Jane Pritchard

 

Sexarbeiterinnen – eine Debatte

(Januar 2010)


Jane Pritchard, The sex work debate, International Socialism, Nr. 125, London, Januar 2010.
Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für REDS – Die Roten.


Die Diskussion über „Sexarbeit“ hat die britische Gewerkschaftsbewegung gespalten. Während die Gewerkschaft GMB Frauen in Lapdancing-Clubs zu organisieren versuchte, stimmte der Frauenkongress des Gewerkschaftsdachverbands TUC gegen einen Antrag zur Entkriminalisierung der Sexindustrie und der gewerkschaftlichen Organisierung von Sexarbeiterinnen. Stattdessen wurde eine Resolution zur Kriminalisierung des Kaufs sexueller Dienste verabschiedet. In den vergangenen zwei Jahren nahmen die Universitätsgewerkschaft UCU, die Kommunikationsarbeitergewerkschaft CWU und die Gewerkschaft des öffentlichen Diensts Unison unterschiedliche Standpunkte in dieser Auseinandersetzung ein. [1]

In der feministischen Ecke gibt es gegensätzliche Ansichten über Sexarbeit und Gewalt gegen Frauen. Radikale Feministinnen im Bündnis mit Neokonservativen organisieren Kampagnen zur Abschaffung der Prostitution und unterstützen, bis es so weit ist, eine Gesetzgebung zur Kriminalisierung von Freiern. Andere Feministinnen, darunter viele Akademikerinnen, die auf diesem Gebiet forschen, aber auch Sexarbeiterorganisationen, fordern die Entkriminalisierung von Prostitution. Für sie besteht das langfristige Ziel in der Aufhebung der Bedingungen, die Prostitution erst hervorbringen, während kurzfristig die Sicherheit der Frauen oberstes Gebot ist.

Die Sprache selbst ist höchst problematisch und gefühlsbehaftet. Der Begriff Prostituierte gilt als Verunglimpfung von Frauen, die aufgrund von Armut und des Ausschlusses aus der Gesellschaft zum Verkauf von Sex gezwungen sind, während die Verwendung des Begriffs Sexarbeiterin als Anerkennung einer Aktivität begriffen wird, die die Unterdrückung von Frauen widerspiegelt. Mit diesem Artikel soll nicht behauptet werden, dass Sexarbeit „ein Job wie jeder andere“ ist – dennoch werde ich hier den Begriff Sexarbeit verwenden, weil er erstens die moralische Verurteilung vermeidet, die häufig mit dem Wort Prostituierte verbunden ist. Zweitens wird dieser Begriff benutzt, weil Frauen, die Sex direkt auf der Straße, in Wohnungen oder Bordellen verkaufen, nur eine Unterabteilung eines viel größeren Sexgewerbes sind, in der Frauen arbeiten. [2] Die moderne Sexindustrie ist ein Multimilliarden-Dollar-Geschäft, mit riesigen Profiten für die transnationalen Konzerne und für kriminelle Banden. Die Sexindustrie ist schwierig zu definieren, weil sie ein großes Spektrum unterschiedlichster Aktivitäten umfasst. Die Schriftstellerin Elisabeth Bernstein sagt dazu:

Die Bandbreite des Sexgeschäfts umfasst inzwischen Live-Sex-Shows; alle Arten pornografischer Texte, Videos und Bilder in Druckform als auch online; Fetischklubs, Sexcenter mit Lap- und Walldancing; Begleitagenturen; Telefonsex und Cybersex-Kontakte; Drive-Through-Striptease; und organisierte Sexreisen in Entwicklungsländern. [3]

Es ist schwierig, an genaue Zahlen zu kommen, aber allgemein wird von einem Aufschwung der internationalen Sexindustrie in den vergangenen zwei Jahrzehnten ausgegangen. Dazu gehören Straßenprostitution, freiwillige oder Zwangsauswanderung von Frauen, um in der Sexindustrie zu arbeiten, und die Ausbreitung von Lapdancing-Clubs. Sicher ist, dass die Sexindustrie ein höchst profitables Geschäft darstellt. Nach einem Bericht des Europaparlaments aus dem Jahr 2004 wird der Wert des weltweiten Sexgewerbes auf 5.000 bis 7.000 Milliarden US-Dollar geschätzt. [4] Einige dieser transnationalen Konzerne wie Hugh Hefners Playboy und die Lapdancing-Ketten von Spearmint Rhino und Foxy Lady sind bestens bekannt. Aber auch viele anscheinend viel respektablere Gesellschaften machen hohe Profite damit, dass sie Telefonnetze und Kabel- und Satellitenprogramme zur Verfügung stellen oder der Sexindustrie als Internetprovider dienen. Dazu gehören General Motors (über DirecTV), Time Warner, News International (EchoStar Satellite, AT & T) und die Hotelkette Marriot International.

In einer Welt, in der alles zum Verkauf steht, wird heute Lapdancing, das einst als Form der Frauenunterdrückung galt, für eine allgemeine Freizeitbeschäftigung gehalten. Poledancing-Kurse, der Tanz an der Stange, für die Stilettos und knapp sitzende Shorts mitgebracht werden müssen, werden überall als neue Art von Fitnesstraining angeboten. Softpornos werden routinemäßig auf Tischen von Supermärkten und an Tankstellen zum Kauf angeboten, und Prostitution wird in Fernsehprogrammen wie Die geheimen Tagebücher eines Callgirls verherrlicht. Gleichzeitig empfinden viele Abscheu über die Ermordung von fünf jungen Frauen, die im Jahr 2007 auf den Straßen von Ipswich gearbeitet hatten.

Diese Verbindung aus zunehmender Sichtbarkeit, Normalisierung und brutaler Gewalt hat eine Diskussion neu entfacht, wie wir auf Prostitution und die Sexindustrie reagieren sollten, ob Sexarbeiterinnen Kriminelle oder Opfer sind, und ob die Industrie toleriert, zur Verbesserungen des Lebens der Frauen reformiert oder komplett als institutionalisierte Unterdrückung von Frauen abgelehnt werden sollte. Zwei Hauptdebatten drehten sich erstens um die Frage, ob Arbeit in der Sexindustrie im Kern dasselbe ist wie Arbeit in anderen Bereichen und deshalb „Sexarbeiterinnen“ sich gewerkschaftlich organisieren sollten wie alle anderen Arbeiterinnen und Arbeiter auch; und zweitens, ob die Kunden kriminalisiert werden sollten, um die Nachfrage nach bezahltem Sex zu senken. Diese Fragen stehen im Mittelpunkt dieses Artikels.

Hier soll argumentiert werden, dass wir, um Prostitution zu verstehen, als Erstes mit der besonderen Unterdrückung von Frauen in der kapitalistischen Familieneinheit beginnen müssen. Im zweiten Schritt müssen wir uns mit der übergreifenden Sexindustrie und der zunehmenden Verwandlung von Sex in Ware beschäftigten, weil der Marktplatz noch in die intimsten Aspekte des menschlichen Daseins eindringt. Diese Phänomene müssen sodann im Zusammenhang mit der Dynamik der Expansion des Kapitalismus gesehen werden, seiner enormen weltweiten Ausdehnung Ende des 19. Jahrhunderts und erneut in den vergangenen dreißig Jahren, was wir lose „Globalisierung“ genannt haben. In diesen beiden Phasen haben sich die Faktoren verändert, die Frauen (und eine sehr viel kleinere Zahl von Männern) zum Verkauf von Sex trieben.
 

Die Debatte über Sex als Arbeit

Die Vorstellung von „Sexarbeit“, dass also der Verkauf von Sex eine Arbeit wie jede andere ist, wurde in den 1970er Jahren durch Prostitutions-Lobbygruppen in den USA wie Cast Off Your Old Tired Ethics (Coyote; etwa: Wirf deine verstaubten ethischen Grundsätze über Bord) aufgebracht. Der Ansatz lautet: Jeder Sex ist im Kapitalismus zur Ware geworden, die im weiten Sinne „erotische Arbeit“ ist nur eine weitere Dienstleistung, die wie jede andere verkauft und gekauft werden kann. Aufgrund dieser Analyse wird gegen Kriminalisierung von Prostitution argumentiert und gegen Versuche, Prostitution insgesamt abzuschaffen. Einige heutige Kampagnenvertreter gehen sogar noch weiter und behaupten, „Sexarbeit“ sei anderer Arbeit für Frauen sogar überlegen. Sie verweisen auf die Vorteile hinsichtlich der Arbeitsstunden, die Autonomie, Selbstbestimmung und sogar Arbeitszufriedenheit.

Einige feiern „Sexarbeit“ als grundsätzliches Menschenrecht und insbesondere als Recht der Frauen, ihre Sexualität in einem Bereich auszuleben, wo Frauen angeblich ungewöhnlich große Kontrolle über Männer haben. An diesem Ende des Spektrums von Theorien über „Sexarbeit“ verwandelt sich das ursprüngliche Verständnis von der ökonomischen Not, die Frauen in die Sexindustrie treibt, in ein Abfeiern ihrer Tätigkeit und die Behauptung angeblicher Selbstermächtigung von Frauen. Zum Beispiel bezeichnet Ana Lopez von der GMB und der Internationalen Sexarbeitergewerkschaft (IUSW) Prostitution als „positive Wahl“ für Frauen. Auf der IUSW-Website heißt es, Prostitution könne für Frauen selbstermächtigend sein:

Menschen gewinnen persönliche Stärke durch den Verkauf ihres Körpers, weil ihre Kunden sie anbeten und bewundern, sie haben so viel Sex wie sie möchten und trotzen traditioneller Moral und überkommenen Rollen, die ihnen aufgezwungen werden. Häufig sind Prostituierte besonders gesund, verspielt, kreativ, abenteuerlustig und unabhängig. [5]

Solche Argumente werden auch von dem linken Arbeitswissenschaftler Gregor Gall aus Großbritannien akzeptiert, der über den „Sexarbeit“-Diskurs sagt:

[Der Diskurs] hat sich als hinreichend robust erwiesen, um die Herstellung von Sex, sexuellen Diensten und Sexgegenständen als Waren im Kapitalismus nicht nur als Arbeit, sondern als Lohnarbeit zu klassifizieren […] Deshalb können wir davon ausgehen, dass Sexlohnarbeit im Kapitalismus denselben breiten Impulsen und der Dynamik des Prozesses kapitalistischer Akkumulation unterworfen ist wie andere Lohnarbeit. [6]

Gall kommt zu dem Ergebnis, dass „Sexarbeit“ im Kern dasselbe sei wie andere Beschäftigungsarten, sie ermögliche ein gewerkschaftliches Organisierungsprojekt und die Ausübung kollektiven Einflusses der Sexarbeiter zur Verteidigung und Förderung ihrer Interessen.

Am anderen Ende dieses Spektrums gibt es den Feminismus, der sagt, dass jeder kommerzielle Sex Gewalt an Frauen darstellt. Vorschläge zur Erhöhung der Sicherheit von Sexarbeiterinnen durch Legalisierung ihrer Arbeitssituation werden als Legitimierung von Gewalt an Frauen abgelehnt. Aus dieser Perspektive gibt es keinen qualitativen Unterschied zwischen der „Gewalt“ einer Gesellschaft, die eine Frau „zwingt“, Lapdancer zu werden, und Gewalt in Form von Schlägen, Vergewaltigung und Mord.

Zwischen diesen gegensätzlichen Enden des Spektrums nehmen Sozialisten und Feministinnen unterschiedlichste Positionen ein. Um diese Argumente zu untersuchen, ist es jedoch zunächst nötig, die Beziehung zwischen Kapitalismus, Prostitution und der Sexindustrie zu verstehen und die besondere Unterdrückung von Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft.
 

Kapitalismus, Prostitution und die Sexindustrie

Obwohl die Prostitution als ältester Beruf bezeichnet wird, hat es sie nicht in allen Gesellschaften gegeben. Der Historiker Nils Johan Ringdal geht davon aus, dass Prostitution als besonderes kulturelles Phänomen zuerst in Mesopotamien aufkam und sich später auf die umliegenden Kulturen in Ägypten, Griechenland und Indien ausweitete. [7] Gleichzeitig gab es als Überreste alter Zeiten in vielen Gesellschaften Nordamerikas, dem alten Ostindien und Polynesien einen hohen Grad von Freiheit für Frauen, und Prostitution war unbekannt. [8] Prostitution war kein unvermeidliches Element frühmenschlicher Gesellschaften. Alexandra Kollontai trug als führendes Mitglied der Bolschewiki zur Entwicklung einer marxistischen Analyse der Prostitution nach der russischen Revolution von 1917 bei. Sie unterschied zwischen Prostitution in anderen Zeiten, im alten Griechenland oder in Rom beispielsweise, und Prostitution im Kapitalismus. [9] Im Altertum war die Zahl der Prostituierten gering und Prostitution wurde als legale Ergänzung zu exklusiven Familienbeziehungen gesehen. Im Mittelalter wurde Prostitution als rechtmäßig und unproblematisch akzeptiert. Prostituierte hatten ihre eigenen Gilden und nahmen an Festen und lokalen Ereignissen teil wie jede andere Gilde auch. [10]

Das änderte sich mit dem Aufstieg des Kapitalismus. Prostitution breitete sich im 19. Jahrhundert viel stärker aus als in früheren Gesellschaften. Sie wurde begünstigt durch weitgehende soziale Entwurzelung, als die Menschen aus der Landwirtschaft in das Fabriksystem gedrängt wurden. Verstädterung, Armut und die großen Wanderungsbewegungen, die den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts kennzeichneten, schufen Bedingungen, in denen weltweit Bordelle wie Pilze aus dem Boden schossen. In seinem Buch London Labour and the London Poor aus den 1850er Jahren beschrieb Henry Mayhew, wie Saisonarbeiterinnen und Frauen in unsicherem Gewerbe zu bestimmten Jahreszeiten immer wieder zur Prostitution getrieben wurden. [11] Insbesondere Putzmacherinnen, deren Fähigkeiten nur während der Londoner „Gesellschaftssaison“ gefragt waren, wurden mit Prostitution in Verbindung gebracht. Die sozialistische Anarchistin Emma Goldmann zitierte eine Studie mit dem Titel Prostitution in the Nineteenth Century, um die Bedingungen zu beschreiben, die Prostitution beförderten:

Obwohl es Prostitution zu allen Zeiten gab, blieb es dem 19. Jahrhundert überlassen, sie in eine gigantische gesellschaftliche Einrichtung zu verwandeln. Die Entwicklung der Industrie mit den großen Menschenmengen auf konkurrierenden Märkten, das Städtewachstum und die Überfüllung der Großstädte, die sporadischen Arbeitsverhältnisse und schlechten Arbeitsbedingungen gaben der Prostitution einen bis dahin in der menschlichen Geschichte unvorstellbaren Auftrieb. [12]

Im Jahr 1921 behauptete Kollontai, dass in Berlin auf zwanzig „ehrenhafte“ Frauen eine Prostituierte käme. In Paris war das Verhältnis eins zu achtzehn, in London eins zu neun. [13]

Damals wie heute gab es eine enge Beziehung zwischen der Wanderungsbewegung von Frauen und Prostitution. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren sechzig Prozent der Prostituierten von Buenos Aires Einwanderinnen der ersten Generation, der Anteil von Europäerinnen in den Bordellen lag noch höher. [14] Das galt auch für Großstädte von Italien bis Indien, wo die Mehrheit der Zuwanderer aus Mittel- und Osteuropa kam. [15] In hysterischen Moralkampagnen wurde das Anwachsen eines „weißen Sklavenhandels“ an den Pranger gestellt. Ein Bündnis von Reaktionären aus Kirche und Politikern machte sich stark gegen die „Schändung“ weißer Frauen durch ausländische, nicht weiße Männer. Allerdings gab es kaum Anhaltspunkte dafür, dass Frauen entführt und zur Prostitution gezwungen worden wären. Stattdessen versuchten sie sich verzweifelt aus ihrer Armut zu lösen und einen Grad von wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu erreichen.

Die internationale kapitalistische Entwicklung im 19. Jahrhundert verwandelte die Prostitution in eine internationale Sexindustrie. Die heutige Phase der Globalisierung und Restrukturierung kapitalistischer Produktion ab den 1970er Jahren und die Verheerungen, die sie im Leben einfacher Menschen, insbesondere der Frauen, anrichtet, hat erneut zu einer Umformung der Sexindustrie geführt. In Entwicklungsländern hat das vom Internationalen Währungsfonds (IWF) erzwungene Strukturanpassungsprogramm die Entwurzelung in ländlichen Gegenden verschärft, Arbeitslosigkeit in den Städten erhöht und zu Lohnsenkungen und damit wachsender Armut geführt. In den neuen Produktionszonen Südostasiens setzen sich transnationale Konzerne rücksichtslos über Mindestlöhne und Arbeitsschutzgesetze hinweg und setzen Frauen gefährlichen Arbeitsbedingungen aus. Die blühende Sexindustrie springt dort ein, wo unterhalb des Existenzminimums liegende Löhne gezahlt werden oder es gar keine sichere, bezahlte Beschäftigung gibt.

Neoliberale Politik hat eine außerordentliche Polarisierung zwischen superreichen Eliten und den an den Rand gedrängten verzweifelten Armen mit sich gebracht, die nicht selten in Schattenwirtschaft und Sexindustrie getrieben werden, um über die Runden zu kommen. Zum Beispiel ist Russland heute eine Hauptquelle für und ein Hauptziel von Sexarbeiterinnen gleichzeitig. Ein Autor hat die „Erotisierung der russischen Kultur“ in der Ära nach Auflösung der Sowjetunion beschrieben. Die neuen russischen Superreichen haben einen kommerziellen Sexboom ausgelöst, durch den „Prostitution vollständig in das öffentliche wie private Leben der Nachsowjeteliten integriert wurde, die oft in teuren Nachtklubs umgeben von Callgirls anzutreffen sind“. [16] Das fiel zusammen mit dem dramatischen Wirtschaftszusammenbruch und dem Austrocknen jeder alternativen Einkommensquelle. Nach einer Studie aus den 1990er Jahren stand Prostitution an achter Stelle unter den zwanzig häufigsten Tätigkeiten des Landes. [17]

Der Irakkrieg, in dessen Gefolge Wirtschaft und Gesellschaftsstrukturen des Iraks zerstört wurden, hat ebenfalls zur Förderung der Sexindustrie beigetragen. Die britische Zeitung Independent berichtete, dass geschätzt 50.000 aus dem Irak nach Syrien geflüchtete Frauen in die Prostitution getrieben wurden. Nihal Hassan berichtete von einem Sexclub in Damaskus: „Das Make-up kann die Tatsache nicht verbergen, dass die meisten um die fünfzehn Jahre alt sind. Das ist ein merkwürdiges Bild in einem konservativen muslimischen Land, aber so ist das Sexgeschäft, und es blüht wegen des Kriegs im Irak.“ [18] Die Sexindustrie befindet sich im Kern eines vielschichtigen internationalen Geflechts aus Armut, rechtlicher Verfolgung und wirtschaftlicher Ausbeutung, das Frauen in die Prostitution zwingt. Dieses Geflecht hätte sich jedoch nicht in dieser Form entwickeln können, gäbe es nicht die fortgesetzte Unterdrückung von Frauen auch in der heutigen Gesellschaft.

Die Ausdehnung des internationalen Kapitalismus Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts weist viele Ähnlichkeiten mit der jetzigen Phase des Kapitalismus in Bezug auf die Internationalisierung von Finanzwesen, Handel und Investitionen und der Sexindustrie auf. Dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied: Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gab es fast keine Einwanderungsbeschränkungen, während seit dem Zweiten Weltkrieg in den entwickelten Ländern zunehmend repressive und umfassende Einwanderungsgesetze erlassen wurden. Gesetze gegen Einwanderung bedeuten, dass es keine Möglichkeit für arme und nicht ausgebildete Frauen gibt, unabhängig zu reisen und legal zu arbeiten, also werden sie von Rekrutierungsagenturen und kriminellen Netzen abhängig. Während einige Frauen schlecht bezahlte Arbeit in Privathaushalten finden, verfangen sich andere im komplexen Netz der Sexindustrie.

Ausgewanderte Frauen im Sexgewerbe riskieren Abschiebung, Gefängnis, Schikane und Missbrauch. Abschiebung heißt, dass sie am Ende hohe Schulden haben, die sie niemals werden abzahlen können, und dass sie nicht selten von ihren Familien zurückgewiesen werden. In Großbritannien betrachten Regierungsbehörden in die Prostitution verkaufte Frauen vor allem als unerwünschte Fremde. Die Tatsache, dass sie Opfer sexueller Gewalt und Ausbeutung sein könnten, ist für ihren Einwanderungsstatus untergeordnet oder sogar völlig belanglos. Flüchtlingsorganisationen haben das Innenministerium beschuldigt, sie als „weiche Ziele“ zu verwenden, um die Abschiebungszahlen zu erhöhen, weil eingewanderte Sexarbeiterinnen ein leichter Fang sind. New-Labour-Politiker legen gerne ein Lippenbekenntnis auf das Schicksal in die Prostitution verkaufter Frauen ab. Dabei werden gerade wegen der repressiven Einwanderungsgesetzgebung ihrer Regierung Frauen kriminellen Banden ausgeliefert und die Opfer von Prostituiertenhändlern als Illegale behandelt, die gegen ihren Willen deportiert werden können.
 

Die Wurzeln der Unterdrückung und die Verwandlung von Sexualität in eine Ware

Ausmaß und Wesen der Prostitution und der Sexarbeit waren und sind bestimmt von Armut, Polarisierung und Entwurzelung als notwendigen Bestandteilen des globalen Kapitalismus. Prostitution ist jedoch nicht einfach nur eine weitere Dimension von Ausbeutung, sondern steht im Zusammenhang mit Frauenunterdrückung. Frauen waren nicht immer unterdrückt. Nach Friedrich Engels entwickelte sich die Frauenunterdrückung mit dem Aufkommen des Privateigentums und wurde später durch den Aufstieg der bürgerlichen Familie verändert, die zum Hebel wurde, Eigentum von einer Generation auf die nächste zu übertragen. [19] Die moderne Frauenunterdrückung bildete sich somit während der industriellen Revolution mit der Trennung des Heims vom Arbeitsplatz und der folgenden Schaffung einer getrennten Sphäre des Privatlebens heraus.

So wie Engels argumentierte auch Bebel, die Prostitution sei die Kehrseite der Ehe und eine „notwendige soziale Institution der bürgerlichen Welt“. [20] Prostitution spielte eine besondere Rolle, weil der bürgerlichen Familie sexuelle Interessen genommen und den Prostituierten zugewiesen wurden. Von Frauen in der Familie wurde erwartet, Sex als Mittel zur Fortpflanzung zu erdulden, während Männern Bedürfnisse zugeschrieben wurden, die nur außerhalb der Schranken der Familie zu befriedigen waren. Einige viktorianische Moralisten rechtfertigten auf dieser Grundlage die Existenz von Prostitution. Die Historikerin Leonore Davidoff schrieb dazu:

Verteidiger der Prostitution hielten sie für eine notwendige Einrichtung, die als riesiger Abwasserkanal diente, um die ekelhaften, aber unvermeidlichen Abfallprodukte männlicher Lust wegzuspülen, während der Haushalt und die Damen der Mittelschicht rein und unbefleckt blieben. [21]

Alexandra Kollontai schrieb, Prostitution sei „der unvermeidliche Schatten der offiziellen Einrichtung der Ehe, die das Recht auf Privateigentum schützen und Garant der Vererbung über eine Linie gesetzlicher Erben sein soll“. [22] Diese Einstellung erklärt, warum Prostitution moralisch verurteilt, aber toleriert wurde und in Ländern wie Frankreich sogar staatlich reguliert war.

In der Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre gab es Strömungen, die die marxistische Theorie über den Ursprung der Frauenunterdrückung wiederbelebten. Anfangs versuchte die Frauenbewegung die wirtschaftliche Ausbeutung von Frauen durch Kampagnen gegen Diskriminierung und für gleichen Lohn im Betrieb zu bekämpfen. Die Bewegung setzte sich auch für Kinderbetreuung rund um die Uhr ein, für gleichen Zugang zu Bildung und Beschäftigung und die Ausweitung der Kontrolle von Frauen über ihre Fruchtbarkeit durch Zugang zu Verhütungsmitteln und Abtreibung. Frauen griffen Stereotype über ihr Aussehen und die Doppelmoral an, die sexuelle Aktivität der Männer positiv zu sanktionieren, während Frauen, die sich dieselben Freiheiten nahmen, gegeißelt wurden.

Die Errungenschaften der Frauenbewegung konnten aber nicht erhalten bleiben. Ein Flügel der Bewegung zog sich in die Politik des Persönlichen zurück und setzte an die Stelle des kollektiven Kampfs den individuellen Lebensstil, während der andere, die sozialistischen Feministinnen, sich vor den Karren der Labour Party spannen ließen. Dadurch wurde die Bewegung in ihrem Bestreben, Ungleichheit im Betrieb und Frauenunterdrückung im Allgemeinen zu bekämpfen, erheblich geschwächt. Der Niedergang der Frauenbewegung verbunden mit der zunehmenden Vermarktung von Sex öffnete den Weg für die Rückkehr des Sexismus in neuer Form, des sogenannten ironischen Sexismus, der zur Normalisierung von „Männermagazinen“, Pornografie und Lapdancing-Clubs geführt hat. Heute sind viel mehr Frauen Teil der Arbeiterklasse als je zu vor, und obwohl einige Fortschritte erzielt wurden, ist es noch ein weiter Weg bis zur wirklichen Gleichheit. Obwohl die Ideologie der Kleinfamilie stärker ist als die Realität, bleibt die Familie zentral für den Kapitalismus, um Arbeitskraft zu reproduzieren und soziale Aufgaben zu übernehmen.

Unterdrückung von Frauen und Fortbestand der Familie werden durch die Interessen des Kapitalismus erzeugt, dem am meisten gedient ist, wenn die Last der sozialen Fürsorge auf die Familien abgeladen wird. Frauen bleibt nur eine postfeministische Ideologie, die ihnen sagt, dass sie gleichgestellt und befreit sind, während sie in der Realität ungleich bezahlt werden, die Hauptverantwortung für die Kinderbetreuung tragen und sexistischer Diskriminierung ausgesetzt sind.

Der Kapitalismus im 21. Jahrhundert hat die Verdinglichung von Frauen und die Kommodifizierung von Sex, also seine Verwandlung in Ware, vorangetrieben. Sex wird überall eingesetzt, um alles Mögliche zu verkaufen. Die Vorherrschaft der Marktkonkurrenz über persönliche Beziehungen schafft eine Situation, in der menschliche Bedürfnisse in Waren verwandelt werden, die für Profit verkauft werden können. In seinen Frühschriften beschrieb Marx das wie folgt:

Jeder sucht eine fremde Wesenskraft über den andern zu schaffen, um darin die Befriedigung seines eigenen eigennützigen Bedürfnisses zu finden. […] Subjektiv selbst erscheint dies so, teils dass die Ausdehnung der Produkte und der Bedürfnisse zum erfinderischen und stets kalkulierenden Sklaven unmenschlicher, raffinierter, unnatürlicher und eingebildeter Gelüste wird. […] jede Not ist die Gelegenheit, um unter dem liebenswürdigsten Schein zum Nachbarn zu treten […], sich seinen verworfensten Einfällen [zu fügen], den Kuppler zwischen ihm und seinem Bedürfnis [zu spielen], krankhafte Gelüste in ihm [zu erregen], jede Schwachheit ihm [abzulauern], um dann das Handgeld für diesen Liebesdienst zu verlangen. [23]

Heutzutage haben wir uns so sehr an die Verwandlung all unserer menschlichen Bedürfnisse in Waren gewöhnt, dass uns das fast als natürlich erscheint. Bei ihrer habgierigen Suche nach neuen ausbeutbaren Märkten drängen sich kapitalistische Organisationen immer mehr in alle Aspekte unseres Lebens und verwandeln sie dabei noch weiter. Auf diese Weise kann mit Geld alles gekauft werden, einschließlich der Vorspiegelung von Liebe. Die andere Seite der Medaille ist jedoch, dass all unsere menschlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten auf das Konsumieren eingeengt werden oder, wie Marx es nannte, auf das Gefühl des Habens:

Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, dass ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, also als Kapital für uns existiert oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unsrem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz, gebraucht wird. [24]

Unsere Fähigkeit, sexuelles Vergnügen zu empfinden, wird uns entfremdet und in eine Ware verwandelt, die wir dann zu konsumieren trachten. Aber dieser Prozess verwandelt sexuelles Selbstbewusstsein und Befriedigung in Ziele, die immer schwerer zu erreichen sind. In ihrem Buch Female Chauvinist Pigs: Women and the Rise of Raunch Culture zeigt Ariel Levy, wie sich zunehmende Kommodifizierung von Sex und Verdinglichung von Frauenkörpern immer weiter von sexuellem Vergnügen und von Erfüllung entfernt und gelöst haben. [25] Die Sexindustrie scheint jetzt die Vorgaben für unzählige Fernsehprogramme zu machen, in denen Frauen ermutigt werden, persönliches Glück durch chirurgische, kosmetische und kleidungsmäßige Optimierung und Anpassung an bestimmte sexuelle Stereotype zu suchen. In den USA stieg von 1992 bis 2004 die Zahl der Brustvergrößerungen um 700 Prozent. In einigen südamerikanischen Ländern gilt dies als übliches Geschenk für eine Tochter, wenn sie 18 Jahre alt wird. [26] Zunehmend werden Frauen sogar darauf vorbereitet, sich der „Vaginaplastik“zu unterziehen, mit der ihre Vulva und die Schamlippen chirurgisch verändert werden, damit sie aussehen wie die von Pornostars im Playboy. Es gibt kaum ein anschaulicheres Beispiel dafür, wie vor allem Frauen von ihren Körpern derart entfremdet werden, dass sie bereit sind, jemandem Geld dafür zu zahlen, sie in Form zu schneiden und zu nähen, um angeblich begehrenswerter für andere zu werden.

Sex ist nicht ausgenommen von den Bedingungen, die alle Aspekte unseres Lebens formen. Jede Sexualität wird von den materiellen Bedingungen und gesellschaftlichen Prioritäten der Gesellschaft geprägt, in der wir leben, aber die offene Behandlung von Sex als Ware, die auf dem Markt verkauft wird, ist nicht nur ein weiterer Aspekt dieses Prozesses. Sexualität wird als letzter intimer Aspekt unseres Selbst gesehen. Sex ist Teil unserer menschlichen Natur, eine Erfahrung, die erfüllend und ein wesentlicher Teil der eigenen Identität sein kann. Ein Wirtschaftswissenschaftler sagte dazu:

Prostitution ist ein klassisches Beispiel dafür, wie Kommodifizierung ein Geschenk entwertet und mit ihm den Schenkenden, da sie die Gegenseitigkeit zerstört, die zur Verwirklichung menschlicher Sexualität als geteiltes Gut erforderlich ist, und auch die gegenseitige Anerkennung der Bedürfnisse des jeweiligen Partners. [27]

Offenheit in der Frage von Sex und Erwartungen an sexuelle Erfüllung waren Hauptforderungen der Frauenbewegung. Die sexuelle Freiheit, für die in den 1960er und 1970er Jahren gekämpft wurde, wurde jedoch entstellt und zur Ware umgemodelt. Der Verkauf von Sexualität an Kunden verwandelt den Körper in ein Objekt, einen Gebrauchsgegenstand für irgendwen. Der kommerzialisierte Sex wird jedes Bestrebens nach Autonomie und persönlicher Befriedigung brutal beraubt, er degradiert Frauen wie Männer und verstärkt die rückständigsten Vorurteile über Frauen.
 

Die Organisierung von Sexarbeiterinnen

Nach der russischen Revolution von 1917 glaubten die Bolschewiki, Prostitution sei mit dem Streben nach sexueller Gleichheit nicht vereinbar. Sie hoben alle Gesetze zur Prostitution auf, und der erste Allrussische Kongress der Arbeiterinnen und Bäuerinnen fand unter der Parole statt: „Eine Frau in der sowjetischen Arbeiterrepublik ist eine freie Bürgerin mit gleichen Rechten und kann und darf nicht Gegenstand von Kauf und Verkauf sein.“ Trotz dieser Proklamationen nahm die Prostitution in Russland nach 1917 vor allem wegen der nach wie vor harten wirtschaftlichen Bedingungen zu. Es wurde sehr unterschiedlich damit umgegangen: In einigen Gegenden konnten Bordelle offen operieren, während in anderen die Prostituierten verhaftet wurden.

Nach Kollontais Auffassung war Prostitution falsch, aber nicht aus moralischen Gründen, sondern weil sie verhinderte, dass Frauen ihren Beitrag zur sozialistischen Gesellschaft leisten konnten. Außerdem sah sie in Prostitution eine Bedrohung für die neue sozialistische Moral, weil sie die Solidarität und Kameradschaft in der Arbeiterklasse zerstörte. Deshalb fand der Kampf gegen Prostitution an zwei Fronten statt: Zum einen ging es um die Herstellung ökonomischer Gleichheit für Frauen und ihre Integration in die Arbeiterschaft, zum anderen um die Schwächung der Familie als Quelle der Frauenunterdrückung durch Einführung von Gemeinschaftskantinen und -wäschereien und von Kindergärten. [28]

Es gab auch einen lebhaften Austausch über Prostitution und Sexualität zwischen Lenin und der deutschen Sozialistin und Aktivistin für Frauenrechte, Clara Zetkin. Lenin stellte fest, dass Prostituierte „bedauernswerte doppelte Opfer der bürgerlichen Gesellschaft [sind]: erst ihrer verfluchten Eigentumsordnung und dann noch ihrer verfluchten moralischen Heuchelei“. Dennoch verurteilte er die Bemühungen einer Kommunistin in Hamburg, Prostituierte zu organisieren, als „krankhaften Auswuchs“. Und weiter sagte er, Sozialisten sollten sich auf das Organisieren von Frauen dort konzentrieren, wo sie kollektive Macht haben, in den Betrieben, und so die gesamte Gesellschaft verändern können. Lenin blickte mit Verachtung auf die „Tugendheuchelei der ehrenwerten Bourgeoisie“ herab, die sich mit moralischer Empörung über die Übel der Prostitution ausließ. [29] Zetkin selbst forderte ein „selbstständiges Einkommen für die Arbeiterinnen als reelle, positive Alternative zu einem Leben in Prostitution“. [30]

Einige Aktivisten und Akademiker sagen, Prostitution sei eine Arbeit wie jede andere, da Sexarbeiterinnen die Bezahlung für ihren Dienst aushandelten, Kontrolle über ihre Arbeitsbedingungen und größere Autonomie als Frauen in schlecht bezahlten Hilfsarbeiterjobs hätten. Das ändert nichts daran, dass die Möglichkeit der kollektiven Organisation sich erst daraus ergibt, unter denselben Bedingungen und demselben Arbeitgeber tätig zu sein, dieselben Arbeitskonflikte zu haben, gegen die gemeinsam vorgegangen werden kann.

Sexarbeiterinnen stehen vor großen Hindernissen, sich kollektiv zu organisieren und ihre Bezahlung und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Straßenprostituierte leben am Rande der Gesellschaft, sind isoliert und verzweifelt, sie haben wenig Möglichkeit, für tarifliche Bezahlung zu kämpfen oder kollektiv mit den Kunden zu verhandeln oder in Rentenversicherungen einzuzahlen. In Großbritannien sind die Frauen, die auf der Straße arbeiten, meistens aus der Gesellschaft ausgeschlossen, sie sind von zu Hause weggelaufene Teenager, Drogenabhängige oder illegale Einwanderinnen, für die Prostitution das Mittel zum Überleben ist. Es ist überhaupt nicht sicher, dass sie in die bürgerliche Gesellschaft als „Sexarbeiterinnen“ eingegliedert werden möchten, selbst wenn sie diese Möglichkeit hätten. Nicht alle, die Sex verkaufen, sehen sich selbst als „Sexarbeiter“ oder möchten als solche anerkannt werden. [31]

In Entwicklungsländern ist die Situation häufig komplexer. Aus dem 19. Jahrhundert und vom Anfang des 20. Jahrhunderts sind viele Beispiele bekannt, dass Prostituierte wegen schlechter Behandlung protestierten und sich organisierten. Die heutige uruguayische Sexarbeiterinnen-Organisation geht auf den Kampf der polnischen Prostituierten im 19. Jahrhundert zurück. Der alltägliche Widerstand ist in Lucknow (Indien) und in Guatemala bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts dokumentiert, dann in den 1920er und 1930er Jahren im kolonialen Kenia. [32] In den 1970er Jahren wurden wichtige Anstrengungen zur Organisierung von Sexarbeiterinnen unternommen und erneut Anfang der 1990er Jahre als Reaktion auf HIV/Aids. Eine dritte Organisationswelle scheint sich besonders in Indien und Argentinien herauszubilden. Die im südindischen Bundesstaat Karnataka im Jahr 2006 gegründete Sexarbeiterinnen-Organisation hat sich selbstbewusst als Gewerkschaft konstituiert und sich der Initiative Neue Gewerkschaften (NTUI) angeschlossen, die auch andere Beschäftigte der Schattenwirtschaft organisiert. Sie hat Frauen geholfen, sich in die Wahlregister einzutragen, kämpft gegen Kriminalisierung von Kunden und drängt die Regierung, gegen Gewalt an Sexarbeiterinnen tätig zu werden. [33]

Im Jahr 2001 wurde die Vereinigung der Prostituierten Argentiniens (Ammar) als Sexarbeiterinnen-Organisation offizielles Mitglied des Gewerkschaftsdachverbands Argentinische Arbeiterzentrale (CTA). Obwohl dieser Beitritt in der Gewerkschaftsbewegung umstritten war, ging er über eine rein symbolische Geste hinaus. Die CTA brachte Mittel auf, um Frauen vor Missbrauch zu schützen, und Ammar-Bezirkssekretäre übernahmen Verantwortung als gewählte Mitglieder der CTA. [34] An keiner Stelle wurde behauptet, dass Sexarbeit wünschenswert oder erfüllend sei, sondern sie wurde gerade für Alleinerziehende als einzige Möglichkeit gesehen, sich und die Familienangehörigen zu ernähren. Mit den Worten eines Ammar-Mitglieds: Wir sind nicht im Alleinbesitz der Wahrheit. Wir überlassen es der Diskussion, ob es in der Zukunft, von der wir träumen, mit dem Tag, da keine Frauen mehr diese Arbeit aus Not verrichten müssen, Frauen geben wird, die diese Tätigkeit dennoch ausüben wollen. [35]
 

Der Aufstieg der Lapdancing-Clubs

Die Sexindustrie geht weit über den unmittelbaren Austausch von Geld gegen Sex hinaus. Lapdancing-Clubs sind ein konkreter Ausdruck der Sexindustrie, und Sozialisten müssen sich dazu verhalten. Erstens waren eben dies die Orte, in denen es angeblich „Erotikarbeit“ gibt und die von der Gewerkschaft GMB als Rekrutierungsfeld ausgesucht wurden. Zweitens müssen wir als Sozialsten oder Aktivistinnen in unseren Gemeinden eine Haltung dazu entwickeln, ob Lapdancing-Clubs in unserer Wohngegend hinnehmbar sind.

Lapdancing-Clubs sind wichtige Bereiche der Sexindustrie, weil sie als ihr respektables Aushängeschild präsentiert werden. Clubs wie Spearmint Rhino haben es geschafft, sich dank gekonnten Marketings und der Unterstützung von Berühmtheiten eine Aura der Achtbarkeit zuzulegen. Während Stripclubs und Bordelle als schäbig und geschmacklos gelten, werden Lapdancing-Clubs als Kernelement der „Jungskultur“ (Lad Culture) angesehen, wo die „City Boys“, die Jungs von der Börse, ihre weit überhöhten Boni verpulvern können. Noch schlimmer ist, dass die Unternehmen Betriebsfeiern in einem Club, die Getränke und Bezahlung von Frauen, die dort tanzen, als Geschäftsausgaben verbuchen und 15 Prozent Mehrwertsteuer zurückfordern können. [36] Das ist ein gutes Beispiel für die tief verwurzelte Diskriminierung und den Sexismus im Finanzsektor. In dieser „ironischen“ und postfeministischen Kultur ist die Beteiligung nicht auf Männer beschränkt. Frauen werden als puritanisch und als Spielverderber abgetan, wenn sie nicht mitmachen.

Lapdancing wurde als der am „schnellsten wachsende Bereich der britischen Sexindustrie“ beschrieben. Es gibt 150 Clubs in Großbritannien, allein 20 in London, und sie erbringen geschätzt 1 Milliarde Pfund Profit im Jahr. [37] Zur Verbreitung dieser Clubs hat unter anderem das Lizenzengesetz aus dem Jahr 2003 beigetragen, mit dem die Gewerbe jetzt alle über einen Kamm geschert werden und kein Club eine besondere Genehmigung für Nacktauftritte mehr braucht. Einige haben behauptet, Lapdancing sei völlig getrennt von der Sexindustrie und nur eine von vielen Freizeitaktivitäten, die einfachen Menschen zugänglich sind. Der frühere Besitzer des Lapdancing-Clubs For Your Eyes Only (Nur für deine Augen bestimmt), Alan Whitehead, weist Kritik an seinem Beitrag zur Sexindustrie zurück und sagt: „Es stimmt, dass sie ihre Klamotten ausziehen, aber sie sind keine Stripper, sondern Tänzer.“ [38]

Lapdancing wird als Job angepriesen, in dem Frauen viel Geld machen können und gewisse Macht und Autonomie haben. Für die große Mehrheit der Frauen ist das blanker Unsinn. Alle Lapdancer in den Clubs arbeiten dort freischaffend und sind abhängig von Trinkgeldern und der Bezahlung privater Auftritte. Die Tänzerinnen zahlen 35 bis 100 Pfund die Nacht an das Clubmanagement, um Einrichtungen wie Stangen, Kabarettbereiche, private Tanzkabinen und VIP-Suiten zu „mieten“. Diese Art der Freiberuflichkeit ist nicht befreiend, sondern bedeutet permanente Unsicherheit und Unterordnung. Die Frauen haben weder die Kontrolle, noch sind sie autonom oder selbstermächtigt – sie werden strikt beaufsichtigt.

Gesetzesänderungen, aufgrund derer Lapdancing-Clubs jetzt als „Sexbegegnungsstätten“ klassifiziert werden, sollten – wenn auch mit Vorsicht – begrüßt werden. Radikalfeministinnen wie Julie Bindel waren bereit, sich mit rechten Gruppen zu verbünden, um den Staat aufzufordern, Lapdancing-Clubs zu verbieten. Sozialisten sollten mit solchen Leuten nichts zu tun haben. Abgesehen davon, dass wir moralisierenden Argumenten begegnen müssen, können wir keine Lösung darin erkennen, dem Staat mehr Macht zu geben, denn der Staat ist ein Instrument der Unterdrückung, nicht der Befreiung. Zum Beispiel wurde 1984 das Jugendschutzgesetz von 1959 benutzt, um eine Razzia auf einen schwulen Buchladen zu veranstalten und hunderte von Büchern im Rahmen des moralischen Gegenschlags unter Margaret Thatchers konservativer Regierung zu beschlagnahmen.

Der Einfluss von Lapdancing-Clubs auf ihre unmittelbare Umgebung reicht sehr viel weiter als das, was konkret drinnen passiert. Das heißt, Frauen, die in diesem Gebiet leben und arbeiten,müssen eher mit Belästigungen rechnen. Im Jahr 2006 ist die linke Respect-Fraktion des Londoner Bezirks Tower Hamlets gegen die Ausweitung von Lizenzen für Lapdancing-Clubs aufgetreten, weil dort Frauen erniedrigt und ausgebeutet werden und die Clubs zudem zu New Labours Programm gehören, Londoner Bezirke dadurch aufzumöbeln, dass sie als Spielfeld für die Reichen hergerichtet werden. Die Verwaltung des Bankenbezirks (City of London) genehmigt keine Lapdancing-Einrichtungen. Stattdessen werden Massen von Börsenmaklern mit Taxis von der City in die benachteiligten Gebiete wie Tower Hamlets am Rande der City gekarrt.

Lapdancing-Clubs sind ein Symptom dafür, wie sehr die Sexindustrie normalisiert und akzeptabel wurde. Vor 2003 bot das Jobcentre Plus (das britische Arbeitsamt) keine freien Stellen in der „Erwachsenen-Entertainment“-Branche an, da eine Ablehnung der Arbeit zur Streichung der Beihilfen geführt hätte. Nach einem Rechtsstreit von Ann Summers Ltd (einer Art Beate Uhse für Frauen) im Jahr 2003 wurde diese Entscheidung rückgängig gemacht. In den Jahren 2006 und 2007 wurden in den Arbeitsämtern 351 Jobs in diesem Bereich angeboten, einschließlich Arbeit als Poledancer, „Erwachsenen“-Chatter, Masseuse und Begleiterin. [39]

Einige Vertreter der Kampagne für Rechte der Sexarbeiterinnen sagen, erotisches Tanzen sei ein Erwachsenenvergnügen und kein Sexdienst, und diese Gruppe von Arbeiterinnen sollten dieselben Arbeitsrechte und denselben Schutz haben wie andere Arbeiterinnen und Arbeiter in der Wirtschaft auch. Im Jahr 2001 wurden „Erotiktänzer“ und andere Beschäftigte der Sexindustrie eingeladen, der Gewerkschaft GMB beizutreten. Die GMB übernahm die Definition der International Union of Sex Workers (IUSW), wonach „alle Arbeiterinnen und Arbeiter“, die „ihren Körper und/oder ihre Sexualität einsetzen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen“, als Sexarbeiter gelten. Im Jahr 2004 hatte sie eine Abteilung mit 150 Mitgliedern, hauptsächlich Schoß- und Tischtänzerinnen. Die Gewerkschaften unterzeichneten eine Anerkennungsvereinbarung mit zwei Lapdancing-Clubs und sagen, die Arbeitsbedingungen hätten sich seitdem verbessert. Verhaltenskodizes und Beschwerdeprozeduren wurden vereinbart und Gewerkschaftsvertreter in den beiden Clubs gewählt. Die Absichten der GMB sind sicher ehrenhaft, aber es ist nicht klar, ob solch eine Organisierung über eine symbolische Präsenz in dem Gewerbe hinausgeht. Wenn die Frauen, die an diesen Orten arbeiten, sich organisieren können, um ihre Löhne zu heben und ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, dann müssen Sozialisten sie natürlich unterstützen. Wir sind nicht im Streit mit den Frauen, die dort arbeiten, sondern mit den Großunternehmen und Individuen, die riesige Summen aus der Kommodifizierung von Sex und dem Handel mit der Verdinglichung von Frauen einstreichen.

Sozialisten sollten gegen Lapdancing-Clubs auftreten, weil sie ein fester Bestandteil der Sexindustrie sind. Allein ihre Existenz trägt zur Fortsetzung der Unterdrückung von Frauen bei. Lapdancing-Clubs sind keine normalen Arbeitsplätze, und Versuchen, sie als solche zu charakterisieren, müssen wir entgegentreten. Unabhängig davon, ob die Tänzerinnen gewerkschaftliche Rechte haben oder nicht, funktionieren diese Clubs auf der Grundlage der Verdinglichung von Frauen, sie verpacken Frauen als Objekte zur sexuellen Befriedigung anderer. Die Existenz von Lapdancing-Clubs erschwert den Kampf gegen die Vorstellung, Frauen sollten danach beurteilt werden, ob sie den stereotypen Bildern von Frauenkörpern entsprechen oder wie verfügbar sie sexuell sind.
 

Sollen Männer kriminalisiert werden?

Statt der Kriminalisierung von Sexarbeiterinnen selbst haben einige Regierungen versucht, die Männer zu kriminalisieren, die sexuelle Dienste erbitten oder für sexuelle Dienste zahlen. Einer der umstrittenen Paragrafen des Polizei- und Kriminalitätsgesetzes von 2009 enthielt den Vorschlag, Männer zu kriminalisieren, die Sex kaufen. Die Begründung lautete, das Abwälzen der Schuld auf die Kunden führe zur Verringerung von Prostitution. Viele Organisationen und Vertreterinnen von Sexarbeiterinnen haben sich deutlich dagegen ausgesprochen, weil die Sexarbeit dadurch in den Untergrund getrieben und für die Frauen noch gefährlicher wird. [40]

In Schweden wurde 1998 der Kauf von Sex gesetzlich verboten. Dahinter verbirgt sich ein feministischer Ansatz, der Prostitution mit Vergewaltigung gleichsetzt. Straßenprostitution in Schweden ist zwar gesunken, aber über das Internet vermittelte Prostitution gestiegen. Einige sagen allerdings, dass es auch ohne das Gesetz zu dieser Entwicklung gekommen wäre. Sexarbeiterinnen-Organisationen haben zudem darauf hingewiesen, dass die Kriminalisierung ihrer Kunden sie nur in noch dunklere und weniger belebte Gegenden treibt und sie noch gefährdeter sind. Frauen, die auf der Straße arbeiten, sind von allen Sexarbeiterinnen am meisten marginalisiert und leiden am meisten unter solch einer Gesetzgebung. Julia O’Connell Davidson vermutet, dass die Aufforderung an den Staat, die Käufer von Sex zu bestrafen, einige Feministinnen ermutigte, Bündnisse mit repressiven Kräften des Staats und reaktionären Kräften einzugehen. Nach Davidson gehörte dazu:

Polizeichefs fordern mehr Macht für die Polizei und eine härtere Bestrafungspolitik, Einwanderungsgegner unter den Politikern fordern schärfere Grenzkontrollen, und die konservativen Sittenwächter drängen auf eine Rückkehr zu „Familienwerten“. [41]

Es ist nicht einfach, die Faktoren zu identifizieren, die Männer dazu bringen, für Sex zu bezahlen: Ihre Motive sind höchst unterschiedlich und es gibt viele Hindernisse für eine offene Diskussion über das Thema. Der „Freier“ ist die traurige, unzulängliche Person, die keine Beziehung zu Frauen aufbauen kann – so jedenfalls wird er meistens dargestellt. Dagegen steht das Ergebnis des Konsultationspapiers der Regierung, Paying the Price, aus dem Jahr 2004, wonach der typische Kunde „ein Mann um die 30 Jahre ist, verheiratet, vollzeitbeschäftigt und nicht vorbestraft“. [42] Inzwischen steigt die Zahl der Männer, die Prostituierte aufsuchen – oder es zugeben. Die britische Tageszeitung The Independent zitierte eine Studie aus dem Jahr 2005, veröffentlicht vom British Medical Journal, wonach der Anteil britischer Männer, die für Sex bezahlen, von 5,6 Prozent im Jahr 1990 auf fast 8,8 Prozent im Jahr 2000 gestiegen ist. Dr. Helen Ward, Hauptverfasserin des Berichts, sieht als Ursache dafür zunehmende Scheidungsraten, Sextourismus wie „Junggesellenurlaub“ und die steigende Verfügbarkeit von kommerziellem Sex durch solche Mittel wie das Internet:

Es ist viel akzeptierter, eine Prostituierte zu besuchen. Die Sexbranche ist viel sichtbarer. Jeder mit einem WAPTelefon oder einem Computer kann käuflichen Sex finden. Das ist Teil der allseitigen Kommerzialisierung – heutzutage erwarten wir, alles, was wir wollen, kaufen zu können. [43]

Es mag sein, dass Männer sich Sex kaufen, weil sie übermäßig viel arbeiten, isoliert sind von sozialen Netzen oder sich nur vorübergehend irgendwo aufhalten. Sie werden aber auch ermutigt zu denken, dass sie Sex haben sollten und Frauenkörper nur eine weitere käufliche Ware sind wie ein Auto oder ein Plasmafernseher. Das alles ist aber nicht unvermeidlich. Julia O’Connell Davidson schreibt:

Der Mensch ist nicht mit dem Wunsch geboren worden, kommerzielle Sexdienste zu kaufen oder Lapdancing-Clubs zu besuchen, ebenso wenig wie er mit einem spezifischen Bedürfnis geboren wurde, Lotto zu spielen oder Coca-Cola zu trinken. Jemand muss erst lernen, dass es ein Vergnügen sein soll, einem fremden Menschen Geld zu bezahlen, damit dieser nackt vor einem tanzt; ihm muss beigebracht werden, dass der Konsum solcher Dienste ein Zeichen dafür ist, dass er Vergnügen hat, ein Zeichen seiner gesellschaftlichen Identität und seines Status als „echter Mann“, „Erwachsener“, „nicht schwul“ und so weiter. [44]

Die kapitalistische Gesellschaft mit ihren sexistischen Gesellschaftsstrukturen und ihrem ungezügelten Konsumterror ist der wirkliche Ausbilder.
 

Staatsregulierung oder Unterdrückung

Geschichtlich gesehen hat der Staat auf das Sexgewerbe meistens mit einer Kombination aus Unterdrückung der Prostituierten und der stillschweigenden Anerkennung reagiert, dass Prostitution nicht abgeschafft werden kann und deshalb reguliert werden muss. Eines der bekanntesten Beispiele stammt aus dem Jahr 1864, als die britische Regierung das erste von drei Seuchengesetzen auf elf Garnisons- und Hafenstädte anwandte. Mit diesen Gesetzen wurde auf die Zunahme von Geschlechtskrankheiten im für das britische Reich so wichtigen Heer reagiert. Polizeibeamten wurde erlaubt, Frauen zu verhaften, die sie für Prostituierte hielten, und sie dann einer demütigenden und schmerzhaften Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten zu unterziehen. Frauen mit solchen Krankheiten konnten bis zu drei Monate in ein geschlossenes Krankenhaus (Lock Hospital) eingewiesen werden. Die Arbeiterinnen in den benannten Städten waren ständigen Belästigungen ausgesetzt und von Verhaftung bedroht. Mit einer landesweiten Kampagne wurde die Rücknahme der Seuchengesetze erzwungen, aber die dahinter stehende Haltung schlug sich in der späteren Gesetzgebung nieder.

Die heutigen staatlichen Reaktionen gehen in der Regel von zwei sich widersprechenden politischen Ideen aus: Nach der ersten ist Prostitution moralisch verwerflich und ein Angriff auf die guten Sitten, weshalb sie ausgerottet werden muss. Nach der zweiten ist Sex eine Ware wie jede andere, weshalb die Sexindustrie reguliert werden muss. Keine dieser beiden Strategien tragen dazu bei, die in der Sexindustrie angelegte Ausbeutung zu reduzieren.

Einige Kampagnenorganisationen wie das Englische Prostituiertenkollektiv verweisen auf die Entkriminalisierung der Prostituierten in Neuseeland im Jahr 2003 als nachahmenswertes Beispiel. Sie zeigen auf, dass die Sexarbeiterinnen wegen der Entkriminalisierung leichter Zugang zu Gesundheitsdiensten oder Polizeischutz haben und sich die allgemeine Haltung ihnen gegenüber verändert hat. Der Nutzen der toleranten Haltung gegenüber der Sexindustrie ist allerdings heftig umstritten. Andererseits hat das schwedische Modell der Kriminalisierung von Kunden, das als großer Erfolg im Kampf gegen Prostitution gefeiert wurde, lediglich dazu geführt, dass diese Aktivitäten jetzt im Untergrund stattfinden und deshalb für die Frauen gefährlicher geworden sind. Auch wenn wir die Entkriminalisierung der Prostitution voll und ganz unterstützen sollten, heißt das nicht, dass wir für eine Regulierung und Kontrolle durch den Staat sind. Staatseingriffe in die Sexindustrie sind nicht der Königsweg, die „Geilheitskultur“ (Raunch Culture) und den gesellschaftlichen Sexismus zu überwinden oder die materiellen Bedingungen zu verändern, die Frauen dazu bringt, Prostitution oder Lapdancing für die beste ihnen zur Verfügung stehende Alternative zu halten.

In Großbritannien behandelt die New-Labour-Regierung Prostitution als sozialschädliches Verhalten, belegt Prostituierte mit entsprechenden gerichtlichen Verfügungen (Anti-Social Behaviour Order, kurz: Asbo) und erklärt regelmäßig „null Toleranz“ bei Straßenprostitution. Alle Versuche, Sexarbeiterinnen zu helfen oder sie zu rehabilitieren, finden in diesem strafbewehrten Rahmen statt. Die Polizei wurde aufgefordert, enger mit den Wohlfahrtseinrichtungen zusammenzuarbeiten, die über Frauenhäuser verfügen und/oder besondere Gesundheitsprogramme und Programme gegen Drogen- und Alkoholmissbrauch anbieten, um den Frauen zu helfen, aus dem Sexgeschäft auszusteigen. Teil dieser Prozedur ist jedoch, dass Frauen über eine Asbo-Verfügung verpflichtet werden, an solchen Programmen teilzunehmen, um ihnen bei ihren Alkohol- oder Drogenproblemen zu helfen. Der Bruch der Asbo-Verfügung kann zu Gefängnis bis zu fünf Jahren führen, und eine Vorstrafe erschwert es Frauen anschließend, das Sexgewerbe aufzugeben. [45]

Die New-Labour-Regierung war angeblich besorgt über das Schicksal „gehandelter“ Frauen. Deshalb wurde im Jahr 2003 das Poppy-Projekt mit Geldern des Amts für Strafrechtsreformen eingerichtet. Die über das Projekt erstellte Untersuchung und der veröffentlichte Bericht Big Brothel (Großes Bordell) wurde von 27 Wissenschaftlern, die über die Sexindustrie forschen, und von Organisationen, die Sexarbeiterinnen vertreten oder mit ihnen zusammenarbeiten, heftig als fehlerhaft angegriffen. Sie erklärten, dass die Ergebnisse sensationsheischend seien. Sie würden nur dazu benutzt, Gesetze durchzubringen, die sich gegen zugewanderte und einheimische, Sex verkaufende Frauen richteten. [46]

Vor Kurzem wurde das im Jahr 2009 verabschiedete Polizei- und Verbrechensgesetz von Politikerinnen wie Harriet Harman als wohlmeinendes feministisches Projekt verkauft. Wir sollten unsere Haltung zu diesem Gesetz davon abhängig machen, ob damit Sexarbeiterinnen und ihre Familien geschützt werden – was nicht der Fall ist. Die schärfere Definition von „anhaltender Kontaktanbahnung“ (wobei „anhaltend“ jetzt zweimal innerhalb eines Quartals bedeutet), die Zwangs-„Rehabilitierung“ der Verhafteten, Razzien auf Bordelle und Bordellschließungen werden die Prostitution weiter in den Untergrund treiben. Angst vor Verhaftung hält Frauen davon ab, Gewalt anzuzeigen oder Gesundheits- und andere Dienste in Anspruch zu nehmen. Die Mehrheit der Sexarbeiterinnen sind Mütter, die ihre Kinder vor dem Stigma der Kriminalisierung schützen wollen und vor einer Trennung als Folge einer Haftstrafe. Mit dieser Gesetzgebung würden Frauen bestraft, die in einer Wohnung arbeiten. Im Mai 2009 stimmten 93 Prozent der Beschäftigten des Royal College of Nursing dafür, dass bis zu vier Sexarbeiterinnen legal in einer Wohnung arbeiten dürfen. Sie begründeten das damit, dass die Entkriminalisierung das Stigma der Prostitution aufhebt und die Frauen dann ungehindert die notwendigen Gesundheitsdienste in Anspruch nehmen können.

Immer häufiger werden Maßnahmen vorgeschlagen, mit denen Männer gehindert werden, Sex von Straßenprostituierten zu kaufen. Sie werden gerechtfertigt als Mittel gegen Menschenhandel. Dagegen gab es schwerwiegende Einwände von Gruppierungen, die sich mit der Sicherheit von Straßenprostituierten, mit ihren Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten beschäftigen. [47] Mit Blick auf „gehandelte“ Frauen trägt die Regulierung von kommerziellem Sex zunächst einmal nichts dazu bei, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit oder Vorurteile gegen Einwanderer und ethnische Minderheiten zu bekämpfen. Das Ende drakonischer Einwanderungskontrollen und garantiertes Asyl für diese Frauen würden dagegen den „Handel“ sofort untergraben.
 

Schlussfolgerungen

Ausgebeutete haben die Möglichkeit, ihre Entfremdung durch kollektiven Kampf aufzuheben, der offenlegen kann, wie der Markt unser Leben beherrscht und wo die wahre Macht für Veränderung liegt. Deshalb haben Arbeiterinnen und Arbeiter grundsätzlich die Macht, eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen, in der Menschen demokratische und kollektive Kontrolle über ihre Gesellschaft und jeden Aspekt ihres Lebens ausüben, einschließlich ihrer sexuellen Beziehungen.

Die Situation von Frauen, die auf der Straße arbeiten, könnte durch Rehabilitierungsprogramme und Behandlung bei Drogenabhängigkeit verbessert werden, würden ernsthaft Mittel zur Verfügung gestellt. Knäste können keine Drogenabhängigkeit kurieren und bieten den Frauen schon gar nicht einen Weg aus der Prostitution. Um die Zahl der Prostituierten zu verringern, sollte die Regierung Initiativen entwickeln, um Frauen Berufsausbildung und Beschäftigung anzubieten. Ebenso sind Rehabilitationsberatung und Unterstützung für Frauen nötig, die emotional geschädigt und abhängig von Drogen und Alkohol sind. Straßenprostituierte sollten nicht noch zusätzlich durch Verurteilung wegen Kuppelei belastet werden, damit sie eine reguläre Arbeit finden können. Entkriminalisierung von Prostitution und Asyl für alle „gehandelten“ Frauen wären eine große Erleichterung für das Leben dieser Frauen.

Eine echte Alternative für Frauen, die in der erweiterten Sexindustrie arbeiten, kann nicht getrennt werden von einem Kampf für echte Chancen auf dem Arbeitsmarkt, für qualitativ gute und erschwingliche Kinderbetreuung und kostenlosen Zugang zu höherer Bildung. Wenn Frauen sich für Telefonsex oder Arbeit als exotische Tänzerinnen „entscheiden“, dann weil das besser in die Realität ihres Alltagslebens, die Versorgung ihrer Familien oder das Studium passt als die schlecht bezahlten oder unflexiblen Alternativen.

Während die Reform des Sexgewerbes Frauen helfen könnte, sollte das Ziel jedoch darin bestehen, die Abhängigkeit vom Verkauf von Sex und Sexualität zu reduzieren, statt dies zu normalisieren oder zu legitimieren. „Sexarbeit“ ist keine Arbeit wie jede andere. Sie ist nicht nur ein Symptom für die besonders degradierenden und entfremdeten Aspekte des Lebens im Kapitalismus, sondern verstärkt diese Degradierung und Entfremdung noch. Viele heutige Tätigkeiten würden in einer sozialistischen Gesellschaft immer noch verrichtet werden. Aber wir glauben, dass Armut, Entfremdung und Unterdrückung, die der Sexindustrie erst Auftrieb geben, absterben werden. Die Verwandlung von Sex in Ware beraubt die Menschen einer echten Wahl und Erfüllung ihres Sexuallebens. Die Zurschaustellung von Sexualität in Lapdancing-Clubs oder „Männermagazinen“ fördert nicht die sexuelle Freiheit, sondern trägt dazu bei, dass diese noch schwerer zu erreichen ist. Menschen haben das Potenzial, echte erfüllende und freie sexuelle Beziehungen zu begründen. Wie Engels einst sagte:

Was wir also heutzutage vermuten können über die Ordnung der Geschlechtsverhältnisse nach der bevorstehenden Wegfegung der kapitalistischen Produktion ist vorwiegend negativer Art, beschränkt sich meist auf das, was wegfällt. Was aber wird hinzukommen? Das wird sich entscheiden, wenn ein neues Geschlecht herangewachsen sein wird: ein Geschlecht von Männern, die nie im Leben in den Fall gekommen sind, für Geld und andere sozialen Machtmittel die Preisgebung einer Frau zu erkaufen, und von Frauen, die nie in den Fall gekommen sind, weder aus irgendwelchen Rücksichten als wirklicher Liebe sich einem Mann hinzugeben noch dem Geliebten die Hingabe zu verweigern aus Furcht vor ökonomischen Folgen. Wenn diese Leute da sind, werden sie sich den Teufel darum scheren, was man heute glaubt, dass sie tun sollen; sie werden sich ihre eigene Praxis und ihre danach abgemessne öffentliche Meinung über die Praxis jedes Einzelnen selbst machen – Punktum. [48]


Fußnoten

1. GMB – General, Municipal, Boilermakers and Allied Trade Union; TUC – Trades Union Congress; UCU – University and College Union; CWU – Communication Workers Union.

2. Times Higher Education, 11. Dezember 2008, Rezension der Arbeit von Dr. Teela Sanders.

3. Elisabeth Bernstein, The Meaning of the Purchase: Desire, Demand and the Commerce of Sex, Ethnography, Band 2.3, 2001. – Lap- und Walldancing (Schoß- und Wandtanzen) sind erotisch gemeinte Tänze auf dem Schoß der Kunden und an Wänden; beim Drive-through-Strip können die Kunden aus ihren Autos durch Scheiben gucken, hinter denen gestrippt wird; d. Übers.

4. Gregor Gall, Sex Worker Union Organising: An International Study (Palgrave), 2006.

5. www.isuw.org.

6. Gall, S. 35.

7. Nils Johan Ringdal, Die neue Weltgeschichte der Prostitution, München 2007, S. 16–107.

8. Ringdal.

9. Alexandra Kollontai, Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung. Vierzehn Vorlesungen vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Sverdlov-Universität 1921, Frankfurt am Main 1975, 2. Vorlesung; Kollontai [1921], Prostitution and Ways of Fighting It, in: Alix Holt, Selected writings of Alexandra Kollontai (Allison & Busby), 1977.

10. Kollontai 1921, in: Holt.

11. Henry Mayhew, London Labour and the London Poor, 1861.

12. Alfred Blaschko, zitiert nach Goldmann, in: Christopher Innes, A Sourcebook on Naturalist Theatre (Routledge), 2000.

13. Kollontai, 1921, in: Holt.

14. Ringdal, S. 342–345.

15. Gibson, Prostitution and the State in Italy (Rutgers University), 1986.

16. Katherine P. Avgerinos, From Vixen to Victim: the Sensationalisation and Normalisation of Prostitution in post-Soviet Russia, Vestnik, The Journal of Russian and Asian Studies 7, 2007.

17. Ebenda.

18. Independent on Sunday, 24. Juni 2007.

19. Bebel, Die Frau und der Sozialismus (1879), Berlin 1973; Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 21, Berlin 1975.

20. Bebel, S. 207; Engels, Ursprung der Familie.

21. Leonore Davidoff, Worlds Between: Historical Perspectives on Gender and Class (Blackwell), 1995.

22. Kollontai, in: Holt, S. 20.

23. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW, Ergänzungsband 1, Berlin 1968, S. 547–548.

24. Marx, 1968, S. 540.

25. Ariel Levy, Female Chauvinist Pigs: Women and the Rise of Raunch Culture (Simon & Schuster), 2006, S. 22.

26. Levy, S. 158.

27. Elizabeth Anderson, Value in Ethics and Economics (Harvard University), zitiert nach: Marjolein Van der Veen, 2001, Rethinking Commodification and Prostitution: an Effort at Peacemaking in the Battles Over Prostitution, Rethinking Marxism, Band 13, Nummer 2, 1993.

28. Kollontai, in: Holt.

29. Clara Zetkin, Erinnerungen an Lenin (1925), Berlin (Dietz) 1975. (Ringdal weist dieses Zitat Zetkin zu, ebenfalls Pritchard, die sich auf Ringdal stützt. Tatsächlich aber gibt Zetkin Lenin wieder; d. Übers.)

30. Ringdal, S. 308.

31. Julia O’Connell Davidson, Men, Middlemen and Migrants, Eurozine, 27. Juli 2006.

32. Pamela J. Downe, Laughing when it hurts: Humour and Violence in the Lives of Costa Rican Prostitutes, in: Women’s Studies International Forum 22, 1999; Kamala Kempadoo und Jo Doezema, Global Sex Workers: Rights Resistance and Realities (Routledge), 1998.

33. Kate Hardy, (Sex)Working Class Subjects: Incorporating Sex Workers into the Argentine Labour Movement, in: International Labour and Working Class History (Cambridge) 2010.

34. Hardy, 2010. Ammar: Asociación de Mujeres Meretrices de la Argentina; CTA: Central de los Trabajadores de la Argentina.

35. Hardy 2010.

36. Independent, 20. September 2009.

37. London Evening Standard, 17. August 2007.

38. Daily Mirror, 9. Juli 2003.

39. Jobcentre Plus.

40. www.prostitutescollective.net/PolicingandCrimeHowToOppose.htm und www.womeninlondon.org.uk/2009/11/notice-ecp-2.

41. O’Connell Davidson, S. 55. “Sleeping with the Enemy”? Some Problems with Feminist Abolitionist Calls to Penalise Those Who Buy Commerical Sex, in: Social Policy and Society, Band 2.1 (Cambridge), 2003.

42. Paying the Price, Konsultationspapier der Regierung, London 2004.

43. Independent, 8. April 2007.

44. O’Connell Davidson, 2006.

45. Observer, 12. August 2007.

46. Guardian, 20. Oktober 2009; Alison Murray, Debt-bondage and Trafficking; Don’t Believe the Hype, in: Kempadoo und Doezema, 1998.

47. www.prostitutescollective.net/PolicingandCrimeHowToOppose.htm.

48. Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, MEW Bd. 21, Berlin 1962, S. 83.


Zuletzt aktualisiert am 4.6.2011