Stefanie Haenisch

 

Entqualifizierung der Arbeiter

Ausbildung statt Ausbeutung!

(1995)


Aus Sozialismus von unten (erste Serie), Nr.4, August 1995, S.6-11.
Copyright © 1995 Verein für Geschichte und Zeitgeschichte der Arbeiterbewegung (VGZA) e.V.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für REDS – Die Roten.


Angesichts der Not auf dem Lehrstellenmarkt und der schlechten Ausbildung für die Masse der Jugendlichen fordern SPD und Gewerkschaften, daß die betriebliche Berufsausbildung einer stärkeren öffentlichen Kontrolle unterstellt und durch eine Umlage aller Unternehmen finanziert wird. Die „Krise des dualen Systems“, die der DGB feststellt, soll damit gelöst, seine „Auszehrung“, sein „Austrocknen“ verhindert werden.

Vor 20 Jahren scheiterte die SPD-geführte Regierung bei ihrem Versuch einer im Kern gleichen Reform der Berufsausbildung am massiven praktischen Widerstand der Unternehmer. Es war eine tiefe Niederlage.

Bei den heutigen Reformvorschlägen gehen SPD und Gewerkschaften wie vor 20 Jahren davon aus, daß das Interesse der Jugendlichen an einer qualifizierten Ausbildung mit den langfristigen Interessen der Unternehmer an gut ausgebildeten Arbeitskräften übereinstimmt.

Dahinter steht die Annahme, daß die permanente technologische Revolution immer mehr „höherqualifizierte“ Arbeitskräfte braucht. Im Gegensatz dazu steht die These, daß unter kapitalistischen Vorzeichen die permanente technologische Revolution langfristig zu einer Entqualifizierung der Masse der Arbeitskräfte führt. Das „duale System“ der Berufsausbildung hat bisher den langfristigen Interessen der Wirtschaft sehr gut entsprochen. Deswegen mußten die Reformversuche der SPD in den 70er Jahren scheitern. Reformversuche einer SPD-geführten Regierung in den 90ern stünde das gleiche Schicksal bevor. Die Situation ist keineswegs „reifer“ geworden. Jede ernsthafte Reform der Berufsausbildung im Interesse der Masse Jugendlichen ist nur mit großen gewerkschaftlichen Kämpfen gegen die Interessen der Unternehmer durchzusetzen.

Etwa 70% der Jugendlichen, die die Schule verlassen, studieren nicht, sondern treten unmittelbar ins Arbeitsleben ein. Diese „vergessene Majorität“ sind gegenwärtig ca. 700 000 Jugendliche. Fast alle suchen eine Lehrstelle. Jugendliche ohne Hauptschulabschluß und Sonderschüler probieren es gar nicht mehr, sie verschwinden in Berufsfördermaßnahmen, schlecht bezahlten Jobs oder in die Arbeitslosigkeit. Das ist seit Mitte der 70er Jahre, mit Ausnahme von fünf Jahren, der Dauerzustand. [1]

Die Zukunft dieser Majorität hat sich weiter verdüstert, insbesondere in Ostdeutschland. Noch Anfang Juni fehlten dort fast 100 000 Lehrstellen. In Westdeutschland ist der Lehrstellenmarkt rechnerisch etwa ausgeglichen. Allerdings gibt große Ungleichgewichte in der regionalen Verteilung des Lehrstellenangebots. Außerdem zählt die Statistik auch die Lehrstellen in völlig perspektivlosen Berufen.

Selbst wenn die Wirtschaft ihr Versprechen halten sollte, bis zum Herbst ausreichend Lehrstellen anzubieten, so ist eins sicher: Hundertausende Jugendliche werden wieder nicht den Ausbildungsplatz finden, der ihren Wünschen, Neigungen und Fähigkeiten entspricht, sehr viele gehen ganz leer aus.

Von einem Recht auf freie Berufswahl kann man nicht sprechen.

 

 

Dauermisere

Die 100.000 fehlenden Lehrstellen in den neuen Ländern sind nur der Gipfel der Misere der Berufsausbildung. Seit Jahrzehnten wird untersucht und dokumentiert, wie das privatwirtschaftliche Ausbildungssystem die Interessen der Jugendlichen an einer guten Ausbildung nicht erfüllt:

Unzureichende Ausbildung, Ausbeutung, Auslese und Drill, diese Misere besteht seit Jahrzehnten und wird durch das System der „dualen Berufsausbildung“ produziert.

 

 

Duales System

Der Kern des dualen System ist nicht, wie fälschlicherweise oft dargestellt wird, die Durchführung der Berufsausbildung an zwei Lernorten, in Betrieb und

Schule. Wesentlich ist vielmehr, daß die betriebliche Berufsausbildung allein in den Händen der einzelnen Kapitalisten und ihrer Organe, den Handwerkskammern und den Industrie- und Handelskammern liegt; im Gegensatz zu den anderen Ausbildungszweigen in der BRD, die durch staatliche Organe (Kultusministerien, Schulbehörden usw.) geregelt, kontrolliert und finanziert werden. Die Unternehmer haben das Monopol in der Ausbildung der Masse der zukünftigen Arbeitskräfte.

In der letzten Wirtschaftskrise 93/94 hat sich die Ausbildungsmisere weiter verschärft. In Ostdeutschland führte das Platt- machen der Industrie auch zum Plattmachen der Ausbildungseinrichtungen. Handwerk und kleiner Mittelstand gedeihen zwar aufgrund der massiven Förderung durch die Bundesregierung, doch Lehrstellen entstehen nur wenige. Die wenigen, die entstanden sind, kassieren dafür Subventionen aus Bundes-und Landesprogrammen. In Brandenburg und Thüringen z.B. werden 60% der Lehrstellen staatlich subventioniert. [4] [5]

Die staatliche Päppelung des Systems der dualen Berufsausbildung ist aber kein bloßes „Ubergangsproblem“ Ostdeutschlands. Auch im Westen ist diese Tendenz sichtbar: für ein Viertel der Lehrstellen in NRW schießt der Staat Gelder zu. [4]

Nach Angaben des BDI-Präsidenten Henkel hat in Westdeutschland die Industrie massiv Ausbildungsplätze vernichtet: seit 1991 25 Prozent. [6] 1994 hat der Öffentliche Dienst fast die gleiche „Leistung“ erbracht (–23%) [7]

 

 

Konsequenzen?

SPD und Gewerkschaften ziehen aus dieser Krise leider nicht die Konsequenz, endlich für eine Abschaffung dieses Systems zu plädieren, das der überwältigenden Mehrheit der Jugendlichen keine vernünftige Berufsausbildung ermöglicht.

Sie machen wieder die gleichen Vorschläge wie in den 70er Jahren, Vorschläge für eine „Modernisierung“ des dualen Systems, die damals schon am massiven Widerstand der Unternehmer gescheitert sind (Ausbildungsboykott gegen eine stärkere staatliche Kontrolle der Qualität der betrieblichen Ausbildung, Zahlungsverweigerung einer gesetzlich beschlossenen Berufsbildungsabgabe zur Unterstützung von Ausbildungsbetrieben).

Für die gleichen Vorschläge werden auch wieder die gleichen Argumente ins Feld geführt. Die bessere Qualifzierung der Arbeitskräfte sei eine Zukunftsinvestition, die langfristig die Konkurrenzfähigkeit des „Standort Deutschlands“ im internationalen Wettbewerb verbessern würde. Das langfristige Eigeninteresse der Wirtschaft an einer Verbesserung der Berufsausbildung würde von kurzfristigen, kurzsichtigen Profitinteressen der einzelnen Kapitalisten gefährdet. Der Staat hätte deshalb als Gesamtkapitalist die Aufgabe, die langfristigen Interessen des Kapitals gegen die bornierten kurzfristigen Interessen der Einzelkapitalisten durchzusetzen.

Aufgrund dieser Auffassung spricht der DGB auch von einer „Krise des dualen Systems“ [8] und nicht von einer Krise der Berufsausbildung.

Hinter diesem feinen Unterschied verbirgt sich die unveränderte Annahme, daß das Interesse des Kapitals an gut qualifizierten Arbeitskräften und das Interesse der überwältigenden Masse der Jugendlichen an guter Qualifikation im Grundsatz übereinstimmt und zusammengebracht werden kann, zum Wohle beider Seiten.

 

 

Höherqualifizierung ...

Diese Annahme wird mit der populären These begründet, die technischen Revolutionen hätten keine Entqualifizierung der Arbeitskräfte zur Folge, sondern mache deren Höherqualifizierung notwendig. Diese These wird nicht zuletzt von denen gerne angenommen, die sich als Makler zwischen den Interessen des Kapitals und den Interessen der Arbeitnehmer verstehen: fortschrittlichen Bildungswissenschaftlern, Führungen in SPD und Gewerkschaften.

Es stimmt zwar, daß die Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus die Qualifikation des „Gesamtarbeiters“ enorm erhöht hat und weiter erhöhen wird. Doch das bedeutet nicht, daß alle Arbeitnehmer, oder auch nur die Mehrheit, über höhere Qualifikationen verfügen muß. Der „Gesamtarbeiter“ ist nicht die Summe der einzelnen Arbeiter, sondern ihre Kombination im arbeitsteiligen, nach wie vor kapitalistischen, Produktions- und Reproduktionsprozeß.

 

... oder Entqualifizierung?

Weil die permanenten technologischen Veränderung unter kapitalistischen Vorzeichen stattfindet, müssen nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Ausbildung die Kosten minimiert werden.

Ausbildungskosten sind Lohnkosten im weiteren Sinn. Zum einen senken hohe Ausbildungskosten unmittelbar die Akkumulationsrate des Kapitals, zum andern sind die Ausbildungskosten Reproduktionskosten der Arbeitskraft. Höhere Reproduktionskosten erhöhen den Wert der Arbeitskraft, d.h. den Lohn.

Die Kapitalisten sind deshalb bestrebt sind, das immer größere Wissen bei möglichst wenigen, relativ teuren Arbeitskräften zu konzentrieren und die Masse der Arbeitskräfte zu verbilligen, indem sie nur soweit wie nötig qualifiziert werden und die Arbeitsteilung so zu organisieren und zu kombinieren, daß die Kosten minimiert werden.

Diese unpopuläre These der „Entqualifizierung“ hat Marx vor fast 150 Jahren in der Entstehungszeit der kapitalistischen Industrie entwickelt. [9]

Die Leistungsfähigkeit des Ausbildungssystems wird von den Kapitalisten deshalb nicht nur unter dem Gesichtspunkt beurteilt, daß es die in Zukunft erforderlichen Qualifikationen herstellt, sondern daß es diese Qualifikation möglichst billig und ohne „überflüssige“ Qualifikationen herstellt.

Das duale System hat bisher diese Leistung erbracht: es war und ist billig, hat bisher die flexible Anpassung der Arbeitskräfte an die sich wandelnden Qualifikationsanforderungen in der Produktion geleistet und disziplinierte Arbeitskräfte geliefert.

 

 

Wandel der Anforderungen

Das Kapital will ebenfalls die berufliche Bildung reformieren, allerdings in Richtung „Entqualifizierung“ in der Erstausbildung. Überlegt wird, wie die Jugendlichen in einer möglichst kurzen fachlichen Ausbildung zu disziplinierten Arbeitskräften erzogen werden können, und wie – vermittels betrieblich bezogener, beruflicher Weiterbildung – eine kleine Gruppe von „Höherqualifizierten“ flexibel und kostengünstig an die sich wandelnden Qualifikationsanforderungen angepaßt werden können.

Im Verlauf der 80er Jahre haben sich die Qualifikationsanforderungen an den Arbeitsplätzen gewandelt. Untersuchungen über den Arbeitskräftebedarf 1991 zeigen, daß höherqualifzierte Tätigkeiten zugenommen haben. Für 20% der Arbeitsplätze wurden Arbeitskräfte mit Hochschulausbildung benötigt. Weitere 8,4% waren mit Absolventen von Fachschulen besetzt. Auf der anderen Seite haben Arbeitsplätze für Un- und Angelernte abgenommen (1991: 20% der Arbeitsplätze). Daraus jedoch zu schließen, es gäbe eine allgemeine Tendenz zur Höherqualifizierung im Gegensatz zu einer allgemeinen Tendenz zur Entqualifizierung, ist, bei genauerer Betrachtung, nicht möglich.

Der Wegfall von vielen Arbeitsplätzen für „Unqualifizierte“, ungelernte und angelernte Arbeitskräfte, war einmal durch den Rückgang der Produktion in den Rezessionen verursacht. Produktionsarbeiter, eben Ungelernte und Angelernte wurden entlassen.

Im Zusammenhang mit diesen Krisen wurde auch die Produktion in zweifacher Weise umstrukturiert. Zum einen wurde sie globalisiert, die Produktionsstätten weltweit gefächert und damit ein großer Teil der „unqualifizierten“ Arbeitsplätze verlagert. Das wurde unter anderem auch möglich, weil diese Arbeitsplätze immer weniger fachliche Ausbildung verlangen, sondern „nur“ noch die Fähigkeit, sich diszipliniert in hoch arbeitsteilige industrielle Prozesse einzufügen. Zum andern begann die Umorganisation auf „Lean Production“, schlanke Verwaltung usw., die unter anderm auch die technologische Revolution der Mikroelektronik zur Voraussetzung hat.

Von der Einführung programmgesteuerter Arbeitsmittel und der Umorganisation des Produktionsprozesses hatten sich die Gewerkschaften einen „Siegeszug der qualifizierten Produktionsarbeit“ erwartet. [10] Das erweist sich immer deutlicher als Illusion. Im Technologiereport des Gewerkschaftsjahrbuchs 1994 [11] werden Untersuchungen über die Benutzung programmgesteuerter Arbeitsmittel und ihre Wirkung auf die Veränderung von beruflichen Tätigkeiten Qualifikationsanforderungen und Arbeitsbedingungen zusammengefaßt. Sie bestätigen, daß in großen Betrieben mit starker Serienfertigung zwar die eingesetzte rechnergestützten Techniken zunehmen, aber die Arbeitsteilung auch stärker wird. Tätigkeiten der Qualitätssicherung und Maschinenprogrammierung, die schon bisher von der Maschinenbedienung getrennt waren und in der Werkstatt vorgenommen wurden, werden jetzt aus der Werkstatt in vor- und nachgelagerte Bereiche verlagert. Hier entstehen Arbeitsplätze mit höheren Qualifikationsanforderungen, allerdings nur wenige.

In der unmittelbaren Produktion sind kaum qualifiziertere Arbeitsplätze entstanden (Abgesehen von der Chemieindustrie, bei der in der Produktion Herstellungsarbeit kaum eine Rolle spielt). Die Untersuchungen kommen zum Schluß, daß „sich gerade jene Produktionsbereiche sich als automatisierungsresistent erwiesen (haben)“ in denen Fließbandarbeit, „in traditioneller Form der Herstellungsarbeit mit immer wiederkehrenden, kurzzeitigen Tätigkeiten, geringen Qualifikationsanforderungen und Monotonie am weitesten verbreitet ist.“ [12] In Westdeutschland sind fast die Hälfte aller Erwerbsttätigen mit kurzzyklische Tätigkeiten belastet, bei 37% ist die Arbeitsdurchführung bis in alle Einzelheiten vorgegeben.

Der Prozeß der Umstrukturierung auf „Lean Production“ beschleunigte sich in der Krise von 1993/94, und damit auch die Tendenz zur Entqualifizierung. Erstmals wurden qualifizierte Facharbeiter in großem Ausmaß entlassen.

Untersuchungen aus den USA, in denen die Einführung der „Lean Production“ schon weiter gediehen ist, zeigen, daß auch in Zukunft Teamarbeit keineswegs qualifiziertere Produktionsarbeit bedeuten muß, ja daß sogar viele der bei Einführung entstehenden höherqualifizierten Arbeitsplätze wieder wegfallen, wenn die Einführungsschwierigkeiten überwunden sind.

Die Autoren Parker und Slaughter schildern drastisch, wie Teamarbeit nicht zur Ausweitung, sondern zur weiteren Reduktion fachlicher Anforderungen, führen kann:

Tatsächlich geht die Tendenz jedoch in die umgekehrte Richtung, nämlich dahin, jede Bewegung der Beschäftigten genauer denn je zuvor festzulegen. Das Management-by-Stress überwindet den Taylorismus (d.h. die wissenschaftliche Zerlegung der Tätigkeiten) nicht, sondern vertieft ihn noch. Wie auch in traditionellen Betrieben haben die ArbeiterInnen in den Werken mit Teamkonzept wenig Kontrolle über die grundlegenden Aspekte der Arbeitsplatzgestaltung. Sie (die Ingenieure) zerstückeln die Arbeitsvorgänge in separate Handgrffe und verteilen dann die Aufgaben ... Allerdings werden die Beschäftigten ein wenig an der Feinabstimmung des Systems beteiligt. Aber wenn die Produktion einmal läuft und die Probleme, die vom Management-by-Stress aufgedeckt wurden, eliminiert sind, wird die Produktion „standardisiert“. Die Arbeiten werden von allen ArbeiterInnen jedes Mal in genau der gleichen Weise ausgeführt. Dem Teammitglied wird exakt vorgeschrieben, wieviele Schritte zu tun sind und was die linke Hand machen soll, während die rechte den Schraubschlüssel aufhebt

Der bemerkenswerte Erfolg von NUMMI und MBS resultiert aus mehr als der Verschärfung des Arbeitstempos und der strengen Kontrolle durch das Management. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil ist das Prinzip der „Just-in time“ Produktion.

Es gibt keine Puffervorräte. Auf jedes Problem muß schnell reagiert werden.

Durch den ständigen Stress sinkt auch der Bedarf an mittleren oder leitenden Managern, die die Produktion überwachen. [13]

Auch die Annahme, daß die Tertiarisierung zu einer deutlichen Ausdehnung höherqualifizierter Tätigkeiten führt, muß bezweifelt werden. In Banken, Verwaltung, Handel spielen sich ganz ähnliche Prozesse wie in der Produktion ab, teilweise sogar deutlicher.

Selbst wenn es heute bei Einführung der Team-Produktion in gewerkschaftlich gut organisierten Betrieben gelingt, Gruppenarbeit so zu organisieren, daß eine breitere Qualifikation angewandt wird, so zeigt das zitierte Beispiel: Gruppenarbeit kann mit fachlich völlig entqualifizierten und damit billigeren Arbeitskräften gemacht werden. Notwendig ist nur, daß die Leute „arbeiten gelernt“ haben, nicht nur bereit, sondern auch fähig sind, diesen Stress auszuhalten, sich in den strikt reglementierten Arbeitsfluß einzufügen, die teuren Maschinen nicht zu beschädigen, die menschlichsten Bedürfnisse einteilen zu können, usw. Sie müssen industrielle Disziplin so gut gelernt haben, daß sie fähig sind, freiwillig nur noch Anhängsel des Produktionsprozesses zu funktionieren.

 

 

Anpassungsprobleme

Die Großbetriebe wissen sehr genau über diese Entwicklungsmöglichkeiten Bescheid. Sie sind deshalb überhaupt nicht daran interessiert, die fachliche Ausbildung für die Masse der Jugendlichen zu verbessern. Das würde die Ausbildung unmittelbar verteuern und für die Zukunft „überflüssige“, teure Qualifikation schaffen. (Hier liegt im übrigen auch der Grund für die Angriffe auf die Universitäten).

Das Kapital sieht auf sich andere Schwierigkeiten zukommen, die durch die bisherige Organisation der Berufsausbildung nicht mehr gelöst werden.

Die bisherige Organisation der Heranbildung des Arbeitskräftenachwuchses funktionierte folgendermaßen:

Betriebe, in denen die sogenannte „lernend-mithelfende“ Ausbildung, also die Ausbildung innerhalb des betrieblichen Arbeitsprozesses möglich war, haben die Masse der Lehrlinge ausgebildet, viel mehr als sie selber zur Sicherung ihres eigenen Nachwuchses brauchten. Das geschah keineswegs aus einem besonderen Verantwortungsgefühl gegenüber der gesamten Wirtschaft, auch nicht nur deshalb, weil diese Form der Ausbildung vergleichweise billig ist, wie eine Untersuchung des Bundesinstituts für Berufsbildung zeigt. Im Handwerk kostet die Ausbildung eines Jugendlichen etwa genausoviel, wie er erwirtschaftet. [14]

Trotzdem fragt man sich, warum diese Betriebe überhaupt ausbilden. Auch diese Betriebe stehen unter dem Zwang der Profitmaximierung und jede Ausbildung, auch wenn sie nichts kostet, bringt gewisse Störungen im Arbeitsprozeß mit sich. Diese Frage stellt die Untersuchung nicht. Sie hätte dann nämlich den Unterschied zwischen den Kosten eines Lehrlings und den Kosten eines „fertigen“ Arbeitnehmers untersuchen müssen. Dieser Unterschied ist trotz gestiegener Ausbildungsvergütungen beträchtlich. Der Unterschied in der Arbeitsleistung ist jedoch weit weniger beträchtlich. Nicht irgendwelche besonderen ethischen Vorstellungen beflügeln Handwerk, Handel, Verwaltungen und Dienstleistungsbetriebe, Lehrstellen anzubieten, sondern die Tatsache, daß die Auszubildenden billigere Arbeitskräfte als normale Arbeitskräfte sind. Unter dem Deckmantel der Ausbildung werden sie stärker ausgebeutet.

Nach Ende der Lehrzeit übernahmen diese Betriebe immer nur einen Teil der von ihnen Ausgebildeten. Die anderen stellen den Nachwuchs für die unmittelbare Produktion, bzw. einfache Büro-, Handels- und Verwaltungstätigkeiten in der Großindustrie. Dort ist eine „lernend-mithelfende“ Ausbildung im unmittelbaren Arbeitsprozeß, d.h. die Ausbeutung, bisher nicht so leicht möglich. In der Großindustrie (mit Ausnahme der Chemieindustrie) ist der Arbeitsprozeß viel zu verdichtet, um auch nur den Schein einer Ausbildung aufrechtzuerhalten. Darüberhinaus sind die Maschinen und Anlagen so kostspielig, daß jeder Fehler enorme Konsequenzen hätte. Deshalb war die Ausbildungsquote in diesen Industrien immer sehr niedrig. Für gewerbliche Berufe wurde praktisch nur der eigene Spezial-Nachwuchs ausgebildet. Diese Ausbildung ist tatsächlich sehr teuer, weil sie in besonderen Abteilungen, mit extra Werkzeugen, Ausbildern usw. stattfindet.

Aufgrund der sich verändernden Qualifikationsanforderungen ist die bisherige Symbiose zwischen Klein- und Großbetrieben nicht mehr so zeitgemäß, wie sie sein sollte.

Die im Handwerk vermittelten fachlichen Qualifikationen für den industriellen Produktionsprozeß werden mit wachsender Reduktion der fachlichen Anforderungen immer weniger gebraucht. Auch sie sind teilweise schon „überflüssige“ Qualifikationen. Trotzdem ist Ausbildung weiterhin nötig. In der „lernend-mithelfenden“ Ausbildung werden nicht nur fachliche Qualifikationen gelernt, sondern auch weiterhin unverzichtbare Fähigkeiten, wie Vorsicht, Kooperationsbereitschaft, Rücksichtnahme, kurz industrielle Disziplin. Die Auszubildenden lernen „arbeiten“. Eine für die modernen kapitalistischen Produktionsprozesse wesentliche „prozeßunabhängige“ Fähigkeit wird jedoch nicht ausreichend gelernt: nämlich die Fähigkeit, auch unter den wahnsinnigen Stress-Bedingungen der Just-in-Time Produktion die industrielle Disziplin durchzuhalten. Das zeigen Erfahrungen im Opel-Werk in Eisenach. Obwohl dort bei Einstellung aus den Arbeitslosenmassen eine Olympia-Mannschaft ausgesiebt wird, muß der Betriebsratsvorsitzende feststellen: „Es gibt Leute, die halten es hier keine zwei Tage aus.“

Die auch gebrauchten höheren Qualifikationen werden nicht mehr in Facharbeiterausbildungen hergestellt, sondern an den praxisorientierten Fachhochschulen, deren Ausbau das Kapital fordert. Die Prüfungsordnungen der FHs werden gegenwärtig dahingehend verändert, daß im Hauptstudium ein „Praxisjahr“ eingeführt wird, also genau dann, wenn die „Auszubildenden“ schon genug wissen, um im Arbeitsprozeß produktiv eingesetzt zu werdenes, zu billigen Praktikantenlöhnen.

Eine ähnlich profitable Lösung hat die Industrie für die Masse der Jugendlichen noch nicht gefunden. Aber mit festem Blick auf die zukünftige Qualifikationsanforderung fähig zu sein, ein fachlich völlig entleerte, stressige Arbeit zuverlässig, vorsichtig und diszipliniert zu leisten und mit genauso festem Blick darauf, daß die Ausbildung Profit bringen muß, hat der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Stihl, 1994 die Richtung für eine Reform der Berufsausbildung im dualen System angegeben:

Unsere Botschaft lautet: Mehr Differenzierung, mehr Durchlässigkeit und mehr Leistung. Unser Ziel ist, Bildung und Beschäftigung wieder enger zu verknüpfen. (Hervorhebung von mir)

Dieser Appell richtet sich vor allem an Großunternehmen. Wenn sie wieder mehr an Arbeitsplätzen ausbilden statt überwiegend in kostspieligen Lehrwerkstätten, werden die Ausbildungskosten nicht steigen Ein „training on the job“ ... kann keine berufliche Grundausbildung ersetzen, die den Jugendlichen eine solide Grundlage für ihr berufliches Leben und ihr Sozialverhalten gibt. [15]

 

 

Reformperspektiven

Die Lehrlingsbewegung der 70er Jahre hat die Forderung nach staatlichen Lehrwerkstätten für alle Auszubildenden, unter Kontrolle der Gewerkschaften, entwickelt. Nur mit der Verstaatlichung der praktischen Berufsausbildung, mit der Abschaffung des dualen Systems, kann die berufliche Ausbildung dem unmittelbaren Profitinteresse der Unternehmer entzogen werden. Nur die Verstaatlichung der praktischen Berufsausbildung verbessert die Möglichkeit, daß die 70% der nicht-studierenden Jugendlichen eine bessere Ausbildung erhalten, die nicht nur von den Prinzipien der Ausbeutung, der Auslese und des Drills bestimmt wird.

Überbetriebliche Ausbildungseinrichtungen, die die betriebliche Ausbildung im Rahmen des „dualen System“ ergänzen, bringen kaum eine Verbesserung. Im Gegenteil, wie sich gerade in den neuen Ländern zeigt, wirken sie als Mittel der Ausgrenzung und Spaltung der Jugendlichen und der Lohnabhängigen.

In den außerbetrieblichen Ausbildungsstätten sammeln sich diejenigen, die die Betriebe nicht haben wollen: 58% sind Frauen. [16] Da diejenigen, die in einer solchen außerbetrieblichen Einrichtung ausgebildet wurde, noch schwerer einen Arbeitsplatz nach der Lehre finden als die betrieblich Ausgebildeten (52% der Außerbetrieblichen werden arbeitslos, im Gegensatz zu „nur“ 38% der Betrieblichen) [17], bildet sich hier ein Mechanismus heraus, mit dem die zukünftigen weiblichen Arbeitskräfte an Heim und Herd bzw. in schlecht bezahlte Jobs getrieben werden. Eine ähnliche Auslese, nur vor Eintritt in die Lehre, haben wir schon im Westen, nämlich durch die in den 70er Jahren eingerichteten berufsvorbereitenden außerbetrieblichen Maßnahmen. Hier sammeln sich vor allem Jugendliche mit ausländischem Paß [18], bzw. die sogenannten „Lernschwachen“, die es vorher nicht gab.

Es wäre heute endlich notwendig, daß die Gewerkschaften und die SPD ihre Forderung nach Umlagefinanzierung mit der Forderung nach staatlichen Lehrwerkstätten für alle Jugendliche verbinden. Natürlich werden die Kapitalisten und die konservative Regierung eine solche Forderung strikt ablehnen. Sie haben sich aber auch gegen in den 70ern gegen die nur scheinbar „kleinere“ Reform, die das duale System und Ausbildung in den Betrieben nicht abschaffen wollte, mit Zähnen und Klauen gewehrt. Die heutigen Reformvorschläge sind im Kern die gleichen und werden in einer Situation vorgebracht, in dem den Kapitalisten ihr langfristiges Interesse an einer fachlichen Entqualifizierung der Ausbildung der Masse der Auszubildenden viel bewußter geworden ist als in den 70er Jahren.

Wenn ernsthaft Verbesserungen in der Berufsausbildung durchgesetzt werden sollen, kommt man um einem massiven gewerkschaftlicher Kampf nicht herum.

Dieses Bewußtsein müßten die Gewerkschaften bei allen Arbeiter und Angestellten, den Auszubildenden und den „Fertigen“, als Eltern und Arbeitnehmer, entwickeln. Die Masse der heutigen und zukünftigen Arbeitskräfte wird nicht bereit sein, für eine Reform wie die Umlagefinanzierung zu kämpfen, mit der betriebliche Lehrstellen geschaffen werden sollen. Für die Jugendlichen, die zukünftigen Arbeitnehmer, hieße das: Kampf für eine schlechte Ausbildung und für die Ausbeutung in der Lehre, für die heutigen beschäftigten und arbeitslosen Arbeitnehmer hieße das: Kampf für Lohndrückerei. Mit dieser Perspektive entsteht weder die notwendige Einheit, noch die notwendige Bereitschaft für gewerkschaftlichen Kampf um das Recht auf Berufsausbildung.

Die Internationale Arbeiter-Assoziation hat 1866 ein von Marx formuliertes Bildungsprogramm für die Arbeiterbewegung beschlossen. Es ist nach wie vor notwendig und sollte endlich heute wieder für die Arbeiterbewegung gelten. Dieses Programm wurde nicht als fernes Zukunftsziel verstanden, sondern als „Gegengift, gegen die Tendenzen eines gesellschaftlichen Systems, das die Arbeiter herabwürdigt zu einem bloßen Instrument für die Akkumulation von Kapital“. Marx formulierte:

Der aufgeklärte Teil der Arbeiterklasse begreift jedoch sehr gut, daß die Zukunft seiner Klasse und damit die Zukunft der Menschheit völlig von der Erziehung der heranwachsenden Arbeitergeneration abhängt. Er weiß, daß vor allem anderen die Kinder und jugendlichen Arbeiter vor den verderblichen Folgend des gegenwärtigen Systems bewahrt werden müssen. Das kann nur erreicht werden durch die Verwandlung der gesellschaftlichen Einsicht in gesellschaftliche Gewalt, und unter den gegebenen Umständen kann das nur durch allgemeine Gesetze geschehen, durch gesetzt durch die Staatsgewalt ... Unter Erziehung verstehen wir drei Dinge: Erstens: Geistige Erziehung. Zweitens: Körperliche Erziehung ... Drittens: Polytechnische Ausbildung, die die allgemeinen Prinzipien aller Produktionsprozesse vermittelt und gleichzeitig das Kind und die junge Person einweiht in den Gebrauch und die Handhabung der elementaren Instrumente aller Arbeitszweige.“

Diese polytechnische Ausbildung sollte nicht im kapitalistischen Betrieb, sondern in „polytechnischen Schulen“ deren „Kosten teilweise durch den Verkauf ihrer Produkte gedeckt werden“, stattfinden. [19]

Als erstes muß heute die damals bestehende gesellschaftliche Einsicht wieder entwickelt werden.

 

 

Anmerkungen

1. W. Hanesch: Unterversorgung im Bildungssystem: Das Beispiel beruflicher Bildung, in: Döring, Hanesch, Huster: Armut im Wohlstand, Frankfurt 1990, S.188f.

2. DGB zum Berufsbildungsbericht 93, in: Gewerkschaftliche Bildungspolitik, 3/93, S.60

3. DGB-Bundesvorstand, Abteilung Jugend: Perspektive Jetzt, II, 1994, S.138

4. Schneider/Welsch: Technologiereport, in: Kittner (Hrsg.): Gewerkschaftsjahrbuch 1994, S.507

5. Perspektive Jetzt, 1, a.a.O., S.81

6. Frankfurter Rundschau, 1.4.1995

7. Ehrke, Semmler: Berufliche Bildung, in: Kittner (Hrsg.): Gewerkschaftsjahrbuch 1995, S.505

8. DGB zum Berufsbildungsbericht 95, Gewerkschaftliche Bildungspolitik, 4/95, S.80

9. Marx: Grundrisse der politischen Okonomie, Berlin 1953, S.25 u. S.204

10. Schneider, Welsch: a.a.O., S.250

11. a.a.O., S.246ff.

12. a.a.O., S.252

13. Parker, Slaughter: Management-by-Stress: Die dunklen Seiten des Teamkonzepts in: Lüthje, Scherrer: Jenseits des Sozialpakts, Münster 1993, S.52f.

14. Bardeleben, Beicht, Feher: Kosten und Nutzen der betrieblichen Berufsausbildung. Erste Untersuchungsergebnisse, Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn/Berlin 1994

15. H.P. Stiehl: Bildung und Beschäftigung enger verknüpfen – berufliche Ausbildung für die Arbeit von morgen, in: Perspektive Jetzt, 1, 1994, S.27f.

16. W. Adamy: Jüngere Arbeitslose beim Übergang vom Bildungs- ins Beschäftigungssystem, in: Gewerkschaftliche Bildungspolitik, 4/95, S.88

17. DGB-Bundesvorstand: Verbesserung der Qualität der außerbetrieblichen Ausbildung in den neuen Bundesländern, in: Perspektive Jetzt, II, a.a.O., S.80

18. R. Block, K. Klemm: Verknappung und Vergeudung, in: Perspektive Jetzt, 1, S.19f.

19. MEW, Bd.16, S.194f., Berlin 1981

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2001