Ian Birchall

 

Arbeiterbewegung und Parteiherrschaft

 

Teil IV. (Schlußfolgerungen)

14. Ergebnisse und Perspektiven

Die internationale kommunistische Bewegung Anfang der siebziger Jahre litt unter tiefen Brüchen und Konflikten. Das bedeutet jedoch nicht, daß die kommunistische Bewegung unmittelbar vor dem Zerfall steht. Die verschiedenen KPs haben immer noch eine enorme Widerstandskraft und werden nur dann zerstört werden, wenn eine wirkliche Alternative aufgebaut ist.

In einem anderen Sinn sind die kommunistischen Parteien jedoch ein Anachronismus. Der Form nach sind sie die Erben der Kommunistischen Internationale der zwanziger Jahre, aber dem Inhalt nach haben sie sich der reformistischen Politik der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg angepaßt. Darauf warf die Debatte ein bezeichnendes Licht, die 1965 zur Vorbereitung der Diskussion über Betriebsgruppen auf dem 29. Parteitag in der britischen KP stattfand. Ich zitiere hier nur zwei typische Beiträge:

Die Parole „Jede Fabrik eine Festung“ ist sehr gefährlich für unsere Partei. Sie impliziert die Revolution, während unsere gegenwärtige Politik einen solchen „Linksradikalismus“ ganz entschieden verwirft ... Löst alle Betriebsgruppen auf. (Ted Moore)

Laßt uns die Möglichkeit ins Auge fassen, daß uns mehr Betriebsgruppen einen Durchbruch bei den Gemeinderäten landauf, landab ermöglichen werden. (Dave Welsh) [1]

Betriebsgruppen sind die einer proletarischen Kampfpartei angemessene Organisationsform hier jedoch diskutieren beide Seiten in einer Weise, wie man sich gewöhnlich reformistische Politik vorstellt.

Ist gegenwärtig eine stalinistische Partei möglich? Die Antwort scheint „Nein“ zu sein, denn die Aufrechterhaltung stalinistischer Disziplin hängt von der Schaffung eines psychologischen Isolationsgefühls ab. Ein ehemaliger Kommunist hat das so ausgedrückt:

Du konntest aus einem Verein oder der üblichen Sorte Partei austreten, wenn deren Politik dir nicht länger zusagte; aber die kommunistische Partei war etwas vollkommen anderes; sie war die Vorhut des Proletariats, die Inkarnation des Willens der Geschichte selbst. Sobald Du einmal einen Schritt von ihrem Weg abgingst, warst Du „extra muros“ und nichts, was Du sagtest oder tatest, hatte noch die geringste Chance, ihren Lauf zu beeinflussen. [2]

Dieses Gefühl der Isolation hängt nicht einfach von der Unterdrückung durch die herrschende Klasse in Form von Folter, drohendem Tod usw. ab. Wenn dies auch – zeitweilig – in bestimmten westlichen Ländern verschwunden ist, ist es doch immer noch Bestandteil der täglichen Erfahrungen von Revolutionären in großen Teilen der Welt. Aber das Gefühl, daß jede Zickzackbewegung, jeder Ausschluß und Schauprozeß geschluckt werden muß, hängt vor allem von der Existenz eines konkreten Stücks Erde ab, wo der Kapitalismus gestürzt worden ist, von der Existenz einer lebendigen pragmatischen Rechtfertigung für jeden Exzeß. Ein Stalinismus ohne Mutterland ist unmöglich.

Aber in der Periode der „friedlichen Koexistenz“ ist die Vorstellung von der Sowjetunion als dem Mutterland einer revolutionären Kampforganisation eigentlich nur noch komisch. Als Kossygin 1966 Paris besuchte, erwiderte er einen von General de Gaulle ausgebrachten Trinkspruch: „Wir sehen in einem starken und unabhängigen Frankreich... den wichtigsten Faktor der internationalen und vor allem der europäischen Sicherheit.“ [3]Es wäre nur logisch gewesen, wenn die französischen Kommunisten daraufhin ihre Partei aufgelöst und sich um die Aufnahme bei den Gaullisten beworben hätten.

Als Nixon im September 1970 Italien besuchte, rief die italienische Partei ihre Mitglieder auf, gegen ihn zu demonstrieren. Und doch war Nixon gerade aus Jugoslawien herbeigeflogen, wo er von einer jubelnden Menge stürmisch begrüßt worden war.

Unitá war gezwungen, am 30. September 1972 folgendes Bravourstück besonders subtiler dialektischer Haarspalterei zu produzieren: „Nixon in Italien stellt eine Kriegsgefahr dar oder kann sie darstellen. Nixon in einem sozialistischen Land repräsentiert eine Friedenshoffnung.“

Das Protokoll der Konferenz der europäischen KPs in Karlovy Vary vom April 1967 berührt noch grundlegendere Dinge, wenn es erklärt:

Es ist oft gesagt worden, daß die Aktionseinheit von Kommunisten und Sozialisten einen Wendepunkt in der ganzen politischen Situation in Westeuropa garantieren und ein starkes Bollwerk gegen die Kräfte der Reaktion und Aggression errichten könnte, Deshalb mißt die KPdSU der Politik der Bruderparteien, die auf die Überwindung der Spaltung in der Arbeiterklasse zielt, großen Wert bei.

Was das bedeutete, ist klar: Die Spaltung, die Ende des Ersten Weltkriegs in der internationalen Arbeiterbewegung zwischen Reformisten und Revolutionären stattfand, aus der die Kommunistische Internationale geboren wurde, ist jetzt überholt und unnötig.

Im Lichte der verschiedenen mißglückten Versuche, nach den tschechoslowakischen Ereignissen von 1968 konkurrierende prosowjetische Parteien aufzubauen, wird noch klarer, worum es geht. Obwohl Moskau sicherlich einige Anstrengungen darauf verwandte, die Positionen, welche verschiedene Parteien bezogen, rückgängig zu machen, konnte es seinen einzigen Erfolg im Fall Österreichs verbuchen, welches als Tor zu Osteuropa besonders empfindlich ist, und daneben in bestimmten illegalen Parteien, deren Apparate in Osteuropa untergebracht sind.

In bezug auf ihre Perspektive, ihre Aktivität und ihre Anhängerschaft werden die KPs zunehmend zu sozialdemokratischen Parteien im klassischen Sinn.

Obwohl die KPs auf der rhetorischen Ebene in vielen Fällen eine gewisse Bindung an revolutionäre Perspektiven beibehalten (ein Zug, den sie mit den sozialdemokratischen Parteien vor 1914 gemein haben), haben einige ihrer Sprecher die reformistische Perspektive explizit ausgesprochen. In seinem Testament schrieb Togliatti:

Man muß die Frage stellen, ob es nicht möglich ist, daß die Arbeiterklasse die Machtpositionen innerhalb eines Staates erobert, der seine bürgerliche Natur nicht geändert hat, und ob es demgemäß nicht möglich ist, für seine fortschrittliche Umwandlung von innen her zu kämpfen.

Und in einer kürzlich erschienenen Broschüre der britischen KP lautet die Argumentation:

Wenn das Parlament mehrheitlich mit Vertretern der Arbeiterklasse besetzt wäre, die von einer machtvollen vereinigten Bewegung von Männern und Frauen aus KP und Labour-Party dorthin geschickt wären, welche auf der Organisation und Macht der Arbeiterklasse basierte... dann hätten wir sicher ein ganz anderes Parlament, eines, das mit drastischen Veränderungen beginnen könnte.

Das Parlament wäre unter diesen Bedingungen in der Lage, als das oberste Organ der repräsentativen Macht zu handeln – und die Macht, in deren Namen es handeln würde, wäre die des arbeitenden Volkes. [4]

Organisation und Aktivität. der KPs wurde dem sozialdemokratischen Stil immer ähnlicher, sie wurden Parteien nicht von, sondern für Arbeiter. Während sowohl die französische wie die italienische KP weiter den Großteil der Arbeiterstimmen bekommen, sogar die der fortgeschrittensten und bestgestellten Teile der Klasse, spielen Arbeiter in der tagtäglichen Arbeit der Partei immer weniger eine Rolle; das sozialdemokratische Mitgliedschaftskonzept, das eine passive Bindung durch das Entrichten von Mitgliedsbeiträgen mit sich bringt (wenn sich ein Eintreiber findet), herrscht vor.

Das wird deutlich, wenn man die Parteipresse betrachtet. In Frankreich zum Beispiel wird L’Humanité nur von einem Teil der Parteimitglieder gelesen – in Saint-Dizier gibt es 200 Mitglieder, aber es werden nur 80 Exemplare der Zeitung verkauft; in Haute-Marne brachte eine Propagandakampagne für die Zeitung 21 neue Leser, von denen 20 schon Parteimitglieder waren. Im Juni 1972 war die gesamte verkaufte Auflage von L’Humanité auf 160.000 gesunken, und die Zeitung mußte ihren Mitarbeiterstab verkleinern. Auf dem KP-Parteitag im Dezember 1972 blieb dem Herausgeber der Zeitung nur noch die melancholische Feststellung:

Es ist schwer zu verstehen, warum einige der Parteimitglieder L’Humanité nicht oder nur von Zeit zu Zeit lesen, und wie es ihnen in diesem Fall möglich ist, ihre Arbeit in den Gemeinden und Fabriken erfolgreich durchzuführen. [5]

In England ergibt sich ein ähnliches Bild, obwohl die Partei viel kleiner ist. John Gollan fordert in seinem Bericht an die KP-Exekutive über die Aufgaben für 1973 eine große Verkaufskampagne für den Morning Star, „in der jede Ortsgruppe einen Star-Organisator hat und darauf achtet, daß jedes Mitglied die Parteizeitung liest.“ [6] Zu einer Zeit, in der einige der größten Kämpfe seit Jahren stattfanden, war es also das bescheidene Ziel der Partei, sicherzustellen, daß alle ihre Mitglieder die Tageszeitung der Partei lasen.

Die reformistische Praxis der KP hat ihr seit den fünfziger Jahren zunehmend die Unterstützung von Reformisten eingebracht: Das hat zur Folge, daß die gewöhnlich in der revolutionären Linken vertretene Ansicht, daß nämlich die Mitglieder der KPs Revolutionäre seien, die nur von verräterischen Führern zurückgehalten werden, immer irreführender wird. Wenn Leute die KPs unterstützen und ihnen beitreten, weil sie sie für reformistische Organisationen halten, dann wird es wenig bewirken, diese als nicht-revolutionär „bloßzustellen“. Um den Reformismus zu besiegen, ist ein viel längerer theoretischer und praktischer Kampf erforderlich.

Eduard Bernstein, der theoretische Pionier des Reformismus, beschrieb seinen Beitrag als

die starke Betonung dessen, was man in Deutschland Gegenwartsarbeit nennt – die Alltagsarbeit der Sozialistischen Partei – jenes Pflügen des Ackers, das viele als bloße Flickschusterei ansehen, verglichen mit der großen kommenden Erhebung, und von der folglich vieles nur halbherzig getan wurde. Da ich überhaupt nicht an Endziele glaube, kann ich auch nicht an ein Endziel des Sozialismus glauben. [7]

Dies faßt haargenau die Praxis der modernen KPs zusammen. KP-Mitglieder sind nicht nur in Gewerkschaften und Gemeinden aktiv, sondern auch in solchen „Ackerfurchen“ wie Genossenschaften und Komitees zur Krebsbekämpfung – Gebiete, auf denen Revolutionäre zwar arbeiten können, als Mittel, um indirekt für ihre Politik zu kämpfen, die aber allzu leicht zum Selbstzweck werden.

Vor allem wurde die Strategie auf parlamentarische Politik ausgerichtet – selbst von Parteien wie der britischen, die keinen einzigen Abgeordneten im Parlament haben. Sogar Massenaktionen wie die Streiks von 1947 in Frankreich wurden nicht in erster Linie als Beginn eines Kampfes um die Macht betrachtet, sondern als Mittel, um Druck auszuüben für eine Rückkehr der KP in die Regierung. 1958 schrieb Waldeck-Rochet einen Artikel, in dem er die „Unterschätzung der parlamentarischen Arbeit, die ein integrierender Bestandteil der allgemeinen Aktivität der Partei sein sollte“ beklagt [8] und immer wieder sind ähnliche Ermahnungen vorgebracht worden.

Und doch bietet die parlamentarische Arbeit aufgrund ihres eigenen Charakters den KPs keine Zukunftsperspektive. Der parlamentarische Prozeß isoliert die Gewählten von den Wählern, wie Robert de Jouvenel gesagt hat: „Es gibt mehr Gemeinsamkeiten zwischen zwei Abgeordneten, von denen einer Revolutionär ist, als zwischen zwei Revolutionären, von denen einer Abgeordneter ist.“ Oder mit den Worten eines französischen KP-Abgeordneten:

Als ich vor 22 Jahren zum ersten Mal gewählt wurde und in die Nationalversammlung kam, stellte sich bei mir eine instinktive Reaktion ein. Beim schulterklopfenden Umgang mit den Politikern der Bourgeoisie, unseren Todfeinden, sträubte sich mein Haar. Dann dachte ich darüber nach. Ich begriff, daß das Parlament nicht die Arena physischer Auseinandersetzungen, sondern des politischen Kampfes ist. [9]

Aber über die allgemeine Tatsache hinaus, daß das Parlament aufgrund seines Anspruchs, quer durch jegliche Klassentrennung hindurch alle zu repräsentieren – den Klassenkonflikt verschleiert, ist nicht zu leugnen, daß gegenwärtig die parlamentarischen Institutionen, auch nach ihren eigenen Maßstäben, im Niedergang begriffen sind. Die internationale Atomdiplomatie, das Wachstum der multinationalen Gesellschaften mit ihrer Macht, Entscheidungen zu treffen, die die ganze Entwicklung einer Nationalwirtschaft beeinflussen, bedeuten, daß das Parlament immer mehr zur Bedeutungslosigkeit verurteilt wird. Sogar da, wo die KPs den parlamentarischen Weg mit einigem Erfolg einschlagen, verdammen sie sich selbst zu anhaltender Impotenz und bereiten den Boden für noch mehr Frustration, Demoralisierung und Spaltung bei ihren Mitgliedern.

Einige glauben, daß die logische Schlußfolgerung für Kommunisten gegenwärtig die ist, ihre Organisationen ganz aufzulösen. Dieser Logik folgte Earl Browder von der KPUSA bereits Ende des Zweiten Weltkriegs, einer Logik, welche die übrige Bewegung zu verdammen sich beeilte. Aber die Zeiten haben sich geändert – wie Browder selbst 1960 bemerkte: „Chruschtschow hat jetzt die ‚Ketzerei‘ übernommen, deretwegen ich 1945 aus der kommunistischen Partei flog.“ [10]

1967 beschloß die schwedische KP, sich in „Linke Partei (Kommunisten)“ umzubenennen, als würde diese Namensänderung auf magische Weise die dunklen Mächte des Antikommunismus austreiben.

Das Programm der britischen KP, Der britische Weg zum Sozialismus, erklärt: „Im Gegensatz zu Vorstellungen, die einige Labour-Führer ausgestreut haben, ist es nicht das Ziel der KP, die Labour-Partei zu unterminieren, zu schwächen oder zu spalten.“

Man könnte es einem unschuldigen Leser nicht verdenken, wenn er fragen würde, warum die KP dann überhaupt existiert. Es ist kaum verwunderlich, daß seit den frühen fünfziger Jahren die Diskussionszeitschrift der britischen KP Briefe von Mitgliedern gebracht hat, die genau diese Frage stellen. Viele von ihnen beschließen, des Wartens auf eine Antwort der Führung überdrüssig, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, und treten einfach der Labour-Partei bei. Eine solche Entscheidung ermöglicht ihnen, Gemeinderäte zu werden (statt bloß vergeblich bei den Wahlen zu kandidieren), Gewerkschaftsposten zu erobern (die KP-Mitgliedern verschlossen sind) – und all das ohne Gewissensbisse, da alles, was sie tun, in Einklang mit der KP-Politik steht.

In Italien wurde die Idee, die Partei aufzulösen, gründlich erwogen. Am 18. November 1964 schrieb Amendola einen Artikel in Rinascita, in dem er ausführt:

Ich glaube, daß es eine einzige Partei für die Arbeiterklasse in Italien geben sollte, weil ich folgende kritische Einschätzung für richtig halte: Keine der Lösungen, die der Arbeiterklasse in den westeuropäischen kapitalistischen Ländern in den vergangenen fünfzig Jahren von den Sozialdemokraten und den Kommunisten angeboten wurden, hat sich bis jetzt als fähig erwiesen, das System zu verändern und eine sozialistische Gesellschaft hervorzubringen. Wenn man dies nicht erkennt was sowohl eine selbstkritische wie eine kritische Einschätzung ist dann ist es auch nicht möglich, die Notwendigkeit eines radikalen Umschwungs zu verstehen, um die Ursachen zu überwinden, die während der letzten fünfzig Jahre die Arbeiterbewegung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern gehindert haben, einen entscheidenden Beitrag zum Fortschritt des Sozialismus in der ganzen Welt zu leisten... Eine politische Organisation, die ihre Ziele in einer Periode von fünfzig vollen Jahren, mit mindestens drei Generationen von Militanten, nicht erreicht, muß sich bemühen, einen anderen Weg zu finden, und zu einem Wandel bereit sein... Wenn es eine Wiedervereinigung geben soll, kann sie weder auf der Basis sozialdemokratischer noch auf der Basis kommunistischer Positionen stattfinden.

Die Existenz eines Apparates – besonders eines bürokratisierten – verleiht einer politischen Partei eine bestimmte Trägheit; und es ist wahrscheinlich, daß außer den kleinsten Parteien in naher Zukunft irgendeine der KPs im Westen den Schritt der Selbstauflösung vollziehen wird. Aber solange die Auflösung als plausible Strategie diskutiert wird, werden Einzelne weiterhin mit den Füßen abstimmen, und die KPs werden unter anhaltender Auszehrung leiden.

In diesem Zusammenhang kann man die Anziehungskraft des Maoismus auf unzufriedene Minderheiten innerhalb der KP’s verstehen. Die maoistischen Ideen haben ihren Ursprung in einer Nation, die sich bemüht, sich ohne die notwendigen Hilfsquellen zu industrialisieren; deshalb betonen sie den subjektiven Faktor, die Bedeutung von Wille und Anstrengung, und spielen die einschränkende Macht objektiver Faktoren herunter.

Der Maoismus zog diejenigen sehr stark an, die wegen der mangelnden Fortschritte der KPs ungeduldig waren; die es immer mehr satt hatten, Kompromisse und Rückzüge hinnehmen zu müssen, die als „realistisch“ oder „praktisch“ gerechtfertigt wurden. Die „Gedanken“ Maos, im wesentlichen Binsenwahrheiten, begannen eine Haltung zu symbolisieren, die mit dem Konservatismus des Parteiapparates brechen wollte. Die jeweilige chinesische Politik war von sehr zweitrangiger Bedeutung, woraus sich erklärt, daß die meisten Maoisten in der Lage gewesen sind, die Drehungen und Wendungen der chinesischen Führung ohne Schwierigkeiten zu akzeptieren.

Aber der Maoismus ist nicht imstande, eine angemessene Kritik der moskautreuen KPs zu leisten, weil er nicht fähig ist, eine historische Analyse dessen, was er Revisionismus nennt, zu geben. Mao und seine Kollegen, und ihre Anhänger in anderen Ländern, waren viele Jahre lang unlösbar mit der Politik Moskaus verbunden. Bis 1960 waren sie bereit, alle ihre Differenzen zuzudecken und eine gemeinsame Erklärung mit den sowjetischen Führern zu unterzeichnen. In ihrer Feindschaft gegenüber Chruschtschow und seinen Nachfolgern beschworen die Maoisten das Erbe Stalins.

Jedoch hatte die Politik, gegen die sie Einspruch erhoben, besonders die „friedliche Koexistenz“ und der parlamentarische Weg, ihren Ursprung größtenteils in der Periode, in der Stalin die Komintern beherrschte, und besonders in den Jahren der Volksfront.

Ähnlich argumentieren die Maoisten, daß die Sowjetunion jetzt von einer „monopolbürokratischen Klasse, nämlich einem neuen Typ von Großbourgeoisie“ regiert wird, und daß die sowjetische Wirtschaft eine „staatsmonopolistische kapitalistische Wirtschaft“ ist. [11] Aber sie haben keine Erklärung dafür, wie die ökonomischen Verhältnisse (im Unterschied zur Politik der Führung) sich in der Sowjetunion seit den Tagen Stalins, als die Sowjetunion „sozialistisch“ gewesen sein soll, verändert haben.

In einigen Parteien, auffallenderweise auch in der britischen, haben sich oppositionelle Flügel entwickelt, die stalinistisch sind, ohne maoistisch zu sein; während sie für eine Rückkehr zur stärkeren Bindung an den Betriebskampf wie in den frühen fünfziger Jahren eintreten, setzen sie sich gleichzeitig für eine größere Loyalität gegenüber Moskau in der Frage der Tschechoslowakei ein, usw. Auch in diesem Fall wird keine plausible historische Analyse angeboten. Viele andere Gruppen und Individuen haben versucht, Auswege aus der Sackgasse zu, finden; von diesen sollen zwei erwähnt werden, die eine bestimmte internationale Resonanz gefunden haben: Roger Garaudy in Frankreich und die Gruppe Il manifesto in Italien.

Auf den ersten Blick war Garaudy eine Figur, die nicht dazu angetan schien, als Rebell verstoßen zu werden. Viele Jahre lang war Garaudy der führende Intellektuelle der Partei, dessen Hauptarbeit darin bestand, jeden Intellektuellen außerhalb der Partei zu zerschmettern, der einen von der strikten Orthodoxie abweichenden Zugang zum Marxismus anstrebte. Sartre, Merleau-Ponty und viele andere wurden von ihm angeprangert. In den sechziger Jahren entdeckte die Partei jedoch, daß ihr enger intellektueller Horizont dem Gewinn von Stimmen aus der Mittelschicht im Wege stand, und Garaudy wurde auf einen neuen Kurs geschickt: er hatte zu zeigen, daß eine Vorliebe für Kafka oder moderne Malerei oder sogar eine Bindung an die Lehren der christlichen Kirche in keiner Weise dem liberalisierten Marxismus der französischen KP widersprach. Im Mai 1968, als klar wurde, daß die Partei sich durch den blinden Angriff auf die Studenten geschadet hatte, nahm Garaudy es auf sich, wieder eine Brücke zur Intelligenz zu schlagen:

Wir, die wir stolz darauf sind, einer revolutionären Partei anzugehören, begrüßen, weit entfernt davon, die Rolle von Klageweibern der Geschichte zu übernehmen, dieses menschliche Ferment freudig. [12]

In seinem 1969 veröffentlichten Buch Die große Wende des Sozialismus schien Garaudy sich jedoch seine neue Rolle zu Kopf steigen zu lassen. Er versuchte darin, eine neue Orientierung für die KP zu umreißen. Das Hauptziel müsse sein, einen Appell an die neuen Mittelschichten zu richten – die Techniker usw. – die er als ein Element von wachsender Bedeutung in der modernen Gesellschaft betrachtet.

Er beginnt mit dem Argument, daß neue technologische Entwicklungen eine neue Einstellung zum Management erfordern, fährt damit fort, daß er das jugoslawische System wegen der bedeutenden Rolle, die es den Experten und Ingenieuren zumißt, lobt und schließt mit der Beschwörung von Gramscis Begriff des „historischen Blocks“ als Grundlage für das Verständnis des notwendigen Bündnisses von Arbeitern und Mittelschicht.

Es findet sich auch nicht etwa eine grundlegende Infragestellung des Stalinismus. Der sozialistische Charakter der Sowjetunion – oder Chinas – wird nicht bezweifelt, und sogar die Unterdrückung der ungarischen Revolution wird immer noch als bedauerliche Notwendigkeit verteidigt. Aber der Stalinismus habe sich bestimmter Irrtümer schuldig gemacht, weil er die falschen Mittel für die richtigen Ziele eingesetzt habe, und deshalb müsse man bestimmte Aspekte sowjetischer Politik kritisieren. Garaudy trat hier in die Fußstapfen von einigen osteuropäischen „Liberalen“ der späten fünfziger Jahre. Auch sie hatten argumentiert, daß die Umwandlung der Produktionsverhältnisse nicht automatisch eine Umwandlung des menschlichen Verhaltens einschließt. Er sagte mit anderen Worten: Wir können bestimmte Übelstände kritisieren, manchmal recht scharf, aber wir stellen nicht in Frage, daß die Grundstruktur der Gesellschaft sozialistisch ist.

Einmal mehr lag dieses Abrücken von den Auswüchsen der sowjetischen Politik – z.B. Tschechoslowakei –, ohne die zugrundeliegenden Ursachen in Betracht zu ziehen, in der Logik der Strategie der französischen KP. Aber indem er diese Strategie zu ihrem logischen Schluß führte, stieß Garaudy mit dem Apparat zusammen. Als er die polnischen Kohletransporte nach Spanien und den Aufbau von sowjetischen Kraftwerken in Griechenland kritisierte, überschritt er die Grenzen der zulässigen Kritik, und seine Forderung nach freier Diskussion wurde für die Parteiführung unerträglich. Auf dem Parteitag im Februar 1970, den der brüderliche sowjetische Delegierte beglückwünschte, weil er den „Antisowjetismus“ vermieden hatte, wurde Garaudy isoliert (obwohl ihm erlaubt wurde, zu reden, um den Liberalismus der Partei unter Beweis zu stellen) und aus Zentralkomitee und Politbüro entfernt. Drei Monate später folgte sein Parteiausschluß. Garaudy repräsentierte trotz gelegentlicher Ausbrüche linker Rhetorik eindeutig eine rechte Abweichung. Die Manifesto-Gruppe, die 1969 aus der italienischen KP ausgeschlossen wurde, betrachtete sich selbst als linke Kritiker, und ihre Opposition ist nicht durch die Unaufrichtigkeit verunstaltet, die Garaudys Protesten zugrundeliegt. Ihre Kritik richtet sich hauptsächlich gegen den „Frontismus“ (d.h., die Volksfrontstrategie), die im Zentrum der Politik der italienischen KP gestanden hat; darüber hinaus haben sie die Vorstellung einer Reform der KP aufgegeben.

Aber während sie die Auswüchse des sektiererischen Maoismus vermieden hat, hat die Manifesto-Gruppe nicht mit der Bindung an das chinesische Modell gebrochen, das als Rekurs auf die Massenspontaneität durch die Chinesische Kommunistische Partei analysiert wird. Nach ihrer Einschätzung hat die chinesische Revolution, und besonders die Kulturrevolution, „die theoretische Fragestellung nach dem Verhältnis von Partei und Massen ... durch den Aufruf, sich permanent auf die Massen zu stützen, ersetzt.“ [13]

Der Versuch der Gruppe, diese „Massenlinie“ auf die Kämpfe der italienischen Arbeiterklasse von 1968-69 anzuwenden, war gröblich unrealistisch, da er die Kampfbereitschaft auf Betriebsebene mit revolutionärem Bewußtsein identifizierte. Ihr Hauptversuch, eine organisatorische Grundlage zu errichten, politische Komitees zu bilden in Verbindung mit einigen der spontaneistischen Gruppen, die in der italienischen Linken sprunghaft entstanden waren, scheiterte, weil die Mitglieder dieser Gruppen überwiegend kleinbürgerlich und äußerst unbeständig waren. Der Flirt der Gruppe mit den Gewerkschaften und ihre Unterstützung der von den Gewerkschaften beherrschten, 1969-70 geschaffenen Fabrikräte war ein Versuch, diesen vollkommenen Mangel einer Verankerung in der Arbeiterklasse auszugleichen, hatte aber keinerlei Auswirkung auf das Verhalten der Gewerkschaftsbürokraten.

Da die Verbindung der Manifesto-Gruppe zu den „Massenkämpfen“ schwach war, blieb nur die „theoretische Kühnheit“. Das bedeutete, daß die Gruppe zu einer bloßen Meinungsbewegung unter Intellektuellen wurde. Ihre 1970 gegründete Tageszeitung weist hinter der Fassade der Propagandakampagne reichhaltige theoretische Differenzen auf. Die wichtigste Taktik ihrer höchst erfolglosen Wahlkampagne von 1972, bei der der Star-Kandidat von Manifesto der eingesperrte Anarchist Valpreda war, bestand darin, die Gruppe von der übrigen Linken außerhalb der KP durch eine Flut von Beschimpfungen gegen die „Ultralinken“ abzusetzen, die kaum von der KP selbst übertroffen wurde.

Der Zerfall des stalinistischen Monoliths hat zu einer Vielfalt von kritischen Tendenzen geführt. Aber da, wo der KP-Apparat die Klasse oder einen Teil der Klasse im Griff hat, wird er sie in dieser Umklammerung halten, bis er endgültig zerbrochen wird. Solange reformistische Vorstellungen in der Arbeiterbewegung fortleben, ist die reformistische Politik keine Schwäche, sondern eine wirkliche Kraft, die ernstgenommen werden muß. Nur der Aufbau einer revolutionären Alternative kann die Zerstörung des Monoliths vollenden.

 

 

Anmerkungen

1. Comment vom 11. September u. 16. Oktober 1965

2. Arthur Koestler in R. Crossman (ed.): The God that Failed, London 1965, S.58

3. The Times vom 3. Dezember 1966

4. J. Woddis: Time to Change Course, London 1973, S.97

5. Le Monde vom 17./18. Dezember 1972

6. Comment, 27. Januar 1973

7. E. Bernstein: Evolutionary Socialism, New York 1961, S.XXII (Rückübersetzung aus dem Englischen – konnte nicht im Original verifiziert werden)

8. Cahiers du Communisme, 1968, S.317ff

9. Humanité Dimanche, 104, 1969

10. Harper’s Magazine, März 1960

11. Peking Rundschau vom 24. April 1970

12. L’Humanité vom 15. Mai 1968

13. R. Rossanda in: R. Miliband & J. Saville (eds): The Socialist Register 1970, London 1970

 


Zuletzt aktualisiert am 6.8.2001