „Für eine authentische, moderne Demokratie in Übereinstimmung mit den Interessen des französischen Volkes.“

Am 15. Mai verkündete die CGT, sie werde „alle notwendigen Verantwortlichkeiten und Initiativen in der Organisation des Kampfes übernehmen, um seine Koordinierung sicherzustellen und ihm die notwendige Ausdehnung und Macht zu geben.“ Das war nicht gerade präzise formuliert, aber den CGT-Offiziellen im ganzen Land war klar, was gemeint war: Die CGT selbst rief keinen Generalstreik aus, wenn es aber doch einen geben sollte, dann würde die CGT seine Entwicklung fest unter Kontrolle halten. In den meisten Fabriken spielte sie bei der Aufnahme des Streiks kaum eine oder überhaupt keine Rolle,- nur dort, wo es notwendig war, um nicht die Kontrolle über die Bewegung zu verlieren, griff sie ein. Aber als die Streikkomitees gebildet wurden, waren sie fest in der Hand der Gewerkschaftsapparate; und in allen Schlüsselsektoren bedeutete das, daß die CGT das Heft in der Hand hatte; es wurden keine Vorkehrungen getroffen, um die sehr große Zahl von nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, die sich jetzt radikalisierten, einzubeziehen. Das Ziel der Streikkomitees war es, die „Kampftemperatur“ niedrig zu halten; die Gewerkschaftsmilitanten erhielten die Besetzung aufrecht, während der Rest der Arbeiter nach Hause geschickt und der Isolation und den bürgerlichen Massenmedien ausgesetzt wurde. Es wurde kein Versuch gemacht, die Masse der Arbeiter in die politische Diskussion einzubeziehen; wenn die Studenten in die Fabriken kamen, um sich mit den Arbeitern zu treffen, wurden sie im allgemeinen von Militanten der CGT hinausgeworfen.

Das radikalisierende Fieber der Fabrikbesetzungen steckte die gesamte französische Gesellschaft an; Schriftsteller, Künstler, Priester, Fußballer, – alle begannen, die bestehenden Institutionen in Frage zu stellen und Besetzungen durchzuführen. Die Autorität des Staates war herausgefordert. De Gaulle setzte eine Volksabstimmung an – das Standardmittel, seine Autorität bestätigen zu lassen – und mußte zusehen, wie keine einzige Druckerei in Frankreich die Wahlzettel druckte; aus Solidarität weigerten sich auch die belgischen Drucker, diese zu drucken. Tiefe Risse begannen sich in der Polizei- und Armeemaschinerie zu zeigen. Am 22. Mai wurde von Angehörigen eines Armeeregiments in Muntzig ein Flugblatt herausgeben, in dem erklärt wurde:

Wie alle Einberufenen sind wir in die Baracken eingesperrt. Wir werden darauf vorbereitet, als Unterdrückungskraft einzuschreiten. Die Arbeiter und die Jugend sollen wissen, daß die hier stationierten Soldaten niemals auf Arbeiter schießen werden.

Wir Aktionskomitees werden uns, koste es was es wolle, der Einkreisung der Fabriken durch Soldaten widersetzen.

Morgen oder übermorgen sollen wir eine Rüstungsfabrik umzingeln, welche dreihundert dort beschäftigte Arbeiter besetzen wollen.

Wir werden uns verbrüdern. [7]

Da die herrschende Klasse – und die KP – die Kommunikationsmittel kontrollierte, wurden solche Initiativen isoliert und konnten nicht ansteckend wirken. Trotzdem stellten sie ernsthaft in Zweifel, ob de Gaulle seine Drohung (in einer Rundfunkansprache am 30. Mai) wirklich hätte wahrmachen können: daß es Bürgerkrieg geben werde, wenn die Arbeiter nicht Wahlen als Mittel zur Lösung der Situation akzeptieren würden. Eine Springflut antikommunistischer Propaganda folgte.

Der Generalsekretär der KP, Waldeck-Rochet, faßt die Wahl, vor die diese sich gestellt sah, folgendermaßen zusammen:

in Wirklichkeit war die Wahl, die im Mai getroffen werden mußte, folgende: Entweder so zu handeln, daß der Streik die Erfüllung der wesentlichen Forderungen ermöglichen würde, und zugleich auf politischer Ebene eine Politik zu verfolgen, die darauf zielte, die notwendigen demokratischen Veränderungen mit verfassungsmäßigen Mitteln herbeizuführen. Dies war die Position unserer Partei.

Oder aber ganz einfach eine Machtprobe zu provozieren, mit anderen Worten einen Aufstand durchzuführen: dies hätte bedeutet, beim bewaffneten Kampf mit dem Ziel des gewaltsamen Sturzes des Regimes seine Zuflucht zu suchen. Das war die abenteuerliche Position bestimmter ultralinker Gruppen. [8]

In Wirklichkeit forderte keine der revolutionären Gruppen – und einige von ihnen waren in der Tat ultralinks – den sofortigen bewaffneten Aufstand. Das stand nicht zur Debatte; die Frage war, ob die Bewegung weitergetrieben, auf ihren Höhepunkt gebracht werden oder ob man die Arbeiter demoralisieren und ihnen raten sollte, alle Hoffnungen in die Wahlen zu setzen, statt auf ihre eigene Kraft zu vertrauen. Trotz allen Getöses von de Gaulle war es erst möglich, die Streitkräfte gegen Widerstandsnester einzusetzen, als sich die KP auf die Beendigung des Streiks eingelassen hatte. Keine Armee – und am wenigsten eine, die aus den Söhnen von Arbeitern und Bauern besteht – ist groß genug, einen Streik von zehn Millionen Arbeitern zu zerschlagen. Worum es wirklich gegangen war, faßte die französische revolutionäre Zeitung Lutte ouvrière im August 1968 zusammen:

Was hätte eine wirkliche Massenmobilisierung des Proletariats bedeutet, die dann eine Situation der Doppelmacht, die entscheidende Phase in einer revolutionären Periode, impliziert hätte? Es hätte bedeutet, daß die große Mehrheit des Proletariats örtlich hätte organisiert werden müssen, in Bezirken und Fabriken. Daß sie sich eine demokratische „Führung“ hätte geben müssen. Daß sie mehr und mehr den Apparat und die Verwaltung des paralysierten bürgerlichen Staates übernommen hätte. Daß sie die inmitten eines Streiks notwendigen Aktivitäten übernommen hätte: Nahrungsmittel- und Krankenversorgung, Aufrechterhaltung der Ordnung. Daß sie einen heftigen Kampf gegen die Polizei und die bürgerliche Verwaltung geführt hätte. Kurz gesagt, daß sie in der Praxis nicht nur die ganze bürgerliche Macht herausgefordert, sondern sich bereit gezeigt hätte, sie durch ihre eigene zu ersetzen ... Das größte Verbrechen der KP während der Mai-Juni-Periode war nicht, daß sie nicht willens war, im Namen und an Stelle des Proletariats die Macht durch Waffengewalt zu erobern; es bestand darin, daß sie sich von Anfang an systematisch, methodisch der Mobilisierung des Proletariats widersetzt hat. Es bestand in der Tatsache, daß sie die Fabrikkomitees, die Streikkomitees, die Streikposten jeder Substanz beraubte und sie zu bürokratischen Karikaturen dessen machte, was sie hätten sein können.

Die langfristige Perspektive der KP war eine Rückkehr in die Regierung; dazu mußte sie die Mittelklassen von ihrer „Verantwortungsbewußtheit“ und „Mäßigung“ überzeugen. Dies bedeutete, daß sie ihre absolute Achtung der Legalität beweisen mußte, indem sie de Gaulles Wahlen akzeptierte. Sie tat das nicht, weil sie hoffte, bei diesen Wahlen gut abzuschneiden – sie verlor eine halbe Million Stimmen und mehr als die Hälfte ihrer Abgeordneten – sondern weil sie wußte, daß, wenn sie diesmal bei den Wahlen nicht mitspielen würde, ihre Aussichten auf einen zukünftigen Erfolg für lange Zeit zerstört sein würden. Gleichzeitig konnte es sich die KP nicht leisten, sich links überholen zu lassen, und mußte einige Gesten revolutionärer Rhetorik machen.

Bei den nationalen Verhandlungen hatte man eine bestimmte Zahl wichtiger wirtschaftlicher Erfolge erreicht – eine 35-prozentige Anhebung des garantierten Mindestlohnes, zehnprozentige Lohnerhöhungen im privaten Sektor usw. Einmal mehr zeigte dies, daß die revolutionäre Aktion der beste Weg ist, Reformen hervorzubringen. Die CGT benutzte jetzt diese Gewinne, um eine Rückkehr an die Arbeit zu rechtfertigen – eine Rückkehr, die bedeutende Teile ihrer Mitglieder nicht wollten. Sie weigerten sich nicht nur in vielen Fabriken, die Führung des Streiks zu übernehmen, sondern arbeitete oft offen für eine Wiederaufnahme der Arbeit. Als die Abstimmung bei Citroen von der Geschäftsleitung in geheimer Wahl außerhalb der Fabrik organisiert wurde, erklärte die CGT schlicht, daß „die Leute frei wählen können.“

Bei Crédit Lyonnais wurde die Abstimmung nicht überwacht, so daß man mehrfach abstimmen konnte. In der Thomson-Fabrik in Gennevilliers verteilte die CGT vor der Abstimmung ein Flugblatt, in dem es hieß, bei Thomson habe man die Arbeit wieder aufgenommen, nachdem große Vorteile errungen worden seien. Um sicherzustellen, daß sich ihre Voraussagen als korrekt erweisen würden, erlaubte sie auch Nichtstreikern, abzustimmen. [9]

Die Fähigkeit der KP, eine solche Operation durchzuführen, hing von ihrem Monopol auf die Nachrichtenverbindung ab. Eine revolutionäre, in nationalem Maßstab organisierte Partei hätte de Gaulles Bluff beim Namen genannt; unglücklicherweise war die revolutionäre Linke schwach und gesparten.

Maoisten, Anarchisten und Trotzkisten spielten alle eine Rolle bei den Ereignissen des Mai 1968, und zumindest auf der Ebene des Barrikadenkampfes wurde ein hoher Grad an Einheit erreicht; die Maoisten kämpften Seite an Seite mit den Trotzkisten, die sie doch für „konterrevolutionär“ hielten.

Es gab 1968 drei trotzkistische Hauptgruppen, ungefähr vergleichbar in bezug auf ihre Größe, aber in unterschiedlichen Sphären einflußreich. Die Parti Communiste Internationaliste (Französische Sektion des Vereinten Sekretariats der Vierten Internationale) hatte eine bestimmte Anziehungskraft bei den Studenten; ihre Ideen hatten zur Bildung der Jeunesse Communiste Révolutionnaire (JCR) geführt, die aus einer Spaltung in der Jugendorganisation der KP entstanden war. Die Organisation Communiste Internationaliste (in jener Zeit mit der Socialist Labour League in England verbunden) verfügte über einigen Anhang unter der Jugend und auch über ein gewisses örtliches Gewicht in den Sektionen der Gewerkschaft Force Ouvrière. Schließlich konzentrierte die Gruppe Voix ouvrière (Erbin der Union Communiste, die bei dem Renault-Streik von 1947 eine Schlüsselrolle gespielt hatte) ihre ganze Aktivität auf die Arbeit in den Fabriken.

Alle diese Tendenzen hatten Fortschritte gemacht, während der Sturm des Mai 1968 sich vorbereitete, und der Generalstreik gab ihnen eine einzigartige Chance, ihr Publikum zu erweitern. Obwohl keine von ihnen in der Lage war, eine glaubhafte Alternative zur KP anzubieten, wurden sie zumindest einem viel weiteren Kreis von Arbeitern bekannt. Die KP denunzierte sie weiter in der denkbar plumpesten Weise. Zum Beispiel hieß es auf einem Plakat, das die CGT in der Fabrik Renault-Billancourt im Mai 1968 ausgehängt hatte: „Diese Elemente raffen am Ende eines Tages immer eine fette Belohnung für ihre schmutzige Arbeit und für die treuen Dienste, die sie den Bossen leisten, ein.“ [10] Aber so leicht waren sie nicht länger zu isolieren.

Die Zersplitterung der Linken blieb jedoch ein schweres Hindernis für die Kontaktaufnahme mit den Arbeitern, die, nachdem sie gerade erst erfahren hatten, daß es eine revolutionäre Linke gab, verwirrt entdecken mußten, daß sie aus vielen Tendenzen bestand. Am 18. Mai richteten die OCI, JCR und die Voix Ouvrière ein ständiges Koordinationskomitee ein, aber dieser Schritt reichte nicht aus und kam zu spät. Am 12. Juni verbot die Regierung, die um Stimmen warb, indem sie ein „rotes Gespenst“ aufbaute, alle revolutionären Gruppen. Die KP protestierte nicht nur nicht gegen diese Maßnahme, sondern billigte sie de facto durch ihren hysterischen Angriff auf die Linken:

Es ist schwer, mit dem Schwachsinn, der Bewußtlosigkeit oder Provokation in den Appellen und Initiativen der letzten Tage gemeinsame Sache zu machen. In jedem Fall ist klar, daß die blinde Gewalt, die in der Demonstration von vorgestern vorherrschte – gefällte Bäume, angezündete Autos, zerbrochene Fenster, Molotow-Cocktails – in Wirklichkeit nur das Ergebnis hat – und Monsieur Pompidous Rede hat das hinreichend gezeigt – den Gaullisten in die Hände zu spielen. Die Studentenbewegung hat nicht die Führer, die sie verdient. Man kann verstehen, warum das Regime die linksradikalen Gruppen benutzt beim Versuch, die Protestbewegung gegen seine Politik zu spalten. [11]

Und die CGT ging sogar so weit, ihre guten Beziehungen mit der CFDT abzubrechen, weil diese Gewerkschaft zu freundlich gegenüber den „Linken“ gewesen war.

Die Ereignisse des Mai 1968 bedrohten den französischen Kapitalismus nicht ernsthaft; die Wirtschaft erholte sich schnell, und im folgenden Jahr gab es einen steilen Produktionsanstieg. Eine heftige Konfrontation mit der Arbeiterklasse wollte die Regierung nicht oder konnte sie nicht gebrauchen; was die Arbeiter sich erkämpft hatten, konnte man durch verschiedene Steuerreformen aushöhlen; nur in den kleineren Betrieben versuchte die Unternehmensleitung echte Repressionsmaßnahmen gegen die Arbeiter durchzuführen.

Die KP und die CGT sahen sich in dieser Periode mit zwei Hauptproblemen konfrontiert; erstens: die verlorenen Wähler zurückzugewinnen und die Bourgeoisie ihrer guten Absichten zu versichern; zweitens: ihre Basis in den Fabriken zu erhalten.

Im Herbst 1968 versuchte die CGT allen heftigen Kämpfen aus dem Weg zu gehen; im allgemeinen herrschte unter den Arbeitern immer noch ein Klima des Selbstvertrauens, und es gab viele Kämpfe wegen der Frage, ob im Streik verlorene Arbeitszeit durch Überstunden wieder hereingeholt werden sollte. Die CGT verhielt sich demgegenüber passiv; gleichzeitig versuchte sie, all diejenigen Militanten hinauszusäubern, die vom „Linksradikalismus“ angesteckt worden waren.

Im Frühjahr 1969 spürte die herrschende Klasse, daß sich die Lage genügend stabilisiert hatte und ihnen erlaubte, de Gaulle loszuwerden, dessen Exzentrizitäten ein Luxus geworden waren. De Gaulle wurde der erste Mann in der französischen Geschichte, der zwei Volksabstimmungen verlor und schied aus dem politischen Leben aus.

Bei den darauf folgenden Präsidentschaftswahlen wurde die gesamte Frage von Wahlbündnissen aufgeworfen. Gegen den gaullistischen Kandidaten Pompidou präsentierte das Zentrum als liberale Alternative eine völlige Null – Alain Poher. Die Sozialisten stellten Defferre auf ein Manöver, das die Unterstützung Pohers im zweiten Wahlgang vorbereitete.

All dies stellte die. KP vor ernste Probleme. Wenn es den Sozialisten gelang, ein lebensfähiges Bündnis mit dem Zentrum zuwege zu bringen, würde die KP wieder ohne Verbündete „draußen vor der Tür“ stehen; schlimmer noch: sollte Poher gewinnen, würde die gesamte KP-Strategie einer breiten Einheit gegen die „persönliche Macht“ zusammenbrechen. So vollzog die KP eine Linkswendung; bei der ersten Abstimmung stellte sie ihren eigenen Kandidaten auf – den stets linientreuen Veteranen Jacques Duclos – dessen hoher Stimmanteil zeigte, daß die Verluste bei der Wahl im vorigen Sommer wieder gutgemacht waren. Im zweiten Wahlgang rief sie ihre Wähler mit Erfolg dazu auf, sich bei der Wahl „zwischen Pest und Cholera“ der Stimme zu enthalten – und sicherte so die Wahl Pompidous.

Die herrschende Klasse schien nun ihre Strategie gegenüber der KP geändert zu haben. Während de Gaulle versucht hatte, die KP einzubeziehen und zu integrieren, versuchte das Regime Pompidou, Vorteil aus dem Zusammenbruch des linken Bündnisses zu ziehen und die KP zu isolieren.

Angesichts dessen und angesichts einer neuen Welle von Militanz der Arbeiterklasse war die KP gezwungen, im Herbst 1969 zumindest eine teilweise Linkswendung durchzuführen. Die CGT-Führung nahm eine bedrohliche Haltung ein und wurde von der Presse und den Führern der Regierung verurteilt. Diese Wendung war Ausdruck einer Verschiebung im Gleichgewicht der Kräfte, wie die revolutionäre Zeitung Lutte Ouvrière am 20. September 1969 erklärte:

Obwohl die CGT nicht linksradikal geworden ist, ist sie mit Recht beunruhigt durch die Existenz einer nicht unbeträchtlichen linksradikalen Bewegung im Land, die zugegebenermaßen noch nicht viele Wurzeln in der Arbeiterklasse hat, deren Ideen aber die wirklichen Interessen der Arbeiter und das bewußte Streben zumindest eines Teils von ihnen widerspiegeln. Um nicht links überholt zu werden, nicht nur von den Arbeitern, sondern auch von ihren eigenen Militanten, sah sich die CGT gezwungen, die Führung zu übernehmen und hat nicht gezögert, Aktionen zu starten, sobald ein bestimmter Grad von Agitation offenbar wurde. Sicher sind dieser Taktik Grenzen gesetzt. Die Führer der CGT haben absolut nicht die Absicht, die Revolution zu machen, um ihre Mitglieder zufriedenzustellen. Sie beabsichtigen nicht einmal, die Bourgeoisie in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen. Während sie nicht zögern, in Streikbewegungen die Initiative zu übernehmen, zeigen sie ein vollendetes Geschick dabei, ihre Auswirkung zu vermindern, ihre Verallgemeinerung zu vermeiden und der Regierung und Bourgeoisie zu erlauben, sich so billig wie möglich aus der Affäre zu ziehen.

Die Linkswendung war kurzlebig. Zum Beispiel wurde im Februar 1972 ein junger Maoist – René-Pierre Overney – von einer bewaffneten Fabrikwache bei Renault ermordet. Während sogar die Liberalen ihrem Entsetzen über die Bewaffnung des Werkschutzes Ausdruck gaben, und 100.000 Menschen, viele von ihnen junge Arbeiter, Overneys Begräbnis beiwohnten, ergriff die KP die Gelegenheit, sich von den Linksradikalen zu distanzieren.

Die Basis der Partei war seit 1968 nicht wesentlich schmaler geworden. Tatsächlich berichtete die KP im November 1971 von Erfolgen, die sie bei der Jugend mit zwischen 10.000 und 15.000 Neuaufnahmen in ihre verschiedenen Jugendorganisationen seit 1968 erzielt hatte. Bis zu einem gewissen Grad konnte dieses Wachstum durch die in Sackgassen steckenbleibende Strategie vieler linksradikaler Gruppen und den Erfolg, den die, KP bei der Aufgabelung der gemäßigten Kräfte in den Universitäten hatte, erklärt werden.

Aber am meisten war die Partei, an Wählern interessiert. Ihr Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung nach den Wahlen, die 1973 kommen sollten, wurde im Herbst 1971 durch die Veröffentlichung ihres „Programms für eine demokratische Regierung der Volkseinheit“ in einer Auflage von einer halben Million bekanntgemacht. Die wirtschaftlichen Verbesserungen, die den Arbeitern in Aussicht gestellt wurden, waren äußerst bescheiden. Das Programm forderte die Vierzig-Stunden-Woche, die theoretisch schon 1936 erkämpft worden war, gab aber keine Garantie für ihre sofortige und obligatorische Einführung. Es trat für einen Mindestlohn von tausend Francs monatlich ein – weniger als 130 DM die Woche – (soviel verlangten die Renault-Arbeiter als Minimum 1968 und die Gaullisten hatten sich zum Ziel gesetzt, diese Zahl 1973 zu erreichen), gab aber auch hier keine Garantie dafür, daß er wirklich durchgesetzt würde. Und die generelle Akzeptierung des vom bürgerlichen Staat gesetzten Rahmens ist in Sätzen wie diesem zusammengefaßt: „Die Armee wird von Aufgaben befreit werden, die die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung mit beinhalten. Das ist die Funktion einer Polizei, die ganz getrennt von der Armee besteht.“

Aber das Programm erfüllte seinen Zweck: es pflasterte den Weg für die Übereinkunft über ein Gemeinsames Programm, das zusammen mit der Sozialistischen Partei unterzeichnet wurde. Dies war eine verwässerte Version des eigenen Programms der KP (mit Zugeständnissen betreffs der Verstaatlichung, dem Gemeinsamen Markt und der NATO). Ein derartiges Wahlbündnis zog einen Teil der schon immer opportunistischen Radikalen an (einschließlich der Mehrheit der Abgeordneten der Radikalen, die die Stimmen der KP und SP brauchten, um ihre parlamentarischen Sitze zu erhalten). Der Form nach war die Volksfront von 1936 neu geschaffen worden; dem Inhalt nach fehlte die Massenunzufriedenheit, die zu der sozialen Explosion von 1936 geführt hatte. Trotz der Anstrengungen der KP, ihre Respektabilität zu beweisen, wurde sie im Wahlkampf wieder zur Zielscheibe vulgärer antikommunistischer Propaganda; dennoch war ihr Programm kaum dazu angetan, die Arbeiter und andere unterdrückte Gruppen in seinen Bann zu ziehen. Obwohl die Gaullisten viel von ihrer früheren Anziehungskraft verloren hatten, gewannen sie und ihre Verbündeten, als im März 1973 die Wahlen kamen, eine sichere, wenn auch kleine Mehrheit. Die Tatsache, daß revolutionäre Kandidaten (von den Gruppen Lutte ouvrière und Ligue Communiste) fast 300.000 Stimmen bekamen – durchschnittlich 2 Prozent der Stimmen dort, wo sie sich bewarben – zeigte, daß es jetzt eine immer noch kleine, aber schon ins Gewicht fallende Kraft links von der KP gab.

 

 

Italien

Die italienische KP stand in den sechziger Jahren dem umgekehrten Problem wie die französische Partei gegenüber. Während diese aus ihrer Isolation ausbrach, sah sich die italienische KP zunehmend isoliert. Die italienische Sozialistische Partei unter Führung von Nenni hatte sich seit Mitte der 50er Jahre allmählich von der KP distanziert; aber der wirkliche Bruch kam, als die SP sich im Januar 1962 bereitfand, die neue Regierung zu unterstützen und dann im Dezember 1963 selbst in die Regierung eintrat.

Die sogenannte Mitte-Links-Formel war ein direkter Ausdruck der Wünsche der fortgeschrittendsten Sektoren des italienischen Kapitalismus, FIAT und ENI (das staatliche Gas- und Benzin-Monopol). Lohnstop, Kreditrestrikrtionen und wachsende Arbeitslosigkeit folgten, und der stellvertretende Ministerpräsident Nenni spielte, 10 Jahre nach seiner Anwesenheit bei Stalins Begräbnis, die Starrolle beim Druck auf die Arbeiter, im nationalen Interesse Opfer zu bringen.

Die Entwicklung, der Sozialistischen Partei vollzog sich nicht ganz reibungslos. 1964 spaltete sich ein Teil der Linken ab und bildete eine neue Partei, die PSIUP („italienische Sozialistische Partei für proletarische Einheit“); 1965 veröffentlichte Nenni einen „offenen Brief“, in dem er eine grundlegende Revision des Marxismus in der Frage des Staats, der Natur der Arbeiterklasse und der Möglichkeit des friedlichen Übergangs zum Sozialismus forderte. 1966 erreichten die Sozialisten eine zeitweilige Wiedervereinigung mit Saragats Sozialdemokraten. Die KP, die von der SP nicht bloß wegen der Parlamentswahlen abhing, sondern wegen der gemeinsamen Arbeit in der CGIL und wegen der Kontrolle der Gemeinderäte, wurde durch all dies zu einer vorsichtig abgewogenen Reaktion gezwungen. Die KP stimmte gegen das Mitte-Links-Programm, aber Togliatti erklärte, daß das keine prinzipielle Ablehnung bedeutete, sondern mehr aus Vorbehalten bezüglich der besonderen Fragen der NATO und der regionalen Regierung resultierte. Der rechte Flügel der KP kritisierte sogar den Entschluß der PSIUP, mit der Sozialistischen Partei zu brechen.

Bei den Wahlen von 1963 erzielte die KP beträchtliche Gewinne, besonders bei den katholischen Frauen, da Papst Johannes deutlich gemacht hatte, daß die Stimmabgabe für die Kommunisten nicht länger als Sünde zu betrachten war. Aber es war auch klar, daß man sich keine regierungsfähige Mehrheit ohne die Christdemokratie (die regelmäßig um die 40 Prozent aller Stimmen bekam) – oder zumindest einen Teil von ihr, denn die Partei war in eine Reihe von Fraktionen gesparten – vorstellen konnte.

Die Grundorientierung der KP zielte auf Klassenzusammenarbeit. Guido Fanti, der Bürgermeister von Bologna, schrieb: „Die neuen Aufgaben der KPI sind die Verstärkung ihrer Rolle als der politischen Avantgarde-Partei der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen und... als Organismus, der ein breites Bündnis mit allen sozialen Gruppen herstellt, die ihre objektive wirtschaftliche Lage verändern wollen.“ [12]

Über diesen Punkt waren sich alle einig – außer einigen Maoisten, die nicht lange in der Partei bleiben sollten. Aber über Strategie und Taktik gab es beträchtliche Auseinandersetzungen. Beim Parteitag von 1966 argumentierte die Mehrheit dahingehend, daß die Mitte-Links-Regierung ein Fehlschlag gewesen sei, und daß die Partei danach trachten sollte, eine neue Mehrheit zu bilden, die sich auf „alle Kräfte links von der Christdemokratie“ gründen oder sogar die Christdemokratie einschließen könnte. Die „Linke“, geführt von Ingrao, vertrat demgegenüber die Position, daß die Mitte-Links-Regierung kein Mißerfolg, sondern eine Niederlage für die Arbeiterklasse gewesen sei. Deshalb müßte ein neues Bündnis der linken Kräfte hergestellt werden – KP plus PSIUP und Linke der Sozialistischen Partei – und versuchen, einen Dialog mit der Linken der Christdemokratie herzustellen, um eine Differenzierung innerhalb dieser Partei herbeizuführen.

Die Wiedervereinigung der Sozialisten und Sozialdemokraten warf auch Probleme in bezug auf die CGIL auf. Auf die Sozialisten wurde ein starker Druck ausgeübt, für eine größere Unabhängigkeit innerhalb der CGIL zu kämpfen, oder sie sogar zu verlassen und sich mit den Sozialdemokraten in der UIL wiederzuvereinigen. Die KP vermied es jedoch mit Erfolg, auf diese Weise weiter in die Isolation getrieben zu werden. Das gelang ihr erstens, weil mehr als die Hälfte der sozialistischen Gewerkschaftsangestellten mit der Sozialistischen Partei gebrochen und sich der PSIUP angeschlossen hatten, da sie nicht einsehen, wie Gewerkschaftler aus der sozialistischen Beteiligung an der Mitte-Links-Koalition Nutzen ziehen sollten; die PSIUP wurde mehr und mehr zu einem bloßen Anhängsel der KP. Zweitens entwickelte sich eine größere Aktionseinheit zwischen den drei Gewerkschaftsverbänden. 1966 legten die drei Verbände erstmalig eine gemeinsame Liste von Forderungen beim Kampf um die Arbeitsverträge der Techniker vor. Italien erlebte in den späten sechziger Jahren nicht eine einzelne große Konfrontation wie in Frankreich, sondern eher eine Serie von kleineren Explosionen – man hat dies als den „Französischen Mai in Zeitlupe“ bezeichnet.

Die italienische Partei bezog eine viel flexiblere – oder besser opportunistischere – Haltung gegenüber der Springflut studentischer Militanz. Nach anfänglicher Kritik schrieb der Generalsekretär Longo 1968:

Man kann nicht bestreiten, daß sich eine Kluft zwischen der Partei, ihrem Auftreten und ihren Aktivitäten in der Universität und der politischen und organisatorischen Wirklichkeit bei den Studenten und bestimmten besonders „aktiven“ und dynamischen Sektoren aufgetan hat. Dieses politische und kulturelle Ferment in der Universität hat unsere Mitglieder erst mit Verspätung interessiert.

Warum?

Ohne zu beanspruchen, eine abschließende Antwort zu geben, glaube ich doch, daß die Beschäftigung mit der Verteidigung unserer Partei gegen Angriffe auf ihre Einheit und ihren Zusammenhalt unsere Mitglieder in eine starre Verteidigungshaltung getrieben sie sozusagen mit dem Rücken an die Wand gepreßt hat, so daß keine Offenheit für die Gedankengänge anderer und die Auseinandersetzung mit ihren Argumenten übrig blieb. [13]

Ein großes Problem stellte die enorme Explosion der Militanz der Arbeiterklasse im Sommer und Herbst 1969 dar. Ein FIAT-Arbeiter beschreibt, wie der Kampf rapide der Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie entglitt:

Die Gewerkschaften hatten 1969 den Streikplan genau ausgearbeitet. Sie wollten eine ganze Serie von Streiks, die jeweils wenige Leute zur gleichen Zeit einbezogen, so daß die Produktion nie vollständig blockiert und zugleich verhindert wurde, daß eine große Zahl von Arbeitern zusammenkam. Aber wir ergriffen die Initiative und beschleunigten die Dinge, was einen fast totalen Produktionsstop bedeutete, der die große Mehrheit der Arbeiter einbezog.

Wenn die Gewerkschaften zu einer zweistündigen Arbeitsniederlegung aufriefen, machten die Leute vier daraus und später acht. Und verschiedene Betriebe stellten die Arbeit zu verschiedenen Zeiten ein, womit sie ein Höchstmaß an Verheerung anrichteten. Die Pressen produzierten nichts, die Kranführer und Draisinen-Fahrer hatten nichts zu transportieren, und deshalb kam die Produktion tatsächlich zum Stillstand.

Das war gefährlich für die Gewerkschaften. Sie hatten die Kontrolle verloren und sie mußten versuchen, sich gegen die Flut der Arbeiterkämpfe zu stemmen. So gebrauchten sie dieselben Argumente wie die Vorarbeiter und Aufseher – daß jede Stunde, in der die Arbeiter autonom (d.h. inoffiziell) streikten, bestraft werden würde. Aber die Drohungen fruchteten nichts und der Streik ging weiter. [14]

Der Kampf wuchs sich Anfang Juli 1969 in Turin beinahe zum Aufstand aus, und in den Fabriken, wo die Disziplin eine Zeitlang fast zusammenbrach, kam es zu zahllosen Gewaltakten. Weil die CGIL und die anderen Gewerkschaften bankrott waren, errichteten die Militanten Basiskomitees zur Koordination des Kampfes. Aber gerade weil diese außerhalb der Gewerkschaften agierten und über keine Strategie für eine politische Herausforderung der Gewerkschaften verfügten, während sie gleichzeitig unfähig waren, auf nationaler Ebene sich an die Stelle der Gewerkschaften zu setzen, waren sie zum größten Teil nicht von beständiger Dauer. Darüber hinaus bildeten die Gewerkschaften in vielen Fabriken Arbeiterdelegierten-Komitees. Diese eröffneten der Arbeiterbasis (die bis dahin keine direkte Vertretung wie die englischen „shop stewards“ hatte) eine Ausdrucksmöglichkeit und schwächten so die inoffiziellen Komitees weiter.

Obwohl die KP und CGIL 1971 die Fabrikbasis wieder unter Kontrolle hatten, war diese nicht so vollständig wie zuvor. In den Fabriken brachen wegen der Arbeitsbedingungen weiter kurze, heftige Kämpfe aus, und militante Arbeiter kämpften weiter für jene Verbesserungen, die sie 1969 bei den Kämpfen um die Arbeitsverträge nicht erreicht hatten. Währenddessen ließ die aus der Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage resultierende Bitterkeit im Süden gewalttätige Konflikte ausbrechen, die, weit entfernt, von der KP mit Leichtigkeit kontrolliert zu werden, den Neofaschisten die Gelegenheit gaben, eine „Volks“revolte in der Stadt Reggio Calabria zu führen.

Trotz ihrer hohen Stimmenzahl – neun Millionen Stimmen bei den Wahlen von 1972 – und ihrer eineinhalb Millionen Mitglieder, ist die italienische KP in den frühen siebziger Jahren von Lähmungserscheinungen heimgesucht worden. Die bedeutenden inneren Spaltungen der Partei widerspiegeln ein Grundparadox der Situation. Jede Chance der KP, in eine neue Regierungskoalition einzutreten, hängt davon ab, daß sie sich als ehrenwerte Partei präsentiert, die durch ihre Kontrolle über die Arbeiterbewegung den sozialen Frieden garantieren kann. Und doch könnte die herrschende Klasse sich nur angesichts einer ernsten Krise zu einer solchen Koalition verstehen.

Während des kämpferischen Aufschwungs der Arbeiterklasse 1969 wurde zum Beispiel auf beiden Seiten viel von der Möglichkeit der Koexistenz von Kommunisten und Christdemokraten in einer „neuen Mehrheit“ geredet. Aber seit damals ist das Mitte-Links-Bündnis zerfallen, die SP hat sich wieder gespalten und solche Überlegungen werden außer bei der KP selbst nirgends mehr angestellt; und auch dort sind sie begrenzt auf jene Führer, die zu den größten Konzessionen bereit sind, um sich an die illusorische Hoffnung einer Machtbeteiligung zu klammern. Im Sommer 1972 ging zum Beispiel das Mitglied des Zentralkomitees Natta so weit, zu sagen, daß sogar die Mitte-Links-Regierung sich manchmal „eines Anflugs von abstraktem Maximalismus“ schuldig gemacht hatte, durch den sich bestimmte Teile der Gesellschaft bedroht gefühlt hätten. [15]

Die Alternative zu solchen Zugeständnissen ist für die KP die, zu akzeptieren, daß sie für die absehbare Zukunft in Opposition stehen wird, und die Führung der Kämpfe der Arbeiterklasse wieder zu übernehmen. Der Druck in dieser Richtung von der Basis ist stark, besonders weil viele über den Spontaneismus desillusionierte junge Arbeiter und Intellektuelle der Partei seit 1969 beigetreten sind; und in dem Maße, wie sich die neofaschistische Terroroffensive verstärkt, erwarten die älteren Arbeiter von der KP die Führung des antifaschistischen Kampfs. Aber die Perspektive selbst der „Linken“ in der Parteiführung ist immer noch die eines demokratischen Bündnisses, das schließlich zu einer „neuen Mehrheit“ führen soll.

Die Position der KPI ist von Widersprüchen zerrissen. Zum Beispiel fährt sie fort, bei ihrem antifaschistischen Kampf nach einer starken, „demokratisch kontrollierten“ Polizei zu rufen; und doch spielt in der gegenwärtigen Situation die Forderung nach einer Verstärkung der Polizei korrupten und profaschistischen Elementen im Staat in die Hände. Die Parteipresse empört sich über „ultralinke Provokationen“, die, wie sie sagt, den Faschisten einen Vorwand geliefert haben; jedoch sind viele dieser „Provokationen“ einschließlich des Bombenanschlags in einer Mailänder Bank 1969, dem vierzehn Menschen zum Opfer fielen, als das Werk faschistischer Gruppen entlarvt worden, die versuchten, sie der Linken zur Last zu legen. in anderen Ländern der westlichen Welt sahen sich die KPs nicht so spektakulären Ereignissen gegenüber wie in Frankreich und Italien; aber in einigen von ihnen waren sie durchaus von Bedeutung für die Arbeiterbewegung. Jede folgte hier irgendeiner Variante der Volksfrontstrategie, die den örtlichen Bedingungen angepaßt war, und für jede wurde der Konflikt zwischen dem Engagement in der nationalen Politik und den internationalen Verbindungen akut. In einigen Fällen führte er zu Spaltungen.

 

 

Großbritannien

In Großbritannien hatte die KP 1950 ihre beiden einzigen Abgeordneten verloren; ihr Stimmenanteil bei den Wahlen fiel ständig:

Jahr

Kandidaten

Gesamtstimmenzahl

1945

21

102.780

1964

36

  45.086

1966

57

  62.112

1970

58

  37.966

Trotzdem hat die Partei mehr und mehr von ihren Kräften und Mitteln nicht nur in Parlaments-, sondern auch in Gemeinderatswahlen gesteckt. Die Mitgliederzahl, die nach der ungarischen Revolution steil abfiel, begann in den frühen sechziger Jahren wieder etwas anzusteigen, pendelte sich dann aber auf einem niedrigen Niveau ein.

Die Partei hat es in auffallender Weise versäumt, auf die neuen Wellen von politischer Radikalisierung in England zu reagieren. In den späten fünfziger Jahren wuchs die Kampagne für atomare Abrüstung, die eine einseitige atomare Abrüstung durch England forderte, zu einer Massenbewegung an, die Demonstrationen mit bis zu 100.000 Menschen mobilisieren konnte. Obwohl viele der Beteiligten aus der Mittelklasse kamen, verfügte die Kampagne über genügend Einfluß auf die Arbeiterbewegung, um auf der Parteikonferenz der Labour Party 1960 eine Mehrheit zu gewinnen.

Die kommunistische Partei wandte sich anfangs gegen die Kampagne, da sie sich der Forderung nach „Gipfelgesprächen“ verschrieben hatte (und auch der Unterstützung der sowjetischen H-Bomben). In einem Rechenschaftsbericht an den Parteitag von 1959 wurde das so ausgedrückt:

Die Erfahrung hat gezeigt, daß einseitiges Handeln die Bewegung nur spaltet und die Aufmerksamkeit von dem wirklich entscheidenden Punkt ablenkt, nämlich einem internationalen Abkommen über das Verbot von Atomwaffen. Das ist der einzige Weg, die Drohung eines Atomkrieges zu bannen und auch der Punkt, über den sich die größte Zahl von Menschen einig ist. [16]

1960 mußte die Partei erkennen, daß die ängstlichsten Parolen nicht die meisten Menschen mobilisieren, und sie beschloß, der Kampagne beizutreten; tatsächlich erzielte sie in der Verfallsperiode der Abrüstungskampagne einige Erfolge bei Neuaufnahmen.

Die Geschichte wiederholte sich 1967-68, als die Vietnam-Solidaritätskampagne (VSK), die sich zum großen Teil, aber nicht ausschließlich, auf eine anschwellende Flut studentischer Militanz gründete, imstande war, bis zu 30.000 Menschen auf die Straßen zu bringen. Die KP, die die Parole „Sieg für die NBS“ bekämpfte, griff die VSK mit noch schärferen Worten an als seinerzeit die Abrüstungsbewegung:

Wir glauben, daß nur eine Bewegung, die Hunderttausende umfaßt, einen wirklich politischen Einfluß in England haben kann. Dem Aufbau einer solchen Bewegung stehen Haltung und Aktivitäten der VSK im Wege, da diese eine permanente Feindschaft gegenüber allen zu Tage legt, die sich in ihren Augen nicht voll engagieren, und da sie ständig echte Bemühungen um die breitestmögliche Einheit auf der Grundlage realisierbarer unmittelbarer Forderungen, wie wir sie schon umrissen haben, einengt, ja sogar angreift. [17]

Einmal mehr sah sich die KP zu einem Rückzieher gezwungen und unterstützte die letzte große Demonstration der VSK im Oktober 1968. Aber diesmal hatte sie sich politisch so sehr ins Abseits gestellt, daß sie keine Neuzugänge verzeichnen konnte, und seither ist die Jugend eine schwache Stelle der Partei gewesen.

Auf anderen Gebieten machte die Partei schwerwiegende Konzessionen an den Nationalismus. Das fand seinen auffallendsten Ausdruck in der Kampagne gegen den britischen Beitritt zum Gemeinsamen Markt, zum Beispiel in folgendem Resolutionsentwurf für den 32. Parteitag:

Die herrschende Klasse ist darauf aus, das Parlament Schritt für Schritt seiner Autorität zu berauben und diese den übernationalen Institutionen der EWG zu übertragen; dies ist Bestandteil ihres Angriffs auf die Errungenschaften der Arbeiterklasse. Großbritanniens nationale Souveränität ist von vitaler Bedeutung für die britische Arbeiterklasse.

Am 25. Oktober 1971 schlossen KP-Mitglieder sich einer Demonstration gegen den Gemeinsamen Markt an, an der nach den Worten des Morning Star, auch „Tory Ladies“ und „sogar der extrem nationalistische Montagsclub“ teilnahmen. Dies zeigte in letzter Konsequenz die Logik der Volksfrontstrategie. Kein Internationalist, was er auch immer vom Gemeinsamen Markt halten mag, könnte sich einer Demonstration anschließen, die de facto dazu dient, die politische Glaubwürdigkeit extrem rechter Gruppen zu stärken, deren Hauptziel es ist, Feindschaft zwischen den Arbeitern verschiedener Rassen zu säen.

Aber die wirkliche Bedeutung der KP in den Klassenauseinandersetzungen in Großbritannien bestand darin, daß sie auf nationaler Ebene als einzige über ein funktionierendes Netz von Militanten in der Industrie verfügte. Viele Militante blieben in der Partei oder ihrem Umkreis, nicht aus Begeisterung für ihre Politik, sondern weil sie irgendeine politische Basis brauchten. Als die Labour-Regierung während der sechziger Jahre ihre Einkommenspolitik einführte, dann ein Antigewerkschafts-Gesetz einbrachte, wurde die Notwendigkeit, darauf politisch zu reagieren, noch größer.

Die KP war jedoch unfähig zu einer solchen Reaktion, denn ihre – auf parlamentarischer Ebene völlig fruchtlose Fixierung auf die Wahlen – machte auch den Kern ihrer Gewerkschaftsstrategie aus. Die Beteiligung an Gewerkschaftswahlen und die Eroberung von Positionen war nicht (wie Lenin in Der Linksradikalismus – die Kinderkrankheit im Kommunismus dargelegt hatte) Mittel im Kampf für eine kommunistische Politik, sondern Selbstzweck geworden. Die Interessen von KP-Funktionären und einfachen KP-Arbeitern gingen in der Frage von Produktivitätsabsprachen, Streikaktionen, täglichem Arbeitspensum usw. scharf auseinander. Aber die Partei war weder willens noch in der Lage, ihre Funktionäre zu disziplinieren.

Die erste größere Konfrontation zwischen Arbeitern und der Labour-Regierung kam im Sommer 1966 mit einem nationalen Streik der Seeleute. Wilson versuchte, in einem verblüffenden Ausbruch von Hysterie, den Streik zu verleumden, indem er die Rolle der KP attackierte. Obwohl einige Streikführer KPler waren, beschränkte sich die Rolle der Partei in Wirklichkeit auf Propaganda; trotz ihres beträchtlichen Einflusses in den Häfen tat die Partei nichts, um die Hafenarbeiter zur Unterstützung der Seeleute zu mobilisieren, obgleich dies dem Streik die entscheidende Wende hätte geben können.

Der Beschluß, im Sommer 1971 die Upper-Clyde-Schiffswerften zu besetzen, wurde von „shop stewards“ gefaßt, unter denen eine Reihe von KP-Militanten war, besonders Jimmy Reid, der eine solche Drohung für die herrschende Ordnung darstellte, daß er sehr schnell in eine liebenswerte Fernsehpersönlichkeit verwandelt wurde. Aber die Taktik des Lavierens, die die KP einschlug, war deutlich dazu bestimmt, eine direkte Konfrontation zu vermeiden:

Das Problem, dem sich die Arbeiter der UCS gegenübersahen, war die Entwicklung einer neuen Kampftechnik mit deren Hilfe sie ihr Ziel, die Verhinderung von Entlassungen und Schließungen, in einem Kampf, der mit Sicherheit zäh sein würde, erreichen konnten. Ein Streik konnte den Unternehmern in die Hände spielen, wenn sie sowieso auf Schließung aus waren. Eine Betriebsbesetzung wäre nur schwer lange genug durchzuhalten. Sie hätte den Unternehmern auch einen guten Vorwand gegeben, die Arbeiter mit dem Argument anzugreifen, die Besetzung mache ihnen die Einhaltung jeglicher Lieferverträge unmöglich und verschlimmere den Bankrott. Dies hätte den Tories helfen können, die öffentliche Meinung gegen die UCS-Arbeiter aufzubringen. [18]

Der Morning Star war voll des Jubels über das hohe Niveau von Aktivität und Disziplin unter den Arbeitern, wie zum Beispiel in diesem Bericht vom 3. September:

Alle UCS-Arbeiter sind entschlossen, ihr Bestes für ihre Werft zu tun. Jetzt ist ihre Arbeit wirklich teamwork. Die wenigen, die zu spät zur Arbeit kommen, haben das Gefühl: „Du läßt die Kollegen im Stich“; sogar in der Einhaltung der vorgegebenen Zeiten werden alle Genauigkeitsrekorde geschlagen. Das schönste Beispiel dafür ist, daß die traditionelle Maß Bier zum Mittagessen geleert ist, Minuten bevor die Sirene ertönt und die Kontrolluhr jede Sekunde läutet.

Die Hauptwaffe der KP im Kampf gegen die Tory-Versuche, die Gewerkschaftsrechte gesetzlich hinwegzudekretieren, war ein als „Verbindungskomitee für die Verteidigung der Gewerkschaften“ (LCDTU) bekanntes Gremium. Obwohl seine Führung selbsternannt war, brachte es echte Mobilisierungen zustande. Ihr Höhepunkt war die 24stündige Arbeitsniederlegung, die am 8. Dezember 1970 gegen das von den Tories eingebrachte „Gesetz über industrielle Beziehungen“ („Industrial Relations Bill“) ausgerufen wurde.

Als jedoch eine symbolische Aktion nicht mehr genügte, sondern eine wirkliche Herausforderung an den Staat erforderlich war, war das Verbindungskomitee nicht bereit zu handeln. Im Juli 1972 wurden fünf Dockarbeiter als „illegale Streikposten“ ins Gefängnis geschickt; das LCDTU unternahm keinen Versuch, zu einer national koordinierten Aktion aufzurufen, obwohl es kurz zuvor eine von 1.200 Delegierten besuchte Konferenz abgehalten hatte. Ein Brief von vier „shop stewards“ an den Socialist Worker vom 14. April 1973 urteilte über das Verbindungskomitee: „Wenn der durchschnittliche Hafenarbeiter, der an diesem Kampf teilnahm, gefragt wurde, was das LCDTU machte, wußte er im allgemeinen nicht einmal, was das war.“ Die Streiks, durch die es gelang, die fünf Hafenarbeiter zu befreien, wurden von unkoordinierten Militanten zustandegebracht, von denen natürlich viele KP-Mitglieder waren.

Nicht böser Wille machte das LCDTU handlungsunfähig, sondern seine Strategie. Das LCDTU wollte seine Beziehungen zu den Gewerkschaftsoffiziellen nicht abbrechen, die es als Podium benutzten, so wie sie auch in den Spalten des Morning Star schrieben. Die KP war nicht bereit, linke Führer wie Jones und Scanlon anzugreifen, selbst wenn sie nach rechts rückten. Hin- und hergerissen zwischen ihren Bindungen an die Bürokraten und ihrer Arbeiterbasis, waren die KP und ihre Frontorganisationen nur zur Propaganda fähig, aber nicht zur Mobilisierung der Arbeiter.

 

 

Irland

Als im Sommer 1969 in Irland der bewaffnete Kampf ausbrach, war die KP nicht in der Lage, wirksam einzugreifen. Um das verstehen zu können, muß man die Geschichte des Kommunismus in Irland betrachten. Seit den vierziger Jahren gab es zwei KPs in Irland, womit die imperialistische Teilung der irischen Nation implizit anerkannt wurde. [19] Der Grund dafür war die Tatsache, daß Eire bei Kriegsausbruch neutral blieb, während der Norden nach dem Gesetz Teil einer kriegsführenden Macht war. Erst im März 1970 vereinigten sich die beiden Parteien, d.h. daß sie eher hinter den Erfordernissen des Kampfes herhinkten als die Führung zu übernehmen.

Der Opportunismus auf der organisatorischen Ebene spiegelte sich in einer unverhüllt reformistischen Politik wider. Im Januar 1965 trafen sieh die Ministerpräsidenten des Nordens und Südens, O’Neill und Lemass, in Belfast. Der Irish Socialist, Zeitschrift der (Süd-)irischen Arbeiterpartei, kommentierte:

Ganz gleich welche Absichten dahinterstecken – im Ergebnis muß das Treffen O'Neill-Lemass einen Beitrag zur Entspannung leisten, besonders zwischen den Menschen verschiedener politischer Überzeugungen und Religionen im Norden. Dieses Ergebnis und alle Schritte zu wirtschaftlicher Zusammenarbeit werden äußerst willkommen sein.

Eine solche Politik konnte kaum auf die Entwicklung nach dem 5. Oktober 1968 vorbereiten, als die katholische Bevölkerung im Norden beschloß, den Kampf der Protestanten zu erwidern. Obwohl die KP im Norden nicht stark war, verfügte sie über einigen Anhang und Einfluß in der Gewerkschaftsbewegung. Sie hatte bei der Bildung der Nordirischen Bürgerrechtsvereinigung Im Februar 1967 mitgearbeitet, die im Grund ein liberales Programm hatte (die Grundrechte aller Bürger zu definieren; die Rechte des Individuums zu schützen, jeden möglichen Machtmißbrauch herauszustellen; Garantien der Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zu fordern, die Öffentlichkeit über Ihre gesetzlichen Rechte zu informieren).

Aber als die Bürgerechtsbewegung im Oktober 1968 begann, über liberale Methoden hinauszugehen, bestand die Rolle der KP praktisch darin, zur Mäßigung zu raten.

Bis jetzt bleibt es unmöglich, genau einzuschätzen, wie groß der Einfluß der KP auf die IRA, besonders auf ihren offiziellen Flügel, ist. Klar ist, daß viele der letztlich reformistischen Ansichten der offiziellen IRA über die Etappen des Kampfes für die nationale Befreiung und den Sozialismus aus der stalinistischen Theorie stammen.

Eine wirklich marxistische Partei würde deutlich und konsequent die Position vertreten, daß die nationale Bewegung in Irland ohne den Sturz des Kapitalismus im Norden und Süden nicht zum Erfolg führen kann; daß die einzige Kraft, die dem antiimperialistischen Kampf eine konsequente Führung geben kann, die industrielle Arbeiterklasse ist; und daß folglich keine künstliche Unterscheidung zwischen dem Kampf für Selbstbestimmung und dem für die sozialistische Revolution gemacht werden kann. Die KP hat es in auffallender Weise versäumt, ihren Einfluß, wie stark oder schwach auch immer, zu benutzen, um für eine solche Politik zu kämpfen; das Ergebnis war, daß sie keine wirkliche Herausforderung für die existierende bürgerliche Führung der nationalen Bewegung darstellte, und dies nicht einmal zu wünschen schien.

Endgültig aufgegeben wurde der Internationalismus auf dem Parteitag der britischen KP im November 1971 – dem auch ein brüderlicher irischer Kommunist beiwohnte –, als die Delegierten auf den Rat der Parteiführung hin eine Resolution niederstimmten, die den Abzug der britischen Truppen aus Irland forderte.

 

 

Spanien

In Spanien hatte die KP nie mit der Volksfrontstrategie gebrochen, die zur Niederlage im Bürgerkrieg geführt hatte. Tatsächlich schien das Programm der „Nationalen Versöhnung“, das sie 1956 herausbrachte, zu implizieren, daß der Fehler der Volksfront der dreißiger Jahre darin bestand, daß sie nicht breit genug war:

Die Partei ist zu dem Schluß gekommen, daß die Situation im Kampf gegen die Diktatur jetzt reif ist für ein Abkommen zwischen Gruppen, die vor zwanzig Jahren in feindlichen Lagern gekämpft haben. Es gibt jetzt eine reale Möglichkeit, die Diktatur ohne einen neuen Bürgerkrieg zu überwinden. Diese Schlußfolgerungen haben die Partei dazu geführt, ihre Politik der „Nationalen Versöhnung“ zu verkünden. [20]

1962 griff Santiago Carillo, der Generalsekretär der Partei, Franco in einer Radioansprache aus Prag an, weil er nicht nationalistisch genug sei:

Trotz seiner gegenteiligen Erklärung schert sich Franco nicht im geringsten darum, ob die Armee ihr Prestige verliert. Weil es Franco in keiner Weise um die Integrität Spaniens geht, ist er emsig dabei, Spanien für amerikanische Dollar oder deutsche Mark zu verkaufen. [21]

Tatsächlich machten die wirtschaftliche Entwicklung Spaniens und seine wachsenden Bindungen an den US-Kapitalismus die Volksfrontstrategie noch unrealistischer, als sie während des Bürgerkriegs schon war. Es war offensichtlicher denn je, daß ein sozialistisches, sich auf die Arbeiterklasse stützendes Programm gebraucht wurde.

Wenn die KP das auch nicht erkannte – die Arbeiterklasse spürte es recht deutlich. Seit 1962, als eine massive Streikbewegung eine halbe Million Arbeiter erfaßte, hat die spanische Arbeiterklasse eine Reihe von großen Streiks durchgeführt, Mit den Arbeiterkommissionen schuf sie neue, illegale Organisationsformen, in denen die KP mitgearbeitet hat, obwohl sie oft hinter der Militanz der Klasse herhinkte.

In dieser Situation stellten die Verbindungen der KP zum Ostblock eine immer größere Schwierigkeit für sie dar. Die Partei war schon gegen die Invasion der Tschechoslowakei gewesen – 1968 versuchten Carillo und Dolores Ibarruri (die gefeierte Pasionaria des Bürgerkriegs) sich mit Suslow zu treffen, um ihn zu überzeugen, daß die tschechoslowakische Episode dem Anspruch der KP, die Demokratie zu vertreten, einen nicht wieder gut zu machenden Schaden zufügen würde.

Die wirkliche Krise kam im Januar 1970. Die Bergarbeiter in Asturien standen gerade in einem zähen Streik, als die Presse bekanntmachte, daß es keine Probleme gäbe, weil Schiffsladungen mit Kohle aus Polen unterwegs seien. Die Exekutive der KP schickte dem Zentralkomitee der Polnischen KP eine Botschaft, in der sie darauf drängte, diese Streikbrecherei zu verhindern. Sie bekam keine Antwort, und die Kohlelieferungen gingen weiter.

Im selben Jahr entwickelte sich die Lage zur offenen Spaltung. Eine Fraktion – darunter der bekannte Bürgerkriegs-Führer Enrique Lister – spaltete sich ab und veröffentlichte ihre eigene Version der Parteizeitung. Darin setzte sie sich für eine weitere bedingungslose Unterstützung Moskaus ein, wobei sie als Argumente u.a. die Popularität des Moskauer Zirkusses bei seinem kürzlichen Besuch in Spanien anführte. Carillo, unterstützt von La Pasionaria, trat für eine größere Unabhängigkeit von Moskau ein, nicht weil er irgendein Bedürfnis verspürte, mit dem Stalinismus zu brechen, sondern weil er sah, daß die Verbindung mit der Sowjetunion eine wachsende Belastung bei seinem Werben um liberale Verbündete war.

 

 

Finnland

Seit dem zweiten Weltkrieg zeichneten sich die skandinavischen Länder durch relativen sozialen Frieden aus, und der Faschismus war sicher kein Problem. Aber auch hier ist das Volksfrontkonzept der Kern der KP-Strategie gewesen. In Finnland, wo das Wahlbündnis der KP, die Volksdemokraten, bei den Parlamentswahlen ständig mehr als 20% der Stimmen bekam, erreichte die KP das, wonach ihre französischen und italienischen Bruderparteien vergeblich getrachtet hatten: sie trat 1966 in eine Regierungskoalition ein. Der Koalition gehörte auch die Zentrumspartei an, obwohl eine Koalition ausschließlich aus Parteien, die sich als Arbeiterparteien bezeichneten, möglich gewesen wäre. Die Hauptrolle der Regierung bestand darin, eine kapitalistische Planung zu entwickeln – mit der notwendigen Begleiterscheinung einer Einkommenspolitik. Die KP arbeitete entgegenkommenderweise ihr Programm von 1967 um und ersetzte die Worte „Diktatur des Proletariats“ durch den Ausdruck „Macht des arbeitenden Volkes“.

Schon 1968 wurden die Früchte der Volksfrontregierung sichtbar. Im Frühjahr 1968 lagen die Reallöhne der Arbeiter 3,1% unter dem Niveau des vorigen Jahres, die Aktionswerte waren um etwa 70% gestiegen und die Arbeitslosigkeit nahm stetig zu.

Die Folgen der Regierungsbeteiligung der KP führten zu einer Spaltung bei ihren Anhängern, die auf dem Parteitag im April 1969 offen ausbrach. Unglücklicherweise war das Programm der Opposition alles andere als einheitlich; während sie die Klassenkollaboration der Partei zu Recht kritisierte, griff sie gleichzeitig die Führung wegen ihrer Kritik an der sowjetischen Invasion der Tschechoslowakei an. Obwohl die Einheit der Partei gewahrt werden konnte, schränkte die Herauskristallisierung zweier antagonistischer Flügel die Bewegungsfreiheit der Führer ein.

Anfang 1971 gab es einen heftigen Konflikt in der Industrie, mit großen Streiks von Metall- und Bauarbeitern. Die Kommunisten in den Gewerkschaften kämpften gegen die Regierungspolitik des „stabilisierten Wachstums“ (d.h. einer Preis- und Einkommenspolitik), und schließlich war die KP gezwungen, gegen die Regierung zu stimmen. Darauf wurde eine neue Regierung ohne KP-Beteiligung gebildet. Die Früchte von fünf Jahren Regierungsbeteiligung waren in der Tat mager; aber es gab keine Anzeichen dafür, daß man irgendetwas gelernt hatte. Im Gegenteil erstarkte in der Folgezeit der Flügel der Partei, der eine ständige Regierungsbeteiligung befürwortete.

 

 

Australien

Die australische KP liefert ein interessantes Beispiel der möglichen Entwicklungen in einer Zeit, als der stalinistische Einheitsblock am Auseinanderbrechen war. Bis in die frühen sechziger Jahre war die australische KP unerschütterlich orthodox, und erst 1962, als eine prochinesische Fraktion sich abspaltete, erkannte die Partei das Warnzeichen, und ein „Liberalisierungs“prozeß kam in Gang.

Die Partei hatte einen gewissen Einfluß in der Gewerkschaftsbewegung; bei den Hafenarbeitern, Seeleuten und Bergarbeitern, und, in geringerem Maß, bei Technikern und Eisenbahnern. Durch Gewerkschaftsverbindungen hatte sie beträchtlichen Druck auf die australische Labour-Partei ausüben können. Trotzdem blieb die Partei relativ klein und isoliert und begann, sich Vorstellungen einer breiteren Front anzunähern. Im Programmentwurf für den Parteitag 1970 war das in die Forderung nach einer „Linkskoalition“ gekleidet, die eine Vielfalt von Strömungen zusammenbringen sollte:

Sie umfassen Kommunisten, den wachsenden linken Flügel der Labour-Partei, die Gewerkschaftsmilitanten, Organisationen der Studenten, Intellektuellen, Anarchisten, Liberale usw. Eine Koalition der Linken bedeutet gemeinsame Aktion und Zusammenarbeit dieser Gruppierungen in verschiedenen Formen, ist aber nicht auf sie beschränkt.

Eine solche Koalition, die echten gegenseitigen Respekt, Toleranz und Offenheit zwischen verschiedenen Gruppen und Parteien voraussetzt, wäre ein wichtiger Garant für die sozialistische Demokratie.

Dies sind weitestgehend Gefühle von untadeliger Frömmigkeit – aber der wesentliche Unterschied zu den übrigen KPs ist der, daß die KPA, anders als die meisten KPs, bereit ist, Verbündete auf ihrer Linken ebenso zu akzeptieren wie auf der Rechten. Das Innenleben der Partei hat sich geöffnet, und eine Reihe von „ketzerischen Denkern“ – Garaudy, Marcuse – sind diskutiert worden. Noch verblüffender ist die Tatsache, daß die Wochenzeitung der Partei einige Artikel gebracht hat, die mit dem Trotzkismus sympathisieren.

Die Partei hat stets eine unerschütterliche Opposition gegenüber der sowjetischen Politik In der Tschechoslowakei vertreten. Sie wurde deshalb nicht nur von der Moskauer Zeitschrift Neue Zeit am 1. Januar 1971 wegen Antisowjetismus angegriffen, sondern im Dezember 1971 hielten es einige Pro-Moskau-Mitglieder für notwendig, sich abzuspalten und eine moskautreue „Australische Sozialistische Partei“ zu bilden.

Die kritische Einstellung der Partei zu internationalen Fragen hat diese jedoch nicht zu einer umfassenden Kritik ihrer eigenen Politik geführt; sie hat nicht mit dem Sektierertum und der Volksfronttaktik in ihrer eigenen Geschichte gebrochen; es fällt ihr schwer, ihre eigenen Gewerkschaftsfunktionäre wirksam zu kontrollieren, und sie hat sich sowohl bei Studentendemonstrationen abseits gehalten als sich auch gegen „unbeschränkte Einwanderung“ gewandt.

Eine revolutionäre australische Zeitung schrieb kurz vor den Wahlen vom Dezember 1972:

Der Ausdruck „Arbeiterklasse“ scheint im Vokabular der KPA nicht vorzukommen. Der Schlüsselbegriff ist „Volksaktion“: die Gesellschaft soll vom „Volk“ gelenkt werden, – ein hübscher, sanfter Ausdruck, der die Realität der Klassengesellschaft und des Klassenkampfes umgeht.

In einer Zeit, in der die Militanz der Arbeiterklasse wächst und in der Revolutionäre wieder ein breites Echo bei den Arbeitern finden können, tendiert die KP dazu, sich in Bewegungen der Mittelklasse zu verstricken. Die Parteimitglieder sollten fordern, daß die Partei für eine konsequente revolutionäre Politik kämpft und sich wieder auf die Arbeit in der australischen Arbeiterklasse orientiert. Denn wenn der Rechtstrend nicht umgekehrt wird, wird er schließlich zu offenem Reformismus führen. [22]

Die australische KP mag ein Milieu sein, in dem sich revolutionäre Tendenzen entwickeln können, aber sie selbst ist unfähig, sich in eine revolutionäre Partei zu verwandeln.

 

 

Anmerkungen

1. France-Observateur, 1969

2. Zit. bei A. Kriegel: Les Communistes Français, Paris 1968, S.250

3. L’Humanité, vom 15. Juni 1968

4. L’Humanité, vom 3. Mai 1968

5. La Grève à Flins, Paris 1968, S.14

6. Vgl. Cahiers de Mai, 1, 1968

7. Partisans, 45. 1968, S.59

8. L’Humanité vom 10. Juli 1968

9. Vgl. Lutte Ouvrière, Nr.2, Juni 1968

10. Zit. in Paris May 1968, Solidarity-Broschüre, London 1968, S.6

11. L’Humanité vom 13. Juni 1968

12. Critica marxista, 5-6, 1963

13. Rinascita; zit. in Comment vom 10. August 1968

14. La Classe vom 13./14. August 1969, übersetzt in Italy 1969, 1970, London 1971, S.8-9

15. Zit. in Avanguardia Operaia, Nr.27, Juni 1972

16. Marxism Today, Mai 1959

17. Betty Reid: Diversions in the Fight for Peace, in: Comment vom 17. Februar 1968

18. A Murray: UCS – The Fight for the Right to Work, London 1971, S.11

19. So M. O’Riordan im World Marxist Review, Oktober 1970

20. Zit. in R. Miliband und J. Saville, (eds): The Socialist Register 1966, London 1966, S.71

21. ebenda, S.71

22. The Battler vom 17. November 1972

 


Zuletzt aktualisiert am 6.8.2001