Steve Wright

 

Trotzki und der Faschismus in Deutschland

(1989)


Ursprünglich Einleitung zu Leon Trotsky, Fascism, Stalinism and the United Front, Bookmarks, London 1989. [1*]
Übersetzung: Rosemarie Nünning.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für REDS – Die Roten.


Die Organisationen der deutschen Arbeiterklasse waren 1928 weltweit die stärksten. Fünf Millionen Arbeiter gehörten freien Gewerkschaften an, die dem wichtigsten Gewerkschaftsverband, dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB), angeschlossen waren. [1] Die Sozialdemokratische Partei (SPD) mit 1.021.000 Mitgliedern reichte mit ihren Massenzeitungen und 9.000 lokalen Organisationen weit in das Leben dieser Gewerkschafter. [2] Die Kommunistische Partei (KPD) konnte sich ebenfalls auf eine beachtliche Basis stützen, aber nur eine kleine Zahl ihrer 130.000 Mitglieder gehörte zu den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern: Hier behielt die SPD überwältigenden Einfluss. [3]

Die Sozialdemokratie stand für friedliche und legale Reformen; oberflächlich gesehen wirkten ihre Aussichten gut. Der deutsche Kapitalismus hatte sich nach den Umwälzungen von 1919 bis 1923 offensichtlich wieder stabilisiert, [4] und trotz der schweren Bürde der Reparationszahlungen für den Krieg schien die Ökonomie gesund und dynamisch zu sein. Nach einer scharfen Rezession 1925-26 kletterte die Industrieproduktion, gestützt durch die scheinbar unerschöpfliche amerikanische Finanzhilfe, weiter nach oben. Für die meisten Arbeiter schien sich die Strategie der Sozialdemokratie angesichts der Reformen, die unter diesen Umständen erreicht werden konnten, zu bestätigen. Für die deutschen Kapitalisten waren solche Konzessionen ein Preis – allerdings ein niedriger –, den sie für fortgesetzte (relative) soziale Harmonie zahlten. Extreme Mittel schienen nicht mehr notwendig zu sein. Adolf Hitler kontrollierte nur geringe Kräfte außerhalb Bayerns und wurde allgemein als grotesker Witz angesehen. Und wenn auch die Arbeiterklasse mehrheitlich noch nicht die Notwendigkeit für eine Revolution sah, wirkte sie doch in ihrer Defensivstellung uneinnehmbar.

Mitte 1933 lag dieses ganze Gebäude in Trümmern. Hitler war Reichskanzler, und die meisten Arbeiterführer – reformistisch und revolutionär, Bürokraten und Vertrauensleute – befanden sich in Konzentrationslagern. Die Nazis waren in ihrer Arbeit nicht behindert worden. Es hatte keinen koordinierten Widerstand gegeben.

Die Hauptursache für den Aufschwung des Nationalsozialismus war die internationale Wirtschaftskrise, die durch den Börsenzusammenbruch in den USA ausgelöst wurde. [5] In Deutschland vollzog sich dieser Prozess besonders gewaltsam und anarchisch, weil die Industrie- und Finanzkonzerne versuchten, die Rahmenbedingungen für Tarifverhandlungen, die in den Jahren 1924 bis 1928 erreicht worden waren, neu mit den Führern der Arbeiterbewegung zu verhandeln. In jenen Jahren der neuerlichen Stabilisierung gehörte es zur festen Praxis der Gewerkschaftsführer, sich an den Staat als Vermittler zwischen ihren Mitgliedern und den Unternehmern zu wenden. 1923 wurden Schlichtungskommissionen gebildet, zu gleichen Teilen zusammengesetzt aus Repräsentanten der Unternehmer und Gewerkschaften, um Konflikte bei „Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen“ zu lösen. Die Entscheidung dieser Kommission konnte jede Seite ablehnen, aber dann wurde der Fall an einen Staatsbeamten weitergeleitet, dessen Entscheidung verpflichtend und bindend war. 1927 wurden spezielle Arbeitsgerichte geschaffen – ebenfalls auf der Grundlage der Zusammenarbeit; Arbeitsämter wurden nach demselben Muster organisiert. Entsprechend verschmolz die Staatsmaschinerie mit dem Gewerkschaftsapparat, der außerdem an einer beeindruckenden Sammlung weiterer Unternehmungen beteiligt war. Franz Neumann beschrieb die Gesamtsituation folgendermaßen:

Die Gewerkschaftsbürokratie war weitaus mächtiger als die entsprechende Parteibürokratie [der SPD]. Nicht nur in den Gewerkschaften gab es viele Posten, sondern auch bei der Arbeiterbank, den Bau- und Grundstücksunternehmen, den gewerkschaftseigenen Druck- und Verlagshäusern, den gewerkschaftlichen Versicherungsgesellschaften ... und da waren unzählige staatliche Stellungen: in den Arbeitsgerichten, den Sozialversicherungsbehörden, der Organisation des Kohle- und Kalibergbaus, bei der Eisenbahn. Manche Gewerkschaftsfunktionäre nahmen fünf, sechs und sogar zehn Positionen gleichzeitig ein, oft politische und gewerkschaftliche Posten miteinander verquickend. [6]

Neumann begriff, dass die geistige Welt der Gewerkschaftsführer, ihre „psychologische Abhängigkeitshaltung, die vor dem Streik zurückschreckt“, aus den materiellen Wurzeln dieser verzweigten Bürokratie erwuchs. Die sehr enge Beziehung zwischen Gewerkschafts- und SPD-Bürokratie führte nicht unbedingt zu identischen Reaktionen auf bestimmte Ereignisse. Aber beide teilten ein tiefes Grundvertrauen in die Möglichkeit des friedlichen Fortschritts innerhalb der legalen und verfassungsmäßigen Struktur, die den Rahmen auch für ihren Apparat bildete. Als Beweis für die Richtigkeit dieser Strategie konnten sie 1928 auf Verbesserungen in Wohnungsbau, Ausbildung und Sozialgesetzgebung verweisen. Aber die international um sich greifende Krise in den folgenden Jahren zeigte ihren Bankrott.

Ende 1929 führte der Börsenzusammenbruch der Wall Street zu einem abrupten Abzug eines Großteils des ausländischen Kapitals, auf das die deutsche Ökonomie besonders angewiesen war, und zu einer scharfen Verengung des Welthandels mit katastrophalen Konsequenzen für Industrieexporte. Konkurse, Entlassungen und fallende Steuereinnahmen folgten. Die Möglichkeit, Vorteile durch Einhaltung der verfassungsmäßigen Spielregeln des Kapitalismus zu erringen, schwand. Aber die Ergebenheit der SPD-Führer galt der Verfassung selbst, nicht den Errungenschaften, die sie einst gestattete – und dieses Vertrauen blieb ungebrochen.

Die Regierungskrise im März 1930, als der Druck der Gewerkschaften das Müller-Kabinett [7] (eine Koalition, in der die SPD Hauptkraft war) daran hinderte, erhöhte Arbeitslosenbeiträge auf ihre Mitglieder abzuwälzen, war eine direkte Konsequenz der Wirtschaftskrise. Müllers Rücktritt war nur eine geringfügige Erschütterung, verglichen mit dem Erdbeben, das dann folgte, zeigte aber, dass die Sozialdemokratie als Regierungspartei nicht länger nützlich war: Das Ausmaß der Forderungen der herrschenden Klasse überstieg bei weitem ihre Fähigkeit, diese durchzusetzen. Sogar die bürgerlichen Zentrumsparteien waren nicht bereit, die Verantwortung für die Sparmaßnahmen zu übernehmen, die der deutsche Kapitalismus benötigte. Müllers Nachfolger Brüning [8] fand keine stabile Mehrheit im Reichstag und regierte zunehmend mit Notverordnungen.

Die Impotenz des Reichstags spiegelte die soziale Sackgasse wider und illustrierte die Unfähigkeit von Parlamenten, große soziale Fragen zu entscheiden; die fortgesetzte Verehrung des Reichstags durch die sozialdemokratische Partei drückte nur deren eigene Impotenz aus. In der Opposition konnte die SPD der direkten Verantwortung für die rüden Lohnsenkungen und Steuererhöhungen entkommen, die Brüning diktierte. Aber sie tat nichts, um sie zu verhindern. Stattdessen „tolerierte“ die SPD seine Regierung als „kleineres Übel“ im Vergleich zu Hitler.

Mitte 1931 drohte der Zusammenbruch der Danat-Kreditanstalt in Wien die Deutsche Bank in die Zahlungsunfähigkeit zu treiben. Die Finanzmittel der Regierung schrumpften. Steuereinnahmen sanken, während die Ausgaben für Arbeitslosengelder und Subventionen an Bauern und Industrielle stiegen. Wachsende Regierungsschulden bedrohten umgekehrt ihre Fähigkeit, das ganze Finanzsystem vor dem Kollaps zu schützen. [9] Weitere Sparmaßnahmen folgten, als die Krise jeden Bereich der nationalen Ökonomie erfasste. Die Arbeitslosigkeit, 1929 bei 1,3 Millionen, wuchs auf 3 Millionen im nächsten Jahr, 4,3 Millionen 1931 und 5,1 Millionen 1932 (jeweils September des Jahres), schließlich auf über 6 Millionen Anfang 1933. Angst vor den Kapitalisten und Angst davor, die Arbeiter zu Abwehraktionen zu rufen, ließen SPD und Gewerkschaften zu einer gesetzestreuen Hülle werden. Zu geschwächt, um nach vorne zu gehen, und zu stark verschanzt für einen Rückzug, waren die Arbeiterorganisationen gelähmt.

Weder die SPD noch irgendeine der anderen traditionellen Parteien der Weimarer Republik schien fähig zu sein, die Krise zu lösen. In einer Atmosphäre von wachsendem Chaos konnten die Naziparteien sich selbst den anschwellenden Reihen Verzweifelter und Desorientierter als Bewegung präsentieren, die hatte, was anderen fehlte: Energie und Mut, zu drastischen Lösungen zu greifen. Bei den Präsidentenwahlen im März/April 1932 gewann Hitler 32 Prozent der Stimmen. Er schlug jedoch mehrmalige Angebote zur Regierungsbeteiligung aus und widerstand dem Druck innerhalb der eigenen Partei, einen Putsch zu organisieren. Er schwor, dass sein Programm mit legalen Mitteln – im Rahmen der Verfassung – durchgesetzt würde. Bei den Reichstagswahlen im September erlitten die Nazis allerdings einen Rückschlag. Rudolf Hilferding, ein ehemaliger Marxist und Reichsfinanzminister bis 1930, kommentierte die Bedeutung dieses Ereignisses als „Untergang des Faschismus“:

Legalität ist [Hitlers] Verderben. Bei der zweiten Reichstagswahl verliert Hitler zwei Millionen Stimmen, der Nimbus der Unaufhaltsamkeit ist zerstört, der Abstieg hat begonnen. [10]

Die Nationalsozialisten aber sind in die Legalität gebannt ... [11]

Ein Jahr zuvor hatte Leo Trotzki vor den Fantasien von Hilferding und seinesgleichen gewarnt und erklärt, dass Hitlers scheinbare Bindung an verfassungsmäßiges Vorgehen einen wichtigen Zweck erfüllte:

Unter der Hülle der verfassungsmäßigen Perspektive, die den Gegner einschläfert, will Hitler sich die Möglichkeit wahren, den Schlag im geeigneten Moment zu führen. Diese Kriegslist, so einfach sie an und für sich auch ist, birgt doch eine gewaltige Kraft in sich, denn sie stützt sich nicht nur auf die Psychologie der Mittelparteien, die die Frage friedlich und legal lösen möchten, sondern, was viel gefährlicher ist, auf die Vertrauensseligkeit der Volksmassen. [12]

Hitler wurde am Ende desselben Monats, in dem Hilferding ihn abgeschrieben hatte, Kanzler. Er hatte dieses Ziel einzig und allein auf Grund der Passivität der Arbeiterorganisationen, unter denen die Sozialdemokratie politisch dominierte, erreicht. Aber wie war es möglich, dass Millionen von sozialdemokratischen Arbeitern bis zum Schluss an ihre verheerend schwachen Führer glaubten? Schließlich gab es eine starke kommunistische Alternative: die KPD, die deutsche Sektion der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale. In ihren Reihen waren die fortschrittlichsten und militantesten Arbeiter, und sie behauptete, in der bolschewistischen Tradition zu stehen. Diese Tradition umfasste nicht nur die grundlegenden Prinzipien des revolutionären Internationalismus, sondern auch eine Fülle taktischer und strategischer Lehren, die nicht nur die Bolschewiki, sondern alle Sektionen der Internationale in ihren ersten Jahren zu lernen hatten.

Benito Mussolini hatte 1922 die Kontrolle in Rom übernommen. Die kurz zuvor gegründete Kommunistische Partei Italiens (KPI) wurde von Amadeo Bordiga geführt – einem unnachgiebigen und dogmatischen Ultralinken. Sie lehnte prinzipiell jede Zusammenarbeit mit der Sozialistischen Partei ab. Dieser wichtige Fehler reflektierte jedoch letztendlich ihre Unerfahrenheit angesichts des explosionsartigen und verwirrenden Anwachsens des Faschismus, der damals noch ein rein italienisches Phänomen war. [13] 1929 stand die Kommunistische Partei Deutschlands nicht mehr vor solchen Schwierigkeiten. Mehr als ein Jahrzehnt von Aktivitäten unter unterschiedlichsten Bedingungen lag hinter ihr. Aus den Ereignissen in Italien konnten Lehren gezogen werden, und außerdem konnte sie sich ihre eigenen früheren Erfahrungen mit Faschismus in Erinnerung rufen. Denn einige Jahre vor dem endgültigen Sieg Mussolinis war es auch in Deutschland notwendig geworden, sich dem Problem zu stellen. Clara Zetkin, eine führende deutsche Kommunistin, hatte 1923 argumentiert:

Der Faszismus fragt nicht, ob der Arbeiter im Betriebe eine weiß-blau bayrisch angestrichene Seele hat, für die schwarz-rot-goldene Bourgeois-Republik oder für das rote Banner mit Sichel und Hammer schwärmt ... Ihm genügt, daß er einen klassenbewußten Proletarier vor sich hat, und den schlägt er nieder. Deshalb müssen sich die Arbeiter ohne Unterschied der Partei und der Gewerkschaftsorganisation zum Kampfe zusammenfinden. Der Selbstschutz des Proletariats gegen den Faszismus ist eine der stärksten Triebkräfte, die zum Zusammenschluß und zur Stärkung der proletarischen Einheitsfront führen muß. [14]

Faschismus war zu dieser Zeit nicht der Hauptfeind in Deutschland. Aber Zetkins Bemerkungen enthielten (auch für heute) die einzig angebrachte Antwort, wann immer er zu einer ernsthaften Bedrohung für die Arbeiterbewegung wird. Ab 1924 begann die Kommunistische Partei Italiens – jetzt unter der Führung Antonio Gramscis – unter extrem ungünstigeren Umständen diese Taktiken anzuwenden. Sie verstand, dass Faschismus eine spezifische Form der Reaktion ist, die alle Arbeiterorganisationen, auch die der Sozialdemokratie, zerschlagen will. 1926 war Mussolini in der Lage, diesen Prozess abzuschließen. Und zwei Jahre später konnte sich Togliatti, ein führender Kopf in der KPI, immer noch erinnern, was Faschismus hieß:

Er weist jeglichen Kompromiss mit der Sozialdemokratie zurück, hat sie hartnäckig verfolgt, hat ihr jede Möglichkeit einer legalen Existenz entzogen und sie zur Emigration gezwungen.

Aber im Februar 1930 war die Erfahrung dieser schrecklichen Niederlage völlig aus seinem Gedächtnis verschwunden:

Die italienische Sozialdemokratie faschisiert sich äußerst leicht. [15]

Jetzt waren – nach der neuen Linie der Kommunistischen Internationale – Faschismus und Sozialdemokratie nicht zu unterscheiden. Nach Stalins Verständnis „ist die Sozialdemokratie tatsächlich der gemäßigte Flügel des Faschismus“. Diese „Analyse“ zu wiederholen und in die Praxis umzusetzen, wurde zur Voraussetzung dafür, als kommunistischer Führer überleben zu können. Ihr Echo ging quer durch die Komintern, mit den schwerwiegendsten Folgen in Deutschland.

„Sozialfaschismus“ hieß, alle Erfahrungen aus der gemeinsamen Verteidigung bestehender Arbeiterorganisationen und die Erfolge, die an der Seite von Reformisten erkämpft worden waren, wenn diese durch reaktionäre Kräfte bedroht wurden, zu vergessen. Es bedeutete, die gemeinsame Verteidigung der russischen Sowjets gegen General Kornilow im August 1917 zu vergessen, durch die Lenins Partei zum ersten Mal Arbeitermacht auf die Tagesordnung setzen konnte; die Vorschläge für gemeinsame Aktionen gegen die Offensive der Bosse 1922-23 in Deutschland und anderswo zu vergessen; Zetkins Worte und die vieler anderer zu vergessen; die Erfahrungen aus Italien zu vergessen, wo alle Organisationen der Arbeiterklasse einen hohen Preis dafür zahlen mussten, dass sie die Einheitsfront zu spät bildeten. „Sozialfaschismus“ hieß mehr als Gedächtnisverlust. Marxismus, als Theorie von der Emanzipation der Arbeiterklasse, versucht, Sozialdemokratie und Faschismus durch Analyse ihres klassenmäßig völlig unterschiedlichen sozialen und politischen Inhalts zu verstehen. „Sozialfaschismus“ war deshalb kein einfacher taktischer Fehler, sondern stellte einen entscheidenden Bruch mit der Erfahrung – und der grundlegenden Methode – der Internationale dar.

Es war Trotzki, nicht die „offiziellen“ Marxisten, der der „Theorie“ vom Sozialfaschismus widerstand und in der Tradition der Kommunistischen Internationale blieb. Und nicht so sehr die unbestreitbare geistige Schärfe Trotzkis, sondern diese Fundgrube an Erfahrungen befähigte ihn, die Grundlagen seiner Faschismusanalyse und seine eindrucksvolle Darstellung der politischen Notwendigkeit einer Einheitsfront gegen Faschismus zusammenzufügen.

Es gibt keinen Zweifel, dass die neue Linie der Komintern ihren Ursprung in Russland hatte. Dahinter standen zwei miteinander verbundene Entwicklungen in den Interessen der Gruppe um Stalin. Erstens enthüllte die Niederlage des britischen Generalstreiks von 1926 und der chinesischen Revolution von 1927 den Verrat zweier „progressiver“ Verbündeter und beendete die Periode, in der Allianzen mit solchen Kräften mit Nutzen gepflegt werden konnten. Diese Niederlagen bereiteten auch den Boden für die aggressivere Haltung des britischen und französischen Imperialismus. Zweitens ermutigten die wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten innerhalb Russlands die Stalingruppe, zunächst zögernd eine Politik der Konfrontation gegenüber den Bauern einzuschlagen und die Versuche aufzugeben, ökonomische Hilfe vom Ausland zu sichern. [16]

Die neue Linie war kein Linksschwenk. Stalin gab „Sozialismus in einem Land“ nicht auf für eine internationalistische Politik, wie Trotzki und seine Unterstützer in der Linken Opposition gefordert hatten; das Scheitern der diplomatischen Freundschaften zu Führern der britischen Gewerkschaften und des chinesischen Nationalismus – welche von Trotzki so überzeugend kritisiert worden waren – wurde diplomatisch vertuscht. Die Linke Opposition war für Industrialisierung eingetreten, um die Möglichkeiten der Arbeiterklasse, Politik zu beeinflussen, zu stärken. Mitte der Zwanzigerjahre waren diese schon stark eingeschränkt, 1928 waren sie ausgelöscht.

Der russische Parteikongress im Dezember 1927 bestätigte den Ausschluss Trotzkis und offenbarte zum ersten Mal den Ruck hin zur neuen Linie. Stalin verkündete das Ende der „Zweiten Periode“, der kapitalistischen Neustabilisierung, und den Beginn des als Dritte Periode bekannt gewordenen „neuen revolutionären Aufschwungs“. [17] Dafür gab es allerdings nicht die geringsten Anzeichen. [18]

Die Bedeutung der neuen „Perspektive“ wurde klar, als die Kampagne zur Kollektivierung der Landwirtschaft und die Zwangsindustrialisierung in Schwung kamen: „Klasse gegen Klasse“ war eindeutig keine Strategie für die internationale Revolution, sondern spiegelte den Standpunkt der stalinistischen Bürokratie in ihrer Bewegung hin zu einer gewaltsamen und autarken nationalen Entwicklung wider. Dazu war ein Angriff auf die Massen der russischen Gesellschaft auf allen Ebenen erforderlich – ohne Rücksicht auf die Kräfte, die vielleicht versuchen würden, Widerstand gegen diese Offensive zu leisten oder auch nur ihr Tempo zu drosseln.

Der einzige verbliebene Flügel innerhalb der führenden Kreise der russischen Kommunistischen Partei, der Stalins Plänen hinderlich werden konnte, wurde von Bucharin geführt, dessen Unterstützer für die Fortsetzung der Kompromisspolitik gegenüber den besser gestellten Bauern und für die Erhaltung der Vermittlerrolle der Gewerkschaften eintraten. Beginnend mit dem Neunten Plenum des Exekutivkomitees der Komintern (Februar 1928) wurde lärmend der Ruf nach Säuberung von solchen einschränkenden Einflüssen in Russland wie auf internationaler Ebene geschürt. [19] Die Entdeckung der „anschwellenden revolutionären Kämpfe“ und die Enthüllung, dass Sozialdemokraten in Wirklichkeit „Faschisten“ seien, wurden zu den Hauptwaffen dieses lauten Geschreis. Wer dagegen auftrat, wurde als „weich“ gegenüber den Sozialdemokraten und damit als deren „objektiver“ Verbündeter angeprangert; jede realistische Einschätzung der aktuellen Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen war Feigheit oder Renegatentum. Das Ergebnis davon führte zur Katastrophe:

Extremer Verbalradikalismus ging Hand in Hand mit praktischer Passivität. Die kommunistischen Parteien isolierten sich selbst und brüllten dann wütend vom Spielfeldrand.

Das passte Stalin gut ins Konzept. Er brauchte die Parteien nach wie vor, aber hauptsächlich als Propaganda-Agenturen für die UdSSR. Aktive Politik, zum Beispiel die SPD für eine aggressivere Einheitsfront gegen Hitler zu gewinnen, trug das Risiko politischer Unruhen in sich. Das war das Letzte, was Stalin wollte. Seine Politik war konservativ: Vermeide ausländische Verwicklungen und damit die Gefahr ausländischer Einmischung. Die ultralinke Linie der Dritten Periode entsprach diesem Ziel ausgezeichnet. [20]

In Deutschland wurde die neue Linie durch den von der Komintern bevorzugten Parteiführer Thälmann rücksichtslos durchgesetzt. Auf dem Sechsten Weltkongress (Juli 1928), als Bucharin und seine Unterstützer immer noch hemmenden Einfluss ausübten, zeichnete er sich durch die Forderung aus, die Resolution, welche schon eine „Orientierung vollständig im Gegensatz zu den Sozialdemokraten“ betonte, solle „geschärft“ und stärker konzentriert werden auf das Entlarven der Rolle der linken Sozialdemokratie. [21] Von Dezember 1928 bis März 1929 wurde die Gruppe um Brandler und Thalheimer, die Bucharin nahe stand, gesprengt und vollständig aus der KPD gesäubert. [22] Beim Parteikongress im Juni war es unmöglich, eine kontroverse Meinung zu vertreten: Der einzige Delegierte, der das versuchte, wurde von der Rednerbühne gepfiffen, und Thälmanns Einsicht – er prangerte die SPD-Regierung als „eine besonders gefährliche Form der faschistischen Entwicklung, der Form des Sozialfaschismus“, an – bekam donnernden Applaus. [23]

Die SPD-Regierung war zweifellos fähig zu Aktionen gegen die Arbeiterklasse. Ihr preußischer Polizeichef Zörgiebel war berühmt-berüchtigt dafür, seine Polizeikräfte verteidigt zu haben, als sie 1929 eine 1.-Mai-Demonstration der KP angriffen und 25 Menschen töteten. Aber die Vorstellung der KPD, wie man sozialdemokratische Arbeiter gewinnen kann, deren Loyalität zu ihrer Partei durch solches Vorgehen auf die Probe gestellt wurde, war, sie als „kleine Zörgiebels“ zu beschimpfen:

Wir müssen die Reihen des Proletariats in Fabrik und Gewerkschaft schonungslos von allen verrotteten Elementen säubern. Wer zur SPD gehört, ist verdorben und muss gehen. [24]

KPD-Trupps stürzten sich in Straßenschlägereien mit Sozialdemokraten; KPD-Gewerkschafter zettelten schlecht vorbereitete Kämpfe an, die sie in die Isolation trieben und immer wieder zum Ausschluss aus sozialdemokratischen Gewerkschaften führten. Die KPD-Mitglieder wurden ermutigt, das als zweitrangig zu sehen: Die Führer waren im Bündnis mit dem bürgerlichen Staat. Unter Druck von Losowsky, Kopf der Gewerkschaftsabteilung der Komintern, wurden vom Frühjahr 1929 an die Unorganisierten und die Ausgeschlossenen, die „Rote“ Gewerkschaften gegründet hatten, als Hauptreservoir gesehen, von dem aus die anschwellende Flut der radikalisierten Arbeiter in die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO) strömen würde. Die Wirkung davon war zweifellos die Säuberung der organisierten Arbeiterklasse: von Revolutionären, die – obwohl entlassen von den Unternehmern und von Gewerkschaftsführern ausgeschlossen – in den Augen der Mehrheit der Arbeiter als Schläger und Spalter verurteilt waren.

Aber spielte die Gewerkschaftsbürokratie nicht tatsächlich die Rolle als Bremser und Verräter von Streiks? Und war sie nicht in zunehmendem Maße mit dem Staatsapparat verflochten? Leiteten die sozialdemokratischen Führer, wenn sie an der Regierungsmacht waren, etwa nicht repressive Maßnahmen ein, und verhielten sie sich etwa nicht passiv angesichts des schnellen Wachstums sowohl der Arbeitslosigkeit als auch der Nazis? Die Komintern hatte sicher Recht mit der Einschätzung ihrer Rolle als Wegbereiter für die Nazis. Trotzki selbst hatte hinsichtlich der reaktionären Rolle der Gewerkschaftsbürokraten keine Zweifel:

In den kapitalistischen Staaten kann man die monströsesten Formen des Bürokratismus gerade in den Gewerkschaften beobachten. Es genügt, nach Amerika, England und Deutschland zu blicken.

Und er fährt fort mit der Bemerkung über den Unsinn, die

... Gewerkschaftsorganisation und die Staatsorganisation einander gegenüberzustellen ... In England mehr als irgendwo sonst stützt sich der Staat auf den Rücken der Arbeiterklasse ... Der Mechanismus sieht so aus, dass die Bürokratie sich direkt über den Arbeitern aufbaut, und der Staat indirekt, über das Zwischenglied der Gewerkschaftsbürokratie. [25]

Aber sogar in Situationen, wo die Reformisten selbst eine Abspaltung organisiert hätten und die Mehrheit der organisierten Arbeiter unter revolutionärer Führung stünden, „versucht die kommunistische Partei in der Praxis jene Hindernisse zu reduzieren, vor die die Arbeiterbewegung durch eine organisatorische Spaltung gestellt wird“. [26]

Trotzki hatte ebenfalls keine Illusionen in die Rolle der SPD-Führer, „das Aufblühen des Faschismus vorzubereiten“. Er ging sogar weiter:

Zweifellos werden die Führer der Sozialdemokratie ... den Sieg des Faschismus letztlich dem revolutionären Sieg des Proletariats vorziehen. [27]

Warum dann solche Verräter zu einer Einheitsfront drängen? Warum sie nicht einfach als Sozialfaschisten denunzieren? Weil die sozialdemokratischen Führer – was auch immer ihre subjektiven Absichten oder Ansichten waren – an der Spitze einer politischen Partei standen, die organisch mit den stärksten Sektionen der deutschen Arbeiter verbunden war; ihr Einfluss war abhängig von der Weiterexistenz dieser Basis, auf deren Zerstörung die Nazis zielten. Vielleicht würden diese Führer zynischerweise ihren Frieden mit den Nazis schließen; vielleicht würden sie ihren Unterstützern versichern, dass die Polizei und Armee die Verfassung aufrechterhielten, dass Massenaktionen unnötig seien, und damit politischen und sogar buchstäblichen Selbstmord begehen. Aber das war nicht im Voraus entschieden: Es war abhängig von den Millionen Sozialdemokraten, für die es keine individuellen Lösungen gab. Denn auch wenn sie keine Revolutionäre waren, standen die Interessen dieser Massen mit ihrer Bindung an ihre gewerkschaftlichen Organisationen, die Zeitungen, Versammlungsräume und Klubs der sozialdemokratischen Welt in heftigem Widerspruch zu den Führern, die ihnen den Rücken kehren konnten und würden.

Aber würden die sozialdemokratischen Massen das rechtzeitig erkennen und handeln? Denn sie trauten der revolutionären Führung nicht und würden nicht unter ihrer Fahne marschieren. Könnten sie mobilisiert werden, und wenn ja, wie? Trotzkis Antwort war ein Ja, aber nur mit einer Methode: Wenn die Kommunistische Partei, die einzige Organisation mit genügend Kraft, die Entwicklungen zu beeinflussen, die Einheitsfront vorschlagen würde, eine Praxis für die gemeinsame Verteidigung von Arbeiterorganisationen.

Das Exekutivkomitee der Internationale hatte 1922 an seine französische Sektion geschrieben, um deren Scheitern beim Aufbau einer Einheitsfront zu kritisieren und zu erklären, wie und warum sie funktioniert. Die französische Partei, der eine starke Minderheit von Arbeitern die Treue hielt, hätte diesen Einfluss benutzen sollen, um weitere Schichten gegen die politische Unterdrückung eines Streiks in Le Havre zu mobilisieren. Sie hätte:

... einen direkten und öffentlichen Vorschlag an die Dissidenten [Sozialisten] für eine Konferenz richten sollen. Es gibt und kann kein rationales ernsthaftes Argument gegen solch einen Vorschlag geben. Und wenn durch den Einfluss der Situation und unter unserem Druck die Dissidenten einen halben Schritt im Interesse des Streiks nach vorne gegangen wären, hätten sie den Arbeitern einen wirklichen Dienst erwiesen und die Mehrheit der arbeitenden Massen, einschließlich jener, die den Dissidenten folgen, hätten verstanden, dass unser Druck ihnen diesen politischen Schritt ermöglichte. [28]

Dieser Vorschlag resultierte direkt aus den Grundprinzipien in den Thesen, die Trotzki selbst für die Exekutive der Komintern ausgearbeitet hatte:

Den Reformisten graut es vor dem revolutionären Potenzial der Massenbewegung; ihre bevorzugte Arena ist die parlamentarische Tribüne, das Gewerkschaftsbüro, die ministerialen Vorhallen. Wir dagegen sind – abgesehen von allen anderen Erwägungen – daran interessiert, die Reformisten aus ihren Zufluchtstätten zu zerren und sie vor den Augen der kämpfenden Massen neben uns zu stellen. [29]

Der Komintern war 1922 klar, dass dafür die Parole von der Einheitsfront „nur von unten“ „reiner Scholastizismus“ war. Es war unmöglich, „die organisierten Massen zu einem gemeinsamen Kampf aufzurufen, ohne in Verhandlungen mit denen zu treten, die von einem bestimmten Teil der Massen zu ihren Bevollmächtigten ernannt worden waren. Was in dieser Unnachgiebigkeit klar zu Tage tritt, ist politische Passivität ...“ [30]

In den Jahren von 1929 bis 1933 jedoch wucherte die „politische Passivität“: Thälmann griff Trotzki an, weil er „allen Ernstes ein gemeinsames Zusammengehen der Kommunisten mit den Mördern von Liebknecht und Rosa, ferner mit Herrn Zörgiebel“ will. [31]

Die spezifischen Bedingungen in Deutschland 1930 bis 1932 waren natürlich anders als 1922 in Frankreich. Aber der Hauptunterschied lag darin, dass das Ausmaß und die Gefährlichkeit der reaktionären Bedrohung, die die Einheitsfront notwendig machte, jetzt viel größer waren: Kommunistischen und sozialdemokratischen Organisationen drohte die Vernichtung. Für die Kommunisten war es als Erstes erforderlich, den sozialdemokratischen Unterstützern die Schwere der Bedrohung zu erklären, die viele schon fühlten, aber von ihren Führern einfach abgetan wurde, und zweitens praktische Zusammenarbeit zwischen den zwei Parteien vorzuschlagen, um die Gewerkschaften und politischen Organisationen der Arbeiterklasse zu verteidigen.

Das sollte kein Block sein, in dem die Kommunisten ihre Unabhängigkeit durch diplomatisches Schweigen über die Rolle der Sozialdemokratie opferten, sondern im Gegenteil: Trotzki sah die Einheitsfront haargenau so wie seinerzeit die Internationale – als eine höchst wirksame Methode der Kritik. Sollten die SPD-Führer gemeinsame Verteidigungsaktionen verweigern, würden sie in den Augen ihrer Unterstützer nicht nur als Nichtrevolutionäre dastehen, sondern als Verräter sogar an der Sozialdemokratie. Sollten sie zustimmen, würden sich ihre Illusionen in die Neutralität des Staatsapparates (und damit in die Bereitschaft der Polizei, die Verfassung gegen den Faschismus zu verteidigen) durch Widersprüchlichkeit und Halbherzigkeit im Kampf selbst entlarven. Deshalb könnte die Einheitsfront – vorausgesetzt die Kommunisten behielten ihre vollständige politische Unabhängigkeit und kritisierten jedes Schwanken und alle halbherzigen Schritte ihrer zeitweiligen Verbündeten – dabei helfen, eine starke Verteidigungsbewegung aufzubauen. In der weiteren Entwicklung könnte sie die reformistischen Methoden widerlegen und ersetzen und so den Boden für eine zukünftige Offensive der Arbeiterklasse bereiten, in der der Einfluss des Reformismus erheblich geschwächt sein würde.

Die Einheitsfront war somit eine Kampfmethode für den Einfluss innerhalb der Arbeiterklasse. Aber sie war kein Manöver: Gemeinsame Abwehraktionen lagen im Lebensinteresse aller Organisationen der Arbeiterklasse. Vorschläge zur Aufnahme solcher Aktionen mussten aufrichtig und wiederholt gemacht werden, nicht drohend – als Ultimaten, begleitet von heftigen Tiraden –, um dann genauso plötzlich zurückgezogen zu werden, wie es die reale Praxis der KPD bei den seltenen Gelegenheiten war, wo sie solche Vorschläge machte. Dieses Vorgehen diente den Sozialdemokraten lediglich als Entschuldigung für ihre eigene Untätigkeit, als Beweis, dass das Motiv der Kommunisten Sektierertum statt des ehrlichen Bedürfnisses nach gemeinsamer Aktion war. Der „bürokratische Ultimatismus“ der KPD erwuchs aus der Sozialfaschismustheorie, die ihre ganze Politik in der Zeit von 1929-33 bestimmte.

Das heißt nicht, dass die Politik der KPD in sich völlig geradlinig war. Die Parteizeitschrift vom März 1930 enthielt einen Artikel von Remmele, der die „großmäulige Prahlerei über die kleinsten Fortschritte und Erfolge“ angriff. Diese ungewohnte Bescheidenheit war eine Reaktion auf eine Kominternresolution des Vormonats, welche vor linken „revolutionären Phrasen“ warnte.

E.H. Carr erklärt dies so:

Es kann kaum purer Zufall gewesen sein, dass die Resolution ungefähr zur selben Zeit entworfen wurde wie Stalins berühmter Brief an die Partei „Kopfschwindel vom Erfolg“, in dem er aufrief, den überstürzten Kollektivierungsprozess zu stoppen, und „Leute, die sich selbst als ‚Linke’ sehen“, angriff ... [32]

Remmeles Artikel wandte sich auch dagegen, Faschisten und „Sozialfaschisten“ als eine reaktionäre Masse zu sehen (bei dem Gebrauch solcher Begriffe eine verständliche Abweichung) – was ein Fortschritt hätte sein können. Aber das zu Grunde liegende Bedürfnis, die richtigen Nazis zu schlagen, wurde von der KPD in den verzweifelten Versuch umgesetzt, sie in nationalistischer Demagogie zu übertreffen. Sie höhnte über den Anspruch der Nazis, „für die Befreiung des deutschen Volkes zu kämpfen“, und verdammte sie als „Agenten des französischen und polnischen Imperialismus“. [33] Solche Grotesken stärkten nur den Chauvinismus, aber dienten wiederum den Zielen Stalins, für den eine ausländische Intervention die Hauptgefahr darstellte. Und die Hauptquellen dieser Gefahr waren Großbritannien und Frankreich:

Folglich jubelte die Prawda nach den Wahlen von 1930 in Deutschland, dass der Erfolg der Nazis dem französischen Imperialismus „nicht wenige Schwierigkeiten“ bereiten werde. Ihr Denken wurde von der verzweifelten Hoffnung dominiert, dass eine extrem rechte Regierung in Deutschland prinzipiell antifranzösisch sein würde. [34]

Trotzki bezeichnete dieses Schlingern in den „Nationalbolschewismus“ (in Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland) als neuen Schwenk, als Abweichung von der Dritten Periode. Aus heutiger Sicht erscheint es als Fortsetzung derselben verheerenden Politik, nur mit Einführung eines weiteren Hindernisses, unter den sozialdemokratischen Arbeitern Zuhörer zu finden. Während dieses ganzen Zwischenspiels wurden die Angriffe auf den „Sozialfaschismus“ fortgesetzt. Diese Theorie isolierte die KPD von den sozialdemokratischen Arbeitern, entstellte systematisch, was Faschismus wirklich bedeutete, und entwaffnete damit den Widerstand gegen den Faschismus.

Trotzki sah Faschismus als politische Bewegung, die innerhalb des Monopolkapitalismus entsteht, der selbst in einer so akuten Krise ist, dass die normalen Methoden parlamentarischer Herrschaft keine Lösung mehr bieten und sogar die eingeschränktesten Möglichkeiten der Arbeiter, sich zu organisieren, von den großen Kapitalisten nicht hingenommen werden können. Das heißt nicht, wie viele Möchtegernkritiker des Marxismus unterstellen (und die Marxismus mit Stalinismus verwechseln), dass Hitlers Aufstieg einer kapitalistischen Konspiration zu verdanken ist. Trotzki begriff, dass Faschismus unterschieden werden muss von vielen anderen Formen der Reaktion, weil er sich als Massenbewegung, mit einer Basis in erster Linie in den mittleren Schichten der Gesellschaft, entwickelt: im städtischen und ländlichen Kleinbürgertum und in weiten Teilen des wachsenden Arbeitslosenheeres. Im Gegensatz zu den Großkapitalisten oder zu Gewerkschaftern haben diese geringe oder keine organisierte Macht, um die katastrophalen Auswirkungen der Krise abzuwehren.

Alle Anhaltspunkte zeigen, dass hier tatsächlich die sozialen Wurzeln für Hitlers Bewegung zu finden sind. Die Nazibewegung wuchs unverhältnismäßig in ländlichen Gebieten und kleinen Städten, wo das soziale Gewicht der organisierten Arbeiterklasse am geringsten war, und sie wuchs als verzweifelte Antwort auf das Elend, das die Wirtschaftskrise erzeugte. Das Ausmaß der Bankrotte auf dem Land nahm ab 1928 massiv zu (von durchschnittlich 31 in den Jahren 1925 bis 1927 auf 64 im Jahr 1928, 1929: 85, 1930: 94, 1931: 135 und 1932: 190). Broszat kommentiert diese Zahlen folgendermaßen:

[Dies] bereitete ... den Nährboden für die seit 1929/30 massiv einsetzende agrarpolitische Agitation der NSDAP ... Auf Grund der Agrarkrise wurde die NSDAP ... seit Sommer 1930 ... auf dem Lande schnell zur führenden agrarischen Parteibewegung ... In den Landkreisen Schleswig-Holsteins z. B. stieg der NSDAP-Anteil von 5,4 auf 35,1 Prozent ... [35]

[Sie gewannen überdurchschnittlich viele Stimmen] vor allem im mittel- und kleinstädtischen Milieu, und insbesondere dort, wo alteingesessener evangelischer, „national denkender“ Mittelstand in eine besonders scharfe politisch-soziale Konfrontation mit gleich starken Kräften der sozialdemokratisch-kommunistischen Arbeiterschaft geraten war und wo infolgedessen ausgeprägte bürgerliche Animositäten und gesellschaftliche und kulturelle Überfremdungsängste für die radikal-antimarxistischen Parolen der NSDAP einen besonders günstigen Nährboden abgaben. [36]

Im Gegensatz dazu erhielten die Nazis nur 15 Prozent der Stimmen in Berlin, mit dem „stärksten Stimmenanteil in den ‚gutbürgerlichen‘ Vierteln der Stadt“, [37] aber mit alarmierendem Wachstum in den Stadtvierteln, die am schlimmsten von Arbeitslosigkeit betroffen waren – wie Friedrichshain, wo die Nazi-SA mit der Kommunistischen Partei um die Kontrolle der Straßen kämpfte. In einem Bezirk in Sachsen, für den es Zahlen gibt, waren 61 Prozent der Nazimitglieder zwischen 18 und 30 Jahre alt, verglichen mit nur 19 Prozent bei der SPD. Wahrscheinlich war ein großer Teil davon arbeitslos. In den städtischen Gebieten bildeten junge Arbeitslose, Ladenbesitzer, Studenten und nicht organisierte Angestellte das Rückgrat der Naziorganisationen.

Der „Antikapitalismus“ von vielen aus diesen Schichten war echt und wurde von dem „linken“ Flügel der Nazis um Gregor Strasser formuliert, der Drohungen ausstieß, was er mit dem Finanzkapital zu tun gedachte. Dass sie Mitläufer der Nazis wurden, war nicht unvermeidlich, argumentierte Trotzki, sondern hing einzig und allein davon ab, ob die Arbeiterklasse eine Perspektive bot, das Elend der Krise zu beenden. [38] Das Scheitern der Arbeiterorganisationen, solch einen Ausweg aufzuzeigen, legte den Grundstein für die Übermacht der Nazis, die die Unzufriedenheit der Mittelschichten auf die Juden und die Arbeiterklasse selbst lenkten.

So wurde für den kleinen Händler das Großkapital nur zum Feind, soweit es jüdisch war, und er marschierte an der Seite der Nazibraunhemden, um die Schaufenster der jüdischen Warenhäuser einzuschlagen; für den verzweifelten arbeitslosen oder unorganisierten Arbeiter schien gewerkschaftliche Stärke, die nur die anderen schützt, Quelle seines Leidens zu sein, und er sammelte sich in Banden, um sozialdemokratische Veranstaltungen zu stürmen; für den Studenten galt es, die Niederlage der deutschen Nation von Versailles zu sühnen, nicht die der revolutionären Internationalisten von 1923; Kommunismus sahen sie als steriles und fremdes Glaubensbekenntnis, und Prügel für seine Anhänger schienen noch viel zu schade zu sein. Auf diese Weise zahlte die Arbeiterbewegung für ihre Fehler, als immer größere Teile ihrer möglichen Verbündeten sich gegen sie wandten.

Das dynamische Wachstum der Nazis wurde zur Quelle magnetischer Anziehung für die Unsicheren unter den Unzufriedenen. Im Januar 1931 erreichte die Mitgliedschaft der SA 100.000. Zu Beginn des folgenden Jahres waren es 300.000 und im Juli 1932 400.000. [39] Sie blieben nicht in ihren Kasernen. Alleine im Juli 1932 wurden 86 Menschen in „politischen Krawallen“ getötet. [40] In diesen Schlachten ging es um die Kontrolle der Straßen und Treffpunkte. Generell konnten die Nazis ihre Vormachtstellung in großindustriellen Gebieten mit Fabriken, Bergwerken oder Häfen erst nach 1933 durch massive Einschüchterung errichten – durch die Kräfte der „regulären“ Staatsmaschinerie zusammen mit den Kommandos der Braunhemden, die jetzt als ihre Hilfstruppen organisiert waren. Die Parteien der Arbeiterklasse erhielten bis 1933 13 Millionen Stimmen. Es war die Wählerbasis der liberalen Mittelschichten und gemäßigten Nationalisten, die den Nazis in die Arme fiel, während weniger als ein Prozent der Betriebsratsmitglieder Nazis waren – 710 von 138.418. [41]

Das Besondere des Faschismus war also die Mobilisierung von Massen zu einem gewalttätigen Feldzug gegen die Organisationen der Arbeiterklasse. Es war keine kapitalistische Konspiration, aber in vielen entscheidenden Momenten wurde Hitler sowohl durch das Großkapital als auch den Staat geholfen. Im April 1924 wegen seiner Beteiligung am „Bürgerbräu-Putsch“ in München zu fünf Jahren Haft verurteilt, wurde er nach knapp acht Monaten wieder entlassen. Andere führende Nazis wurden ebenfalls nachsichtig von den deutschen Gerichten behandelt, die es zuließen, dass sie von den Nazis als Bühne benutzt wurden: „Eine herrliche Propaganda für uns“, kommentierte Goebbels 1930 seine Geldstrafe von 800 Mark. [42] Obwohl von den Sozialdemokraten „kontrolliert“, war die Polizei häufig unfähig, gegen die Nazis vorzugehen, und zeigte zunehmend offen ihre Sympathien für die Nazis. Mitte 1932 wurde die Haltung der Armeeoffiziere mit der Formulierung zusammengefasst: „Welch eine Schande wäre es, auf diese großartige Jugend in der SA schießen zu müssen.“ [43]

Mit der schwindenden Bedeutung des Reichstags und der wachsenden Instabilität der bürgerlichen Regierung fiel der Armee die Schlüsselrolle zu. Unter den hochrangigen Offizieren war General Schleicher die einflussreichste politische Figur. Schleichers Absicht, die Nazis in eine Koalitionsregierung aufzunehmen, wurde durchkreuzt, als Hitler die angebotenen Bedingungen ablehnte, aber der General konnte im Ministerkabinett eine Sammlung von „aristokratischen Herren deutschnationaler Couleur“ zusammenbringen. Diese „waren entschlossen, vor allem mit den letzten sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Einflüssen, die Brüning noch berücksichtigt hatte, definitiv Schluss zu machen“. [44] Sie ergriffen Maßnahmen, um die preußische Regierung aufzulösen, nicht auf Grund einer abstrakten Bindung an Gesetz und Ordnung – in Wirklichkeit in Missachtung von Gesetz und Ordnung  –, sondern weil die Preußen zögerten, der Nazi-SA die Straßen vollständig zu überlassen, und weil sie „scheiterten“, die Polizei hinreichend gegen die KPD einzusetzen. Wilhelm von Gayl, der neue Reichsinnenminister, „erklärte am 11. Juli unumwunden, die preußischen Maßnahmen gegen die Kommunisten seien unzureichend, die gegen die Nationalsozialisten falsch oder unerwünscht“. [45] Nichts konnte den verfassungsgläubigen Idiotismus der SPD-Führung erschüttern. Es war erbärmlich, wie sie die Kontrolle der preußischen Polizeikräfte, auf die ihre Unterstützer hatten zählen sollen, abgab. Aber:

In allen deutschen Städten standen Formationen des Reichsbanners und der Eisernen Front bereit, putzten ihre Gewehre und warteten auf den Befehl zur Tat. Wenn es je einen Augenblick gegeben hatte, die Republik zu verteidigen: Am 20. Juli 1932 war er gekommen, als Herr von Papen die Exekutivgewalt in Preußen dem General von Rundstedt auslieferte. [46]

Die Sozialdemokraten mobilisierten weder diese Kräfte noch versuchten sie auch nur (was ohnehin im Voraus zum Scheitern verurteilt war), die Polizei zu mobilisieren. Die abgesetzte Regierung appellierte stattdessen an den preußischen Staatsgerichtshof in Leipzig, der natürlich ebenfalls nichts tat. Das Resultat war, dass fast überall in Preußen sozialdemokratische oder linksliberale Polizeipräsidenten oder Landräte durch konservative Angestellte ersetzt wurden. Martin Broszat schloss daraus: „Das Bollwerk der Republik war geschleift, schon ehe die Nationalsozialisten Anfang Februar 1933  ... das Kommando ... übernahmen.“ [47] Es stimmte, was Trotzki schrieb, „dass von der stolzen Weimarer Verfassung nichts als Haut und Knochen geblieben [sind]“. [48] Aber die Existenz oder Nichtexistenz von linken Polizisten und Staatsbediensteten war nicht entscheidend für die Frage, was an der Republik verteidigenswert war. Sie musste „vom Standpunkt der Arbeiterdemokratie“ aus beantwortet werden, wie Trotzki betonte. Die Passivität der Sozialdemokratie schwächte und demoralisierte die demokratischen Arbeiterorganisationen und stärkte die Kräfte – sowohl den Staatsapparat als auch die Nazis –, die gegen sie mobilisiert werden konnten und wurden. Dennoch lag die Zerstörung der Arbeiterdemokratie immer noch in der Zukunft.

In den letzten Etappen von Hitlers Machtaufstieg war finanzielle Unterstützung durch Unternehmer unentbehrlich, besonders nachdem die Wahlrückschläge Ende 1932 seine Parteikasse geschröpft hatten. Die Unterstützung der wichtigsten Teile des Großkapitals, der Großgrundbesitzer und der Armee kam, als die letzte und instabilste Regierungskoalition unter Schleicher selbst versucht hatte, die Subventionen für die Landbesitzer zu streichen. Schleicher hatte eine unabhängige Basis in der Armee, aber kaum eine außerhalb; wie Brüning und Papen versuchte er, eine soziale Kraft gegen die andere auszuspielen. Aber die Entscheidung zwischen ihnen konnte nicht lange aufgeschoben werden.

Als die Nazibewegung wuchs, brach in der KPD über ihre Einschätzung vollständige Verwirrung aus. Am 16. September 1930 hatte die Rote Fahne die Zunahme der Wählerstimmen für die Nazis von 800.000 auf 6,4 Millionen als „den Höhepunkt der nationalsozialistischen Bewegung“ eingeschätzt. [49] Aber sieben Wochen später erklärte die Zeitung genau das Gegenteil: „Die faschistische Diktatur droht nicht mehr, sondern ist bereits da.“ [50] Und falls doch nicht, dann, schrieb die Rote Fahne im März 1931, „gibt es in der Kommunistischen Partei keinen Menschen mit solchen Illusionen, dass im Bunde mit den Sozialfaschisten der Faschismus bekämpft werden kann“. [51] Wenn der Faschismus bereits an der Macht war, wenn ungeachtet dessen die KPD alleine nicht stark genug war, ihn an der Machtergreifung zu hindern, wenn sie die Nazis in fanatischem Nationalismus nicht überbieten und sie nicht gemeinsam mit der Sozialdemokratie schlagen konnte, dann blieb nur eine Möglichkeit: Hitlers Sieg war unvermeidlich und die Aufgabe der KPD war, das Unvermeidliche als einen Sieg der Revolution herauszustellen:

... wenn die Faschisten erst einmal an der Macht sind [man beachte, dass es nicht einmal mehr falls heißt], wird die Einheitsfront des Proletariats zu Stande kommen und wird alles wegfegen ... Die faschistischen Herrschaften schrecken uns nicht. Sie werden rascher abwirtschaften als jede andere Regierung. [52]

Das war hohles Geschwätz. Verwirrt und politisch gelähmt hatten die KPD-Führer sehr wohl Angst vor den faschistischen Herren (und mit Grund). Im Juni 1932 appellierte Thälmann im Namen der KPD an den „unbekannten SA-Soldaten“, der „revolutionären Freiheitsarmee gegen die Young- und deutschen Trustkapitalisten“ beizutreten. [53] Carr kommentiert: „In einer verzweifelten und verwirrenden Situation muss jeder Versuch gemacht werden, Menschen um sich zu scharen.“ [54] Die enorme Stimmenzahl für die Nazis im folgenden Monat (13,7 Millionen) wurde nicht berücksichtigt: „Wir sind die einzigen Sieger des 31. Juli“, verkündete Thälmann. [55] Es war eine Wiederholung der Einschätzung aus der Roten Fahne vom September 1930, und seitdem hatte sich die Wählerschaft der Nazis mehr als verdoppelt. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Thälmann von seinem Urteil selbst überzeugt war.

Es sei noch einmal daran erinnert, dass nach der nächsten Reihe von Wahlen, als die Stimmenzahl für die Nazis um zwei Millionen sank, Hilferding von der SPD den „Niedergang des Faschismus“ verkündete. Die KPD ihrerseits feierte den „Zerfall der faschistischen Massenbewegung“. [56] Die Feigheit der Führer beider Parteien, die sich weigerten, die Realität ehrlich wahrzunehmen oder irgendetwas Sinnvolles zu tun, war völlig symmetrisch. Am 30. Januar 1933 übernahm Hitler das Kanzleramt.

Sogar jetzt blieben die sozialdemokratischen Augen fest geschlossen: Weder sie noch die Gewerkschaftsführer waren zu einer Mobilisierung bereit, und auch niemand sonst, denn „undiszipliniertes Vorgehen einzelner Organisationen oder Gruppen, auf eigene Initiative hin, würde der gesamten Arbeiterklasse den größten Schaden zufügen“. [57] Nach der späteren Zeugenaussage des führenden Sozialdemokraten Severing bei den Nürnberger Prozessen versuchten inzwischen die obersten Spitzen der Partei besorgt, Zusicherungen der Armee einzuholen, dass diese die Verfassung verteidige. Es geschah nichts.

Während der letzten Kundgebung unter freiem Himmel, im Berliner Lustgarten, die den Sozialdemokraten erlaubt wurde, gab Otto Wels, der Vorsitzende der Partei, seine Einschätzung der Situation bekannt, indem er das tröstende Sprichwort zitierte: „Gestrenge Herren regieren nicht lange.“ [58]

Fritz Tarnow, Sozialdemokrat und Kopf der Holzarbeitergewerkschaft, hatte 1931 sein Zeichen in die Fußnoten der Geschichte gegraben, als er seine Partei befragte:

Nun stehen wir ... am Krankenlager des Kapitalismus ... als Arzt, der heilen will? Oder als fröhlicher Erbe, der das Ende nicht erwarten kann und am liebsten mit Gift noch etwas nachhelfen möchte? [59]

Vielleicht erwarteten einige Zuhörer Tarnows den frühen Tod des Patienten, aber ihre Führung strebte nach dem Status des Arztes, nachdem sie schon lange die Rolle des Scharfrichters aufgegeben hatte; für diesen Posten betrachtete sich das Zentralkomitee der KPD als einzigen Anwärter. Anfang der Dreißigerjahre standen beide als Besucher am Bett des tödlich kranken kapitalistischen Systems. Aber der Arzt kannte keine andere Medizin als Beschwörungsformeln – die ökonomische Situation wird sich verbessern, sagte Kautsky. Und der Henker hatte keine anderen Waffen als leere Drohungen: „Wir haben keine Angst vor den faschistischen Herren“, prahlte Remmele.

Inzwischen bauten die Nazis ihre chirurgischen Instrumente zusammen. In den Wochen nach Hitlers Ernennung zum Kanzler begannen sie, den verehrten Text der Weimarer Verfassung in Fetzen zu reißen. Am 22. Februar wurde eine Hilfspolizeitruppe von 50.000 Mann aufgebaut, mit 25.000 Mitgliedern der SA und 15.000 der SS. [60] Fünf Tage später begann die Massenverhaftung von Kommunisten, wobei der Reichstagsbrand als Vorwand diente. Die Wahlen vom März 1933 wurden benutzt, um die Autorität der Nazis zu stärken – mit allen nötigen Mitteln. „Sozialdemokratische Versammlungen wurden aufgelöst, Druckereien und Organisationszentren für die Wahlkampagne zerstört, um die SPD und ihre Wähler einzuschüchtern.“ [61] Einundfünfzig Gegner der Nazis wurden ermordet. Dennoch konnten die Nazis mit all den Mitteln der Staatsmacht, die ihnen zur Verfügung standen, nur 43 Prozent der Stimmen gewinnen; aber, wie Goebbels rief: „Was bedeuten jetzt Zahlen? Wir sind die Herren im Reich und in Preußen.“ [62] Kommunistische Abgeordnete wurden daran gehindert, ihre Sitze einzunehmen, und verhaftet, wo auch immer sie entdeckt wurden.

Am 21. März stimmte die SPD gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz. Sie war damit die einzige Partei, die ihre geliebte Verfassung verteidigte. Im April unterbreitete Kautsky seine eigene weise Einschätzung der Situation: Unterstützung für Hitler war eine „vorübergehende Laune“, besonders unter „politisch und ökonomisch unausgebildeten Jugendlichen“, und im Übrigen: „Einer entscheidenden Schlacht unter ungünstigen Bedingungen aus dem Weg zu gehen, ist keineswegs eine Kapitulation.“ [63] Hitler hatte wenig Respekt vor Kautskys scharfem, taktischem Verstand und sammelte seine Kräfte für die entscheidende Schlacht, in der die SPD wählen konnte, entweder Widerstand zu leisten oder schweigend niedergemetzelt zu werden, aber sie konnte nicht wählen, allem aus dem Weg zu gehen. In einem letzten kriminellen Akt des Verrats eilten die Gewerkschaftsführer, ihrem Henker zu schmeicheln:

Obgleich er [der Sieg des Nationalsozialismus] gewonnen wurde im Kampfe gegen eine Partei, die wir ebenfalls als Trägerin der sozialistischen Idee anzusehen gewohnt waren, ist es auch unser Sieg; denn heute steht die Aufgabe des Sozialismus vor der gesamten Nation. [64]

Der Anlass für diese widerwärtige Äußerung – von Walter Pahl in der offiziellen Gewerkschaftszeitung – war Hitlers schreckliche Parodie eines Aufmarsches zum 1. Mai; es ist unbekannt, was die Gewerkschafter, die von solchen Führern wie Pahl dorthin mobilisiert wurden, davon erwarteten. Aber am nächsten Tag wurden alle Gewerkschaftshäuser besetzt und die bekanntesten Führer verhaftet; am 12. Mai wurde das Gewerkschaftseigentum konfisziert und in den folgenden Monaten die SPD unterdrückt. Wie sah die Reaktion der KPD aus?

... das absolute Verschwinden der Sozialfaschisten aus dem Staatsapparat und die brutale Unterdrückung der sozialdemokratischen Organisationen und ihrer Presse [ändert] die Tatsache nicht, dass sie nach wie vor die Hauptstütze für die Kapitalsdiktatur darstellen. [65]

Im November organisierten die Nazis allgemeine Wahlen, in denen sie die einzigen Bewerber waren, und machten 92,2 Prozent aller Stimmen für sich geltend. Das Ergebnis, sagte die KPD, das Ergebnis repräsentiere „einen großen Sieg für Thälmanns Partei“ und „bestätigt die Richtigkeit der Erklärung, die das Zentralkomitee der deutschen Kommunistischen Partei bereits im Oktober abgegeben hat: dass ein neuer revolutionärer Aufschwung in Deutschland begonnen hat“. [66] Innerhalb von sechs Wochen nach diesem Kommentar befanden sich 130.000 deutsche Kommunisten in Konzentrationslagern.

Hitler verfügte inzwischen über einen ausgezeichneten Überwachungsapparat: Block- und Straßenwarte ergänzt durch die Aktivitäten der Nazizellen in den Betrieben und die nazifizierte Polizei, zerschlugen wiederholt die jetzt im Untergrund arbeitenden sozialistischen und kommunistischen Organisationen. Die Organisatoren selbst waren gezwungen, unter Decknamen zu leben, ständig ihre Schlafplätze zu wechseln, dem Hunger und der „Spitzelpsychose“ ausgeliefert, in ständiger Angst vor der Verhaftung. [67] Ein Überlebender erzählt, wie er während seines Verhörs bei der Gestapo mit der Hundepeitsche geprügelt wurde, bis jeder Teil seines Körpers blutete, und dann wurden die Wunden gepeitscht, bis er nicht mehr wusste, ob er bereits tot war; wie ein Genosse sich durch das Fenster im sechsten Stockwerk des Gestapo-Hauptquartiers in Berlin stürzte, weil der Tod weiterer Folter und dem unausweichlichen Verrat an anderen vorzuziehen war. [68]

Die deutschen Gewerkschaften wurden formell am 7. Dezember 1933 aufgelöst und durch die Deutsche Arbeitsfront ersetzt. Diese war vor allem ein Instrument zur Indoktrination; Arbeiter hatten Zwangsumsiedlungen zu erdulden, Zwangsschulung und Deportationen – vollständige Mobilität der Arbeitskräfte war das Ziel. [69] Betriebsräte wurden unterdrückt und ersetzt durch „Vertrauensräte“, deren Mitglieder über eine vom Unternehmer und dem Vorsitzenden der Nazibetriebszelle erstellte Liste zur Wahl gestellt wurden. Es wurde keine andere Liste zugelassen. Jede unabhängige Arbeiterorganisation wurde innerhalb weniger Monate ausradiert, ohne dass es zu irgendeinem organisierten Widerstand kam.

Die Katastrophe beschränkte sich nicht auf Deutschland, denn sie verschob die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen international: Im Februar 1934 konnte die extreme Rechte in Frankreich Daladiers Rücktritt und seine Ersetzung durch den reaktionären Doumergue erzwingen; im selben Monat wurden Wohnblocks der Arbeiter in Wien, stolzeste Errungenschaft des kommunalpolitischen Sozialismus, von der Artillerie der klerikal-faschistischen Dollfuß-Koalition bombardiert. In Spanien trat CEDA, die politische Vorhut des Francoismus, in die Regierung ein, und der Generalstreik, der als Protest dagegen ausgerufen wurde, beschränkte sich zunächst auf Asturien und wurde dann niedergeschlagen. Überall stärkten Energie und Selbstbewusstsein den Geist der reaktionärsten Kräfte; denn wenn die legendäre deutsche Arbeiterbewegung ohne jeden Kampf geschlagen werden konnte, um wie viel einfacher musste diese Aufgabe jetzt in anderen Ländern erscheinen.

Leo Trotzki konnte dieses tragische Ende nicht verhindern, das den Kurs der Weltgeschichte auf ein Gleis brachte, welches er mit geradezu hellseherischer Genauigkeit vorhergesagt hatte. Aber seine Arbeit bleibt bis heute bedeutend – nicht nur als historische Analyse, die kaum übertroffen wurde. Denn wenn der Kapitalismus als Teil seiner inneren Natur wieder auf eine Krise zusteuert, schafft er Bedingungen, in denen Faschismus wachsen kann. Nirgendwo ist der Faschismus die Hauptgefahr für die Arbeiterbewegung, aber der Aufstieg der Front National in Frankreich hat illustriert, dass solche Bewegungen keine historische Kuriosität oder Produkt „des deutschen Geistes“ sind. [70] Ein neuer Aufschwung erfordert sofortiges Handeln, das sich weitgehend auf das Verstehen der vergangenen Erfahrungen stützen muss; diese Erfahrungen sind nirgendwo eindringlicher und klarer analysiert als in Trotzkis Schriften über den Faschismus.

 

 

Anmerkungen

1. Nach Angaben von Hilda Greber, The History of the German Labour Movement, London 1969, S. 195, betrug 1931 die Mitgliedschaft in den katholischen Gewerkschaften 690.000.

2. Siehe Angaben in Franz Neumann, Behemoth, Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Frankfurt am Main 1988, S. 476.

3. Diese Zahl gilt für Ende 1928. Zit. in Ben Foulkes, Communism in Germany under the Weimar Republic, London 1984.

4. Siehe hierzu Chris Harman, Die verlorene Revolution, Deutschland 1918-23, Frankfurt am Main 1998.

5. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass der Börsenzusammenbruch die Krise vertiefte, aber nicht verursachte. Als er stattfand, war die Produktion in Deutschland bereits am Sinken. Siehe hierzu Chris Harman, Explaining the Crisis, London 1984, S. 61 f.

6. Neumann, S. 477.

7. Hermann Müller (SPD) war von 1928 bis 1930 Reichskanzler (d. Übers.).

8. Heinrich Brüning (katholische Zentrumspartei) war von März 1930 bis zu seiner Entlassung durch den Reichspräsidenten Hindenburg im Mai 1932 Reichskanzler (d. Übers.).

9. Auf dem Tiefpunkt der Depression von 1932 war die Industrieproduktion auf 61 Prozent des Standes von 1929 zurückgegangen; auf dem Höhepunkt der Krise waren 30,1 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos. Harold James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924-1936, Stuttgart 1988, S. 23 f.

10. Rudolf Hilferding, Zwischen den Entscheidungen, in: Die Gesellschaft, Nr. 1/33, Bd. 5, 1933, S. 4.

11. Ebd., S. 9.

12. Leo Trotzki, Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats, in: Helmut Dahmer, Hrsg., Leo Trotzki, Schriften über Deutschland, Bd. 1, Frankfurt am Main 1971, S. 277.

13. Siehe hierzu Angelo Tasca, Glauben, gehorchen, kämpfen, Aufstieg des Faschismus in Italien (1922), Wien o.J. Tasca war ein führender italienischer Kommunist der 20er Jahre, der auch unter dem Pseudonym A. Rossi schrieb. Sein Buch ist immer noch eines der informativsten zu diesem Thema. Der politische Standpunkt entspricht dem des Eurokommunisten A. Davidson in The Theory and Practice of Italian Communism (London 1982). Beide unterstützen „Einheitsfronten“ mit der Sozialdemokratie; beide denken, dass diese Politik bedeutet, entscheidende Differenzen zu ihr zu verwischen.

14. Rede in der Erweiterten Exekutive der Komintern, Juni 1923, in: Protokoll der Konferenz der erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1923, S. 231/32.

15. Zit. in: Leo Trotzki, Was nun?, S. 196.

16. Eine zusammenfassende Darstellung findet sich bei Chris Harman, Russland: Wie die Revolution scheiterte, Frankfurt 1989; detaillierter bei Michal Reimann, Die Geburt des Stalinismus, Frankfurt am Main 1979.

17. Die Idee, dass Stalin die Depression „vorhergesehen“ hatte, war in den 30er Jahren weit verbreitet unter denen, die ihm magische Kräfte zuschrieben. Heute ist in eurokommunistischen Kreisen ein neuer Aberglaube modern, während der alte unter den Verehrern von Mao Zedong weiterlebte. Nicos Poulantzas schrieb über die in dieser Hinsicht „beachtenswerte Weitsicht“ des Sechsten Kongresses der Komintern (siehe sein Buch Faschismus und Diktatur, München 1973). Aber, wie Ben Foulkes richtig über Varga – der Ökonom, auf den sich die Komintern stützte – anmerkt: „Er prophezeite jedes Jahr eine kapitalistische Krise; er musste früher oder später Recht bekommen. 1928 irrten Stalin und Varga sich. Für Varga mag das peinlich gewesen sein; Stalin war es gleichgültig. Die ökonomische Analyse wurde entwickelt, um die Ausschaltung der Rechten und den scharfen Schwenk nach links in der internationalen kommunistischen Strategie zu rechtfertigen.“ (Foulkes, S. 146).

18. Die 1928 zunehmenden Streikzahlen waren in keiner Hinsicht ein Zeichen für eine sich revolutionierende Massenbewegung. Wie Trotzki im Juli 1928 erklärt hatte: „Die Kommunistische Partei wächst genauso wie die Sozialdemokratie, aber ihr Wachstum vollzieht sich noch nicht direkt auf Kosten der letzteren ... bis jetzt ist die Strömung in Richtung auf die Sozialdemokratie stärker.“ Und noch einmal: „Kann man sagen, dass die Lage ‚immer (?) revolutionärer‘ wird, wenn die Sozialdemokratie, die führende Stütze des bürgerlichen Regimes, gestärkt wird?“ (Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Dortmund 1977, S. 35 und 34). In der Tat, obwohl die Stimmen für die KPD sich zwischen den Reichstagswahlen vom Dezember 1924 und Mai 1928 von 2,76 auf 3,26 Millionen erhöhten, wuchsen die Stimmen für die SPD von 7,88 auf 9,15 Millionen. Das Ergebnis war insofern ermutigend, als es die Stärkung beider Arbeiterparteien zeigte, aber es war weit entfernt von einem revolutionären Misstrauensvotum gegen die Republik. Die Mitgliedszahlen der KPD fielen dann tatsächlich von 130.000 Ende 1928 auf 112.000 Ende 1929.

19. Über die Dritte Periode und die Komintern siehe Duncan Hallas, Die rote Flut. Aufstieg und Niedergang der Kommunistischen Internationale, Frankfurt am Main 1996.

20. Ebd., S. 129.

21. Siehe Ernst Thälmann, Unter der Führung der Kommunistischen Internationale für den Sieg des Proletariats!, 26.7.1928, in: ders., Reden und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. I, Berlin (Dietz) 1958, S. 599-624.

22. Thalheimer entwickelte eine Theorie über den Faschismus, die zwar der der Komintern überlegen war, aber mehr von der Staatsmaschinerie statt der Arbeiterdemokratie ausging und deshalb notwendigerweise die Kontinuitäten betonte und weniger die entscheidenden Differenzen zwischen den bonapartistischen Vor-Hitler-Regimen und dem „endgültigen Produkt“. (Siehe August Thalheimer, Über den Faschismus, in: Wolfgang Abendroth, Hrsg., Faschismus und Kapitalismus, Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus, Frankfurt am Main 1976)

23. Zit. n. Foulkes, S. 154.

24. Rote Fahne, Zentralorgan der KPD, zit. n. Foulkes, S. 158.

25. Leo Trotzki, Die prinzipiellen Fehler des Syndikalismus (1929), in: Trotzki Schriften: Die Bedeutung der Arbeit in den Gewerkschaften im Kampf für die Revolution, Dortmund 1977, S. 110f.

26. The Trade Union Movement and the United Front (France), in: Trotsky, The First Five Years of the Communist International, New Park, London 1974, S. 100.

27. Trotzki, Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland, in: Schriften über Deutschland, Bd. 1, S. 93.

28. Letter to the Paris Convention, 13. September 1922, in: The First Five Years of the Communist International, S. 172.

29. Theses on the United Front, Ebd., S. 94-95.

30. Letter to the Paris Convention, Ebd., S. 168.

31. Ernst Thälmann, Schlusswort auf dem XII. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale vom 27.8.-15.9.1932; in: ders., Reden und Aufsätze 1930-1933, Bd. II, Köln 1975, S. 267. Die modernere stalinistische Politik musste sich eine kompliziertere Argumentation als die Thälmanns aneignen. Eurokommunisten müssen natürlich die „Dritte Periode“ verdammen, aber sie tun es ohne Ausnahme, indem sie ihr die Politik der Volksfront gegenüberstellen, die als Variante der Einheitsfront verteidigt wird. Es sollte klar sein, dass diese beiden Taktiken grundsätzlich in Zweck und Wirkung unterschiedlich sind. Die Einheitsfront war ein Bündnis gegen die Reaktion, die durch Massenkampf geschlagen werden sollte; sie gab nicht den Kampf gegen den Reformismus auf, sondern versuchte, seine Unterlegenheit in der Praxis zu beweisen. Die Volksfront war ebenfalls ein Bündnis gegen die Reaktion, aber sie zielte darauf ab, die grundsätzlichen Differenzen innerhalb des Bündnisses zuzudecken: Die unabhängige revolutionäre Politik wurde der Politik sowohl der Reformisten als auch der offen bürgerlichen Parteien (wie der Radikalen in Frankreich) untergeordnet. Die vorübergehende Verständigung über Aktionen wurde in einen politischen Block zur Konservierung der Vormachtstellung bürgerlicher Politik verwandelt. Eurokommunistische Kritiker von Trotzkis Angriff auf die Dritte Periode müssen die völlig entgegengesetzte Natur der beiden Fronten verbergen und müssen deshalb seine Sichtweise von beiden verfälschen. Als Beispiel siehe den Aufsatz von Monty Johnston in: Jim Firth (Hrsg.), Britain, Fascism and the Popular Front, London 1985.

32. E.H. Carr, The Twilight of the Comintern 1930-1935, London 1986, S. 12 (zu Stalins Brief siehe auch Isaac Deutscher, Stalin, eine politische Biographie, Berlin 1989, S. 425; d. Übers.).

33. Ebd., S. 24.

34. Hallas, S. 137.

35. Martin Broszat, Die Machtergreifung. Der Aufstieg der NSDAP und die Zerstörung der Weimarer Republik, München 1984, S. 99-100.

36. Ebd., S. 92.

37. Ebd., S. 42

38. Entsprechend auch K.D. Bracher, Die deutsche Diktatur, Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Berlin 1979, S. 172: „Freilich nicht einem Sozialismus, sondern dem Schutz des Kleinbesitzes vor den wachsenden Übergriffen des Großkapitals galten die Wünsche (des Mittelstands); das Bürgertum geriet entgegen den marxistischen Erwartungen nicht in den ideologischen Bereich des Sozialismus. Tatsächlich sind die desperaten Elemente des Mittelstands in Krisenzeiten geneigt, der faschistischen Parole zu folgen, die der Arbeiterschaft dagegen der kommunistischen.“ Im Allgemeinen tendieren die hoffnungslosen Elemente unter den Mittelschicht-Historikern dazu, politischen Kampf als etwas zu behandeln, das auf nichtssagende psychologische Quacksalberei reduziert werden kann; die Chance, dass sie irgendetwas lernen, kann völlig ausgeschlossen werden, es sei denn in Zeiten der Krise, wenn die Arbeiterklasse der Geschichte und ihren Agenten an die Kehle geht.

39. Nach Broszat, S. 147.

40. Alan Bullock, Hitler, a Study in Tyranny, London 1952, S. 193. Sein Gebrauch dieser Formulierung mit der weiteren Bedeutung von Willkür und Irrationalität reflektiert Bullocks Wahrnehmung von Nationalsozialismus und Kommunismus als symmetrische, antidemokratische Verkörperungen der Unvernunft. Er bedauert den Triumph der Nazis, aber vom Standpunkt britischer Anständigkeit (was ein rationaler Wert ist, wenn das eigene Land bereits ein Drittel der Oberfläche des Planeten kontrolliert) und nicht vom Standpunkt der deutschen Arbeiterbewegung, deren Schicksal ihm kaum eine Bemerkung in seinem Buch wert ist.

41. Zahlen aus Neumann, S. 489.

42. Broszat, S. 47. Einige Beispiele für den Klassencharakter der Justiz in der Weimarer Republik finden sich in Neumanns Buch: „Nach dem Zusammenbruch der bayrischen Räterepublik im Jahre 1919 fällten die Gerichte die folgenden Urteile: 407 Personen: Festung; 1.737 Personen: Gefängnis; 65 Personen: Zuchthaus. Jeder Anhänger der Räterepublik, der auch nur im Entferntesten mit dem erfolglosen Coup zu tun hatte, wurde abgeurteilt. Der Gegensatz zur strafrechtlichen Behandlung des rechtsgerichteten Kapp-Putsches von 1920 hätte nicht vollkommener sein können. 15 Monate nach dem Putsch, am 21. Mai 1921, teilte das Reichsjustizministerium amtlich mit, dass insgesamt in 705 Fällen wegen Hochverrats ermittelt worden war. Davon fielen 412 nach Ansicht der Gerichte unter das Amnestiegesetz vom 4. August 1920, obwohl die Anführer des Putsches von den Bestimmungen dieses Gesetzes ausdrücklich ausgenommen waren; außerdem waren 108 durch Tod und andere Gründe hinfällig geworden, wurde in 174 Fällen das Verfahren eingestellt, während 11 noch nicht abgeschlossen waren. Nicht eine einzige Person war bestraft worden.“ (S. 45-46)

43. Zit. n. Bullock, S. 161.

44. Broszat, S. 146.

45. Ebd., S. 147.

46. Evelyn Anderson, Hammer oder Amboss, Frankfurt am Main 1981, S. 206. Dieses Buch ist eine ausgezeichnete Kurzfassung über die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung trotz seiner Illusionen in die Möglichkeit einer erneuerten Sozialdemokratie. (Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold war ein 1924 von Sozialdemokraten gegründeter Wehrverband. Als Reaktion auf die nationalsozialistische Harzburger Front schlossen sich unter dem Druck der Basis Ende 1931 Reichsbanner, Arbeitersportverbände und gewerkschaftliche Organisationen zur Eisernen Front zusammen, um die Aktivitäten besser abzustimmen; d. Übers.)

47. Broszat, S. 149/150.

48. Trotzki, Was nun?, S. 199.

49. Rote Fahne, 16. September 1930, S. 2.

50. Rote Fahne, 2. Dezember 1930, S. 1.

51. Rote Fahne, 22. März 1931, S. 1.

52. Remmele im Reichstag, Oktober 1931, zit. n. Trotzki, Was nun?, S. 216/217.

53. Thälmann, S. 155.

54. Carr, S. 60.

55. Thälmann, S. 216.

56. Zit. n. Foulkes, S. 168.

57. Zit. n. Anderson, S. 219.

58. Ebd., S. 217.

59. Zit. n. Neumann, S. 57.

60. Bullock, S. 237.

61. L.J. Edinger, German Exile Politics, University of California Press 1956, S. 10. Der Autor zeigt auch (S. 21), dass Hitler die SPD-Führer überzeugte, ihre Kritik an diesen und anderen repressiven Maßnahmen zu unterdrücken mit dem Hinweis, gutes Verhalten könne in diesem Fall mit der Rückgabe ihrer Zeitungen belohnt werden.

62. Zit. n. Joachim C. Fest, Hitler – Eine Biographie, Frankfurt am Main 1973, S. 449-450.

63. Zit. n. Edinger, S. 20, der es auf „April oder Anfang Mai“ datiert. Wahrscheinlich ist April, denn es ist schwierig anzunehmen, dass selbst ein Kautsky so etwas im Lichte der Ereignisse vom 2. Mai glauben konnte.

64. Gewerkschaftszeitung, Organ des ADGB, zit. n. Anderson, S. 222.

65. Fritz Heckert in der Rundschau, 7. Juli 1933, zit. n. Anderson, S. 225.

66. Rundschau, 17. November 1933, zit. n. Anderson, S. 227.

67. Siehe Allan Merson, Communist Resistance in Nazi Germany, London 1985, S. 66.

68. Siehe Jan Valtin, Out of the Night, Fortress Books 1988, S. 448-473.

69. Allerdings ist Tim Masons Hinweis, dass der Klassenkampf unter den Nazis nicht endete, sondern höchst indirekte Formen annahm, absolut richtig. Nicht einmal ihre Maschinerie konnte den Widerstand vollständig unterdrücken, wenn sie auch verhindern konnten, dass er politische Formen annahm. Siehe seinen Artikel in History Workshop Journal, Nr. 11.

70. Psychologische Theorien über den Faschismus sind weit verbreitet – von Shirer bis zu Theodor Adorno. Sie drehen sich üblicherweise um „preußische Tugenden“ – in Shirers Darstellungen wurden diese zur Zeit des Westfälischen Friedens (1648!) etabliert – und/oder Hitlers persönliche Störungen. Es gibt eine brauchbare Untersuchung dazu in M. Kitchen, Fascism (als Anhänger der Volksfrontpolitik stellt er Trotzkis Positionen allerdings falsch dar). Nach Beetham (Marxists in Face of Fascism, Manchester 1983, S. 56) helfen die Theorien der Frankfurter Schule über Faschismus, die „sozialpsychologischen Aspekte seiner Massenanziehung“ zu erklären. Er kommentiert: „Die Abwesenheit dieser Dimension ist eine der offensichtlichsten Schwächen der marxistischen Analysen, die hier vorgestellt werden.“ Es fällt schwer zuzustimmen. Trotzkis eigene Darstellung betont ständig die Bedeutung dieser „Dimension“, aber ordnet sie einer Klassen- und historischen Perspektive unter. Seine Arbeit verweilte nicht (und konnte unter den gegebenen Umständen auch nicht hier stehen bleiben) bei den komplexen Prozessen historischer Auswahl, durch welche die soziale Basis des Nationalsozialismus – „wahnsinnig“ geworden durch ihr Unglück – diesen Mann und seine ursprünglich unbedeutende Sekte „wählte“, um ihre Wut und Frustration zu äußern; wie die Heterogenität dieser Schichten, verbunden lediglich durch den Mythos des Volkes, die Durchsetzung des Führerprinzips erforderte – statt der Kameraderie der „Waffenbrüderschaft“ (verkörpert in Röhm) seiner Freikorps-Vergangenheit – wenn die Partei jemals ernsthaft die Staatsmacht erobern wollte, usw. Die Persönlichkeit führender Figuren, die so viele bürgerliche Kommentatoren hypnotisiert, würde natürlich Eingang finden in solch eine Studie, wie sie in Umrissen in Porträt des Nationalsozialismus? entstand. Aber Hitlers Impotenz oder Besessenheit, Brünings Arroganz, Papens Leichtsinnigkeit, Schleichers Machiavellismus, Hindenburgs „Senilität“ (warum wurde er nicht abgesetzt?), die „Kurzsichtigkeit“ der Industriellen usw. würden nicht als Ursache verstanden, sondern als Symptome der politischen Krise. Solch eine Herangehensweise steht in scharfem Kontrast zu den pessimistischen Verallgemeinerungen der Frankfurter Schule, die ihre Theoretiker – wie Horkheimer und Adorno – von der Klassenpolitik wegführten.

 

Anmerkung von REDS – Die Roten

1*. Dieses Buch enthält folgende Schriften von Trotzki: Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland (1930), Deutschland – der Schlüssel zur internationalen Lage (1931), Was Nun? – Schicksalsfragen des deutschen Proletariats (1931), Der einzige Weg (1932) und Porträt des Nationalsozialismus (1933).

 


Zuletzt aktualisiert am 8 February 2010