Anna Förster

 

Die russische Revolution und die Frauenbefreiung

(1985)


Aus Klassenkampf Nr.27, März/April 1985.
Transkription u. HTML-Markierung: Michael Gavin REDS – Die Roten.


1910 stimmte die 2. Internationale Sozialistische Frauenkonferenz einem Antrag Klara Zetkins zu, den 8. März in Zukunft als Internationalen Frauentag zu begehen. Vorher hatte die Konferenz die Forderung nach „Völliger Befreiung“ bekräftigt. Der 8. März war Symbol für diese Forderung: Amerikanische Sozialistinnen hatten am 8. März 1908 in Konkurrenz zur bürgerlichen Frauenbewegung demonstriert.

Am Internationalen Frauentag 1917 traten in Petrograd Textilarbeiterinnen in den Streik. Binnen weniger Tage hatten sich diese Streiks zu einem Massenstreik entwickelt – dem Beginn der russischen Revolution.

Heute wird von der feministischen Bewegung nicht mehr an die Entstehungsgeschichte des 8. März erinnert und die Frauenunterdrückung in der UdSSR gilt als Beweis dafür, daß eine sozialistische Revolution nicht zur Frauenbefreiung führt. Deshalb müßten „die Frauen“; unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit, „ihre Befreiung“ gegen die Männerherrschaft durchsetzen. Dabei wird systematisch verschwiegen, wie sofort nach der Revolution alles, was mit einem SchIag geändert werden konnte, geändert wurde. Und es wird in keiner Weise für nötig gehalten, genauer zu untersuchen, weshalb die Befreiung der Frauen in der UdSSR schließlich doch scheiterte. Anna Förster will diese Lücken schließen.

Im folgenden Artikel möchte ich untersuchen, ob und wie sich die Situation der Frau nach der Oktoberrevolution 1917 in Rußland verändert hat. Ich stütze mich dabei im wesentlichen auf das Buch Class Struggles and Women’s Liberation von Tony Cliff, erschienen bei Bookmarks, London, 1984.

Direkt nach der Revolution erließ die neue Sowjetregierung Verordnungen, mit denen gleiche Arbeitsmöglichkeiten und gleiche Bezahlung für Frauen geregelt wurden. Die Frauen wurden ermuntert, arbeiten zu gehen. Arbeitsschutzgesetze für Schwangere und Mütter und ein Mutterschaftsurlaub wurden eingeführt. So schreibt Alexandra Kollontai in dem Buch Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung:

Die wichtigste Errungenschaft der Revolution ist für die Arbeiter und Arbeiterinnen natürlich der Achtstundentag ... Es gibt aber ein generelles Verbot der Nachtarbeit für Frauen ... Überstunden, Nachtarbeit und Frauenarbeit im Untertagebetrieb sind verboten ... Der Staat garantiert allen Frauen, die physische Arbeit verrichten, 16 Wochen Schwangerschaftsurlaub. Berufstätige Frauen, die Kontor- oder geistige Arbeit verrichten, erhalten 12 Wochen Schwangerschaftsurlaub ... Eine weitere Verordnung vom November 1920 garantiert den schwangeren Frauen und Müttern auch während dieser Urlaubszeit die bisherige Lebensmittel- und Brennration. Stillende Mütter erhalten während der ersten neun Monate nach der Geburt zusätzlich noch eine finanzielle Unterstützung ... Zusätzlich hat jede Mutter Anspruch auf eine Ratiori Babyausstattungsartikel..“ (A.a.O., S.189-192)

Es ging den Bolschewiki aber nicht nur um die Stellung der Frau in der Arbeitswelt, sondern auch in der Politik und im Sozialleben. Sie wandten sich besonders gegen die Unterdrückung der Frauen in der Familie. So wurden Zwangsheiraten abgeschafft, der Unterschied zwischen ehelichen und unehelichen Kindern aufgehoben. Das Scheidungsgesetz wurde liberalisiert. Rußland wurde das Land mit der freiesten Scheidungspraxis. Sowohl bei der Eheschließung als auch bei der Scheidung ging man auf die zuständige Behörde, und die Heirat bzw. Scheidung wurde ausgesprochen. Geschiedenen Frauen wurde Unterstützung vom Staat gezahlt, bis sie Arbeit und Betreuung für ihre Kinder gefunden hatten. Bis dahin gültige Gesetze, die das Sexualleben reglementierten, wurden aufgehoben; so waren Homosexualität, Ehebruch und Inzest nicht länger strafbar. Frauen bekamen das Recht auf Verhütungsmittel, freie und legale Abtreibung, was es in keinem anderen Land gab.

Institutionen wurden aufgebaut, die die Frauen von der Last der Hausarbeit befreien sollten: Kommunale Restaurants, Wäschereien, Kindergärten und Mütterwohnheime, „die nicht nur den ledigen Müttern einen Zufluchtsort für die schwierigste Periode ihres Lebens bieten. Diese Heime ermöglichten es auch verheirateten Frauen, während der letzten Schwangerschaftsmonate und während der ersten Monate nach der Geburt, sich zeitweilig vom eigenen Heim, der Familie und dem ganzen anderen Kleinkram und Kummer zu befreien.“ (Kollontai, 5. 206)

All diese Versuche des kommunalen Lebens standen unter dem Motto „Trennung von Küche und Ehe“, denn den Bolschewiki war klar, daß die Familie als Unterdrückungsort der Frau nur abgeschafft werden kann, wenn es gelingt, die Hausarbeit in die Hände kollektiver Einrichtungen zu legen.

Eine große Rolle bei der Mobilisierung der Frauen für die Revolution und der Durchführung der neuen Verordnungen im Sinne der Frauenbefreiung spielte die Frauenorganisation Shenotdel. Im September 1 91 9 wandelte das Zentralkomitee der Bolschewiki die „Kommission für Agitation und Propaganda unter arbeitenden Frauen“ um in die „Frauenabteilung der Partei“ Shenotdel, als Teil des ZK-Sekretariats, unter der Leitung von Inessa Armand. Ortliche Shenotdel-Gruppen wurden den jeweiligen Parteikomitees zugeordnet; die Büros wurden mit Freiwilligen besetzt, die unter den weiblichen Parteimitgliedern gewonnen wurden. Sie wurden mit der Aufgabe betraut, Aktivitäten unter den nichtorganisierten Frauen in Fabriken und Dörfern anzuregen, um diese an öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen.

Inessa Armand verfaßte Leitsätze für die Arbeit von Shenotdel, die auf der ersten Internationalen Kommunistischen Frauenkonferenz vorgelegt wurden, die im Juli 1920 in Moskau stattfand. Indem sie versuchten, Frauen einzubeziehen, die nicht Mitgleider der Partei waren, wollten die Shenotdel dem Mangel an weiblichen Parteimitgliedern begegnen: 1920 waren insgesamt nur 45.297 oder 7,4 % der Mitglieder Frauen.

Die grundlegende Organisationseinheit war eine Delegiertenkonferenz von Arbeiterinnen und Bäuerinnen. Die Konferenz war dem Vorbild der Sowjets nachgebildet. Unter den Arbeiterinnen und Bäuerinnen wurden Wahlen organisiert – eine Delegierte für je fünf Arbeiterinnen oder 25 Bäuerinnen. Die Delegierten nahmen an Versammlungen und an Schulungskursen unter Anleitung der Partei teil, um dann verschiedenen Staats-, Partei-, Gewerkschafts- und genossenschaftlichen Dienststellen zugeordnet zu werden. Sie beteiligten sich an der Organisierung kommunaler Küchen, von Krankenhäusern, Mütterheimen, Kinderheimen und Schulen. Die Delegierten beteiligten sich auch an den Volksgerichten, manchmal in der Funktion als Richter. Diese Tätigkeiten wurden auf kurze Zeit ausgeübt – gewöhnlich zwei oder drei Monate. Die Zahl der Frauen, die sich aktiv daran beteiligten, war sehr groß. Im zweiten Halbjahr 1923 berichteten die Shenotdel, daß die Zahl der gewählten Delegierten etwa 58.000 betrug.

Zusätzlich organisierte Shenotdel die Mobilisierung von Frauen für Unterstützungsarbeit im Bürgerkrieg. Frauen verrichteten Sanitätsdienste, dienten in der politischen Abteilung der Roten Armee, arbeiteten im Fernmeldewesen, nahmen an samstäglichen und sonntäglichen Arbeitsbrigaden teil, organisierten Kampagnen gegen Fahnenflucht und Seuchen, und unterstützten die Familien von Soldaten der Roten Armee und heimatlose Kinder.

Eine der wichtigsten Aufgaben von Shenotdel war die Alphabetisierung. „Ein Analphabet,“ erklärte Lenin, „steht abseits von der Politik. Er muß erst sein ABC lernen. Ohne das kann es keine Politik geben; ohne das gibt es Gerüchte, Klatsch, Märchen und Vorurteile, aber keine Politik.“ Die Alphabetisierungsschulen beschränkten sich. nicht darauf, Lesen und Schreiben zu lehren, sondern wurden wichtige Hilfsmittel für die Ausbreitung politischer, kultureller und allgemeiner Bildungsarbeit.

Eine der Führerinnen der Bewegung für Frauenalphabetisierung war Nadeschda Krupskaja. Vor der Revolution hatte sie Arbeiter in Abendkursen unterrichtet. Jetzt widmete sie dieser Tätigkeit noch mehr Aufmerksamkeit. Die Leitung von Shenotdel, die dem Parteisekretariat rechenschaftspflichtig war, überwachte nicht nur die inneren Angelegenheiten von Shenotdel selbst, sondern weitete ihren Einfluß in jeden Winkel des täglichen Lebens aus, wo Frauen betroffen waren. Weibliche Führerinnen der Bolschewiki, die ihre eigenen Verantwortlichkeiten und Interessen hatten, wie Lebedewa (Mutterschaft), Krupskaja (Bildung) und Uljanowa (Journalismus) verknüpften ihre Aktivitäten mit denen von Shenotdel. Die bolschewistische Frauenbewegung überschritt auf diese Weise den Rahmen der Shenotdel-Organisation.

Shenotdel hatte eine eigene monatliche Zeitschrift, Kommunistka (Kommunistin), mit einer Druckauflage von 20.000 im Jahre 1921. Mitglieder der Redaktion waren u.a. Bucharin, Inessa Armand und Alexandra Kollontai.

 

Die rauhe Wirklichkeit

Insgesamt hatte sich aber die Situation der Frau keineswegs grundlegend geändert. Die Mehrheit der Frauen in Rüßland lebte nach wie vor in Armut und Aberglauben. Auch die Haltung der Männer gegenüber den Frauen änderte sich nicht schlagartig. Männer hatten oft Schwierigkeiten mit der Frauenemanzipation, weil sie ihre alten Verhaltens- und Denkweisen so schnell nicht abstreifen konnten.

Während des Bürgerkriegs wurden aber auch weiterhin die traditionellen Frauenarbeiten von Frauen gemacht, wie Kranken- und Kinderbetreuung oder auch Küchenarbeiten in den öffentlichen Restaurants. So waren in der Roten Armee kaum Frauen vertreten, wenige dienten als Soldatinnen und bewaffnete Zugkommandantinnen, übernahmen Polizeiarbeit in den Städten und kämpften während der Feindesbelagerung.

Als 1919 die Soldaten vom Krieg heimkamen, wollten sie natürlich Arbeit. Die Bolschewistische Partei ordnete zuerst an, daß die Frauen den Männern die Arbeitsplätze überlassen sollten. Shenotdel war damit nicht einverstanden und diskutierte darüber in der Partei. Erst diese Auseinandersetzungen führten dazu, daß die Besetzung von Arbeitsplätzen nicht mehr nach dem Geschlecht, sondern auf der Basis von Notwendigkeit und Fähigkeiten geregelt wurde.

Doch die Geschlechtertrennung in der Arbeit konnte in der rückständigen Gesellschaft nicht überwunden werden, die Bedingungen des Bürgerkrieges verhinderten das. Rußlands Wirtschaft war während des Bürgerkrieges zusammengebrochen, die industrielle Produktion betrug nur noch 1/5 im Vergleich mit der von 1914, die Stadtbevölkerung war gesunken, zwischen 1918 und 1920 waren 9 Millionen Russen an Hunger, und Kälte und Epidemien gestorben. Die Arbeiterklasse hatte einen katastrophalen Rückschlag im moralischen und politischen Bewußtsein erlitten.

Nach dem Bürgerkrieg war die Versorgung der Städte, die während des Bürgerkrieges zusammengebrochen war, die dringendste Aufgabe. Im Bürgerkrieg wurden die Bauern gezwungen, ihre landwirtschaftlichen Produkte an den Staat zu verkaufen, nun erhielten sie, mit der „Neuen Ökonomischen Politik“ (1921) die Möglichkeit, auf dem privaten Markt anzubieten. Man schuf ihnen ökonomische Anreize, um eine höhere Produktion zu erhalten. In dieser Zeit stieg die Arbeitslosigkeit. Im Januar 1922 waren 175.000 arbeitslos, im Januar 1923 625.000 und im Januar 1925 1.240.000. Die Frauen traf die Arbeitslosigkeit am härtesten, da überall unausgebildete Arbeitskräfte zuerst entlassen wurden und Frauen zumeist unausgebildet waren.

C.E. Hayden schreibt in The Zhenotdel and the Bolshevik Party in Russian History:

Im März 1923 stellten die Frauen 58,7 Prozent der Arbeitslosen in Petrograd und 63,3 % der Arbeitslosen in dem Textilindustriezentrum Ivanovo-Vosnesensk. In der Textilindustrie selbst stellten sie 80 bis 95 % der Arbeitslosen in Moskau, Petrograd und Ivanovo-Voznesensk. Auf Drängen der Zhenotdel ordnete das Kommissariat für Arbeit an, daß in Fällen, in denen Frauen und Männer denselben Ausbildungsstand haben, Frauen nicht zuerst entlassen werden sollten; aber Zhenotdel gab zu, daß es unmöglich war, Quoten für die Weiterbeschäftigung von Frauen durchzusetzen. Selbst Mitglieder der Kommunistischen Partei argumentierten, daß es unprofitabel sei, Frauen unter dem Prinzip gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit zu beschäftigen, da die besonderen Arbeitsschutzbestimmungen für Frauen es teurer machten, Frauen zu beschäftigen. (1924 stimmte Zhenotdel der Aufhebung des Nachtarbeitsverbots für Frauen zu, um den Unternehmern so wenig wie möglich Entschuldigungen zu geben, Frauen nicht zu beschäftigen.) (zit. bei Cliff, S.146)

Die Arbeitslosigkeit versetzte den Bemühungen zur Frauenbefreiung einen harten Schlag. Die ökonomische Abhängigkeit der Frauen von den Männern wurde wieder größer. Reaktionäre Trends hatten ihren Aufschwung in dem Maß, wie der Staat bemüht war, die kommunalen Ausgaben zu kürzen. Die kommunalen Einrichtungen des Kriegs- kommunismus wurden wieder geschlossen (wie Küchen, Speisehäuser, Kinderhäuser). Damit wurden die Frauen unter das Joch der Hausarbeit zurückgeworfen, die Versorgung und Erziehung der Kinder wurde wieder die private Sache der Frauen. Durch diese ökonomischen Bedingungen bedeutete die freie Scheidungspraxis für die Frauen, wenn Kinder beteiligt waren, an sie gekettet zu sein. Eine Scheidung wurde so für Frauen zum Vorboten bitterer Not und nicht der persönlichen Freiheit, zumal Männer häufiger die Scheidung von ihren Frauen verlangten als umgekehrt. Die Frage der Unterhaltszahlung, die in dem Familiengesetz von 1918, in dem wie erwähnt Heirat und Scheidung neu geregelt wurde, nicht vorgesehen war, wurde in den 20er Jahren für die Frauen lebenswichtig. Eine lange öffentliche Diskussion überzeugte 1925 die Regierung von der Notwendigkeit eines neuen Familiengesetzes, in dem das geregelt wurde. Denn man hoffte, wenn Männer gezwungen werden, ihre Familien zu unterstützen, sie sich nicht so schnell scheiden lassen und nicht so viele unerwünschte Kinder zeugen würden. Man machte also in der Frage der Scheidung im Interesse und zum Schutz der Frauen bewußt einen Rückschritt. In dieses Gesetz wurden auch die nicht registrierten Ehen miteinbezogen, außerdem wurde den Frauen garantiert, daß das Vermögen aus der Ehe aufgeteilt würde. Eine besondere Rolle bei dem Verlangen nach dem Schutz der traditionellen Familie spielte die bäuerliche Familie, die 4/5 aller Familien ausmachte, für sie bedeutete der Zusammenhalt der Familie der Erhalt des Hofes. Die Verschlechterung der Stellung der Frau in der sowjetischen Gesellschaft zeigte sich auch in der Zunahme der Prostitution, die während des Kriegskommunismus fast völlig verschwunden war. 1921 gab es in Petrograd wieder 17.000 Prostituierte, in Moskau 10.000 und 1922 in Petrograd 32.000.

Die politische Entwicklung in den ersten Jahren nach der russischen Revolution läßt sich in zwei Phasen aufteilen. In der Zeit des Bürgerkrieges wurden revolutionäre Umwälzungen schneller angegangen als es die ökonomische Situation eigentlich zugelassen hätte, weil die Bolschewiki mit einer baldigen Revolution in Westeuropa rechneten und damit einer Stabilisierung der eigenen Revolution.

Die Jahre nach dem Bürgerkrieg lassen sich als eine Zeit des politischen Rückzugs charakterisieren, weil sich nun zeigte, daß sich eine Revolution in den umliegenden Ländern keineswegs so schnell abzeichnete, und die sowjetische Regierung zunehmend in die Isolation geriet und deshalb gezwungen war, revolutionäre Vorhaben wieder zurückzunehmen. Diese Entwicklung schlug sich ebenso in der Frage der Frauenbefreiung nieder.

Der zweite Teil dieses Artikels wird die Situation der Frau unter der Herrschaft Stalins untersuchen, unter der die Perspektive der Ausweitung der sozialistischen Revolution aufgegeben wurde, zugunsten der Parole des „Sozialismus in einem Land“.

 


Zuletzt aktualisiert am 16.3.2004