Volkhard Mosler

 

Die Geschichte des Sozialstaats:
Schwer errungen, immer bedroht

(Dezember 2002)


Aus Linksruck, Nr.143, 3 Dezember 2002.
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Der Sozialstaat ist unter Beschuss gekommen. Eine kleiner, aber lautstarker Chor aus hochbezahlten Arbeitgeberfunktionären, CDU- und FDP-Politikern, Wirtschaftsprofessoren und -journalisten ruft den Rentnern, Kranken, Eltern, Kindern und Jugendlichen zu: „Ihr seit zu teuer geworden. Eure Versorgungsmentalität ist ein Hindernis auf dem Weg zu mehr Wachstum und Arbeitsplätzen. Das können wir uns nicht mehr leisten. Aber auch aus dem Regierungslager von SPD und Grünen wird eine „Reform“ oder „Umbau“ – zu deutsche Abbau des Sozialstaats gefordert.

Dabei tun sie so, als wäre der Sozialstaat eine Leihgabe der Reichen und Regierenden an das gemeine Volk, der nun „nicht mehr zeitgemäß sei. Ein Blick auf die Geschichte der Sozialreform in Deutschland zeigt jedoch etwas ganz anderes: Arbeitsschutzgesetze, Arbeitszeitverkürzungen, Tariflöhne, Kranken-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherungen sind in harten Klassenkämpfen unter großen Opfern durch Generationen von Gewerkschaftern und Sozialisten dem Kapitalismus abgetrotzt worden.

 

Bismarck

Als Vater des deutschen Sozialstaats gilt Otto von Bismarck, der als Reichskanzler unter Kaiser Wilhelm I. und II. zuerst die Krankenversicherung (1883) und die Unfallversicherung (1884), später dann die Invaliden und Altersversicherung (1889) durchsetzte.

Für Bismarck waren diese Gesetze die folgerichtige Ergänzung zum Sozialistengesetz, mit dem er 1878 die sozialdemokratische Partei und Gewerkschaften verboten hatte. In der rasch wachsenden Arbeiterklasse und ihre Organisationen sah er eine riesige Bedrohung für den Besitzstand der preußisch-deutschen Monarchie. So erklärte er unumwunden, „in der großen Masse der Besitzlosen die konservative Gesinnung ... erzeugen zu wollen, welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt.“

Die Rechnung des Reichskanzlers Bismarck, die organisierte Arbeiterbewegung durch eine Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“ klein zu halten, ging nicht auf. Im Mai 1889 streikten im Ruhrgebiet 90.000 Bergarbeiter für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten. Das Militär erschoss 15 Arbeiter, konnte den Streik aber nicht brechen.

Nach dem Streik schrieb Wilhelm II. an seinen Kanzler, man müsse „eingedenk sein, dass fast alle Revolutionen aus dem Versäumnis rechtzeitiger Reformen entständen“ und forderte gesetzliche Beschränkungen für die Sonntags- und Nachtarbeit, staatliche Schlichtungsstellen und den Ausbau von Schulen und Krankenhäusern. Gegen Bismarcks Widerstand hob der Reichstag das Sozialistengesetz 1890 auf , Bismarck wurde entlassen, weil er sich geweigert hatte, die von Wilhelm verlangten Sozialgesetze umzusetzen.

Wilhelms Reformeifer erlahmte jedoch rasch wieder, er packte das Zuckerbrot „Reform“ bald wieder weg und drohte mit einer Erneuerung der Sozialistengesetze. Es halb jedoch nicht, die Arbeiterbewegung war jetzt stark genug um in den Jahren bis zum ersten Weltkrieg Schritt für Schritt den weiteren Ausbau der Sozialversicherungen und des Arbeiterschutzes durchzusetzen.

 

Reform und Revolution

Den größten und nachhaltigsten Ausbau der Sozialreform brachte die Revolution von 1918, als Arbeiter- und Soldatenräte für kurze Zeit den Kapitalismus in seiner Existenz bedrohten. In einem Zentralabkommen mit den Gewerkschaften akzeptierten die Arbeitgeberverbände die Regelung der Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge, stimmten der Bildung von Betriebsräten in Betrieben mit mindestens 50 Beschäftigten zu, setzten das Höchstmaß der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden bei vollem Lohnausgleich fest. Der Rat der Volksbeauftragen, die neue selbsternannte sozialdemokratische Regierung, versprach eine Neuregelung der Arbeitslosenunterstützung. Hier war der Widerstand der Unternehmerverbände am härtesten und bis heute ist es der aus ihrer Sicht überflüssigste Teil des Sozialstaats. Denn jede Arbeitslosenunterstützung über das Maß einer elenden Armen- oder Sozialhilfe hinaus schränkt aus ihrer Sicht die ökonomische Funktion der Arbeitslosen als „industrielle Reservearmee“ ein, Druck auf den beschäftigten Teil der Arbeiterklasse auszuüben, „diese“, wie Karl Marx es formulierte, „zur Überarbeit und Unterwerfung unter die Diktate des Kapitals zu zwingen“. Erst 1927 kam es schließlich zur Einlösung des Versprechens auf Bildung einer nationalen Arbeitslosenversicherung.

J. Reichert, der Geschäftsführer des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, sagte über die Gründe des plötzlichen „Reformeifers“ seiner Klasse: „Es kam darauf an, das Unternehmertum von der drohenden... Sozialisierung und der nahenden Revolution zu retten.“ Die Revolution hatte das Kräftegleichgewicht zugunsten der Arbeiter verschoben. Schon 1923 begann die „Gegenreform“ mit der Aufhebung des gesetzlichen Achtstundentags. 1928 kam es zur Massenaussperrung in der Stahlindustrie mit dem Ziel (und der Folge) einer Erschütterung der Tarifbindung der Löhne.

Im Dezember 1929, sechs Wochen nach dem „Schwarzen Freitag“ an der New Yorker Börse, dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, sprach der Reichsverband der Deutschen Industrie in einer Denkschrift über die Sozialversicherungen von „einer unberechtigten, die Volksmoral schädigende Ausnutzung ihrer Einrichtungen“ und forderte, dass der Sozialstaat „den Grenzen wirtschaftlicher Tragfähigkeit angepasst werden“ müsste. Erste und wichtigste Forderung der Arbeitgeberverbände war eine „Reform“ der Arbeitslosenversicherung, die auch bei steigenden Arbeitslosenzahlen „ohne Erhöhung der Beiträge und ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel durch weitere Ersparnisse auskommen müsse“.

1932, am Höhepunkt der Krise, hatten die Unternehmerverbände ihr Ziel der Zerschlagung der Arbeitslosenversicherung und der Aufhebung der Tarifbindung der Löhne weitgehend erreicht. Statt 52 Wochen bekam ein Arbeitsloser nur noch sechs Wochen Arbeitslosenunterstützung bei gleichzeitiger Halbierung ihrer Höhe.

Die weitgehende Zerstörung des Sozialstaates führte zur Demoralisierung der Arbeiterschaft und damit zum Aufstieg der Nazis, die das Werk der Konterrevolution dann vollendeten.

SPD und Gewerkschaften hätten die Chance gehabt, den Aufstieg Hitlers zu verhindern, wenn sie damals Lohnsenkungen und Sozialabbau entschlossen bekämpft hätten. Stattdessen unterstützten („tolerierten“) sie den konservativen Kanzler Brüning , der mit Hilfe von Notverordnungen die sozialen Errungenschaften der Nachkriegsjahre zerstörte.

Die Lehren von Weimar sind heute wieder sehr aktuell.

  1. Ausbau und Einschränkungen des Sozialstaats waren direkt abhängig von der Entwicklung der Kräfteverhältnisse zwischen Arbeitern und Kapitalisten;
  2. Dieses Kräfteverhältnis wurde nicht nur durch das Auf und Ab der wirtschaftlichen Konjunktur und der damit verbundenen Zu- und Abnahme der industriellen Reservearmee bestimmt, sondern auch durch die Politik der großen Arbeiterorganisationen. SPD und Gewerkschaften tragen deshalb eine besondere Verantwortung für die Erhaltung des Sozialstaats.

Sind diese Thesen auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und heute noch gültig?

 

Adenauers Rentenreform

1957 führte der CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer die „dynamische Rente“, das heißt die jährliche Anpassung der Rentenhöhe an die Bruttolöhne der Beitragszahler. Die dynamische Rente wurde damals zu Recht als enormer sozialer Fortschritt verstanden, sie eröffnete die Perspektive des Alterns ohne Armut und Elend. Aber auch diese Reform war nicht einfach ein Geschenk der konservativen Regierung an das dankbare Volk.

Die Arbeitslosigkeit war in den Jahren zuvor von 10,4 Prozent (1950) auf 3,5 Prozent (1956) zurückgegangen und damit war das Selbstvertrauen der Arbeiterschaft wieder erwacht. Die IG Metall hatte im Oktober 1956 die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit von 48 auf 45 Stunden erreicht. Noch im gleichen Monat traten 34.000 Metallarbeiter in Schleswig-Holstein in den Streik, um eine Angleichung der Lohnfortzahlung bei Krankheit an die gesetzliche Regelung für die Angestellten durchzusetzen. Der Streik dauerte fast vier Monate und endete erst am 14. Februar 1957 – genau neun Tage bevor im Bundestag die Rentenreform beschlossen wurde.

In der ersten Hälfte der 70er Jahre waren das Selbstbewusstsein und Kampfbereitschaft der Arbeiterschaft rasch gewachsen, es gab politische Streiks gegen den Versuch der CDU, 1972 den SPD-Kanzler Willy Brandt zu stürzen, immer wieder kam es zwischen 1969 und 1974 zu meist erfolgreich Streiks um Löhne und Arbeitsbedingungen und es war kein Zufall, dass der Sozialstaat eben in dieser Zeit auch noch einmal ausgebaut wurde. Es gab nun auch die gesetzliche Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (1969), die Senkung des Rentenalters auf 63 (Männer) und 60 Jahre (Frauen) (1972), den Ausbau der Bildungssektors und die Einführung der Ausbildungsförderung (Bafög) für Schüler und Studenten (1971), der den Zugang zu den Universitäten und Hochschulen auch für jene öffnete, die nicht aus wohlhabenden Familien kamen.

 

Sozialabbau

Die Wende kam mit der Wirtschaftskrise 1974/75, bei der die Zahl der Arbeitslosen erstmals wieder über die eine Million anstieg. Sowohl die Regierungen unter SPD-Kanzler Helmut Schmidt (1974-82), wie auch unter CDU-Kanzler Helmut Kohl (1982-98) nutzten das Wiederanwachsen der „industriellen Reservearmee“ von 250.000 (1973) auf über vier Millionen (1998) zu Angriffen auf das soziale Netz. Helmut Schmidt hatte 1976 den Wahlkampf u.a. mit der Parole „die Renten sind sicher“ geführt, um nach gewonnener Wahl die Anpassung der Renten an die Löhne zum ersten Mal seit 1957 ein halbes Jahr auszusetzen. Helmut Kohl konnte sich auf Schmidts Vorarbeit stützen, als er 1983 die Renten dauerhaft kürzte, indem er einen Krankenversicherungsbeitrag für Rentner einführte. In den folgenden Jahren wurde der Sozialstaat durch zahllose Einzelkürzungen oder Verschlechterungen zurückgedrängt.

Der Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt hatte 1975 30 Prozent betragen, Ende der achtziger Jahre waren es nur noch 27 Prozent.

Die Regierung Schröder (SPD) ist den Weg des Sozialabbaus durch seine Vorgänger im großen und ganzen gefolgt. Die bedeutsamsten Verschlechterungen unter Schröder betrafen die Arbeitslosen und Rentner (Teilprivatisierung der Renten durch Einführung der „Riester-Rente“).

Die Unternehmerverbände führen heute wie 1929 eine erbitterte Kampagne gegen den Sozialstaat. Damals wie heute richtet sich ihre besondere Wut gegen die Arbeitslosenversicherung, weil sie sich von deren Beseitigung einen erhöhten Druck der Arbeitslosenreserve auf die Beschäftigten und die Schwächung der Gewerkschaften versprechen.

Aber die teilweise erfolgreichen Abwehrkämpfe unter Kohl-Regierungen nach der Wiedervereinigung zeigen, dass es heute wie vor 120 Jahren unter Bismarck möglich ist trotz gestiegener Massenarbeitslosigkeit Sozialreformen zu erkämpfen, die diesen Namen verdienen. Im April 1990 kam es zu einer massiven und erfolgreichen Protestwelle der (noch) DDR-Arbeiter, als die Regierung Kohl einen Umtauschkurs für Löhne und Renten im Verhältnis 1:2 einführen wollte. Als 1991 aus Protestes gegen die Abbruchpolitik der Treuhand die Montagsdemonstrationen für einige Wochen wieder aufgenommen wurden, weitete die Bonner Regierung den Umfang der ABM-Maßnahmen aus, um den Übergang in die Arbeitslosigkeit zeitlich zu strecken. Als Kohl 1997 die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für die ersten drei Krankentage aufheben wollte, streikten einige Tausend Arbeiter bei Daimler-Benz in Stuttgart.

Die wahren Matadoren des deutschen Sozialstaates sind nicht Bismarck, Adenauer oder Brandt gewesen: es war die Tausende Namenloser, die unter Bismarcks Sozialistengesetzen die Gefängnisse füllten oder 1991 in Leipzig gegen Massenentlassungen auf die Straße gingen, denen wir heute soziale Rechte verdanken. Der Sozialstaat wurde uns nicht von oben geschenkt, sondern durch Klassenkämpfe und Gegenmacht von unten durchgesetzt, die einzige Sprache, die die Kapitalisten und ihre Politiker verstehen.

 


Zuletzt aktualisiert am 8.12.2002