Volkhard Mosler

 

12 Jahre Kohl-Regierung

Zurück zu Weimar in Zeitlupe?

(1994)


Aus Sozialismus von unten (erste Serie), Nr.1, September/Oktober 1994, S.12-16.
Copyright © 1994 Verein für Geschichte und Zeitgeschichte der Arbeiterbewegung (VGZA) e.V.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für REDS – Die Roten.


Der Autor vertritt die These, daß die grundlegenden Ursachen, die das wiedervereinigte Deutschland in einen Prozeß der gesellschaftlichen Polarisierung und politischen Instabilität getrieben haben, nicht überwunden sind und – ganz gleich ob Kohl es noch einmal schaffen wird oder nicht – eine Rückkehr zu den ruhigen Verhältnissen der achtziger Jahre nicht zulassen, stattdessen aber eine Rückkehr zu Weimarer Verhältnissen im Zeitlupentempo droht.

Wachsender Rassismus mit hunderten und tausenden Übergriffen gegen Flüchtlinge und Ausländer, Wahlerfolge faschistischer Parteien wie Republikanern und Deutscher Volksunion (DVU), wachsende Politikverdrossenheit, Anwachsen rassistischer Gewalttaten gegen Flüchtlinge und Ausländer einerseits, soziale Polarisierung durch Streiks und soziale Unruhen in Ost- und Westdeutschland andererseits, pendelartige Ausschläge nach links und nach rechts bei diversen Wahlen und gleichzeitige Erosion der großen Parteien „der Mitte“ CDU! CSU und SPD – das waren die Symptome einer tiefen Erschütterung der sozialen und politischen Ordnung der BRD in den frühen neunziger Jahren.

Die seit Ende April einsetzende Erholung der Konservativen unter Kanzler Helmut Kohl, ihr relativer Wahlerfolg bei der Europawahl im Juni und parallel dazu der Niedergang der Republikaner haben den Eindruck entstehen lassen, als kehre Deutschland zurück zu den Verhältnissen der 80er Jahre oder als habe sie diese trotz sozialer Polarisierung und Konjunkturkrise nie verlassen.

So kommt der Politikwissenschafter Clauss Leggewie bei einem Vergleich der konservativen Parteien Europas im August 94 zum Ergebnis, daß die CDU/CSU als „große Volkspartei der Mitte“ nach wie vor der „Hauptpfeiler der europäischen Einigung“ sei, dessen „Tragfähigkeit ... beeindruckend“ sei, betrachte man die Erosion der Konservativen Parteien in den anderen westeuropäischen Ländern. Die CDU/CSU stehe „geradezu strahlend da“ und die deutsche Politik sei „auch nach 1989 von einer relativen Hyperstabilität“ gekennzeichnet. [1]

Richtig ist, daß die politische Instabilität in Deutschland trotz Wiedervereinigung und Rezession nicht den gleichen Grad erreicht hat wie in Italien, wo das politische Machtgefüge der Nachkriegszeit bis auf wenige Reste zusammengebrochen ist.

Aber ist die CDU/CSU wirklich noch ein Pfeiler der europäischen Einigung und der Stabilität? Leggewie ist hier ein Opfer des Wahlkampfes der Union geworden, die sich gern als ordnender Faktor im von Gefahren umgebenen Europa darstellt.

In Wahrheit haben Kohl-Regierung und Bundesbank in den letzten vier Jahren selbst die größten Sargnägel in den Prozeß der Einigung Europas genagelt.

Die Hochzinspolitik der Bundesbank hat 1992 die Europäische Währungsunion gesprengt. Mit der Anerkennung Kroatiens durch die EU auf Drängen Kohls wurden auch die politischen Gegensätze innerhalb der EU verschärft. Der Vorschlag der CDU/CSU auf eine Zweiteilung Europas in einen „inneren Kern“ und einen Rest ist unter anderen bei der italienischen Regierung auf scharfen Widerspruch gestoßen.

Der Anspruch des größeren, vereinigten Deutschlands, nicht mehr nur wirtschaftlich sondern auch politisch „den ihm gebührenden Platz“ als Nummer 1 zu überlassen, muß das mühsam über fast vierzig Jahre gewachsene Europa erschüttern.

Mit der Wiedervereinigung hat Deutschland seine Rolle als stabilisierender Pol in der Europäischen Union verloren und ist selbst ein Herd der Unruhe und Störungen geworden.

Die Grundlagen für den Aufstieg der Konservativen wurden in den Jahren 1974-82 in den Jahren der Schmidt-Regierung gelegt, als die damalige SPD/FDP Regierungen unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) schrittweise von der Politik sozialer Reformen Abstand nahm. Sozialdemokratische Reformpolitik erwies sich als Schönwetterpolitik, die in den Krisen des Kapitalismus den Konservativen keine wirklich unterscheidbare Alternative entgegenzusetzen hatte. Sozialistische Kritiker schrieben Ende 1982:

Die Sozialdemokraten sowie die gegenwärtige Regierung (Kohl – VM) lösen die Probleme der neuen Weltwirtschaftskrise, die Massenarbeitslosigkeit und die dadurch entstandene Finanzkrise der öffentlichen Haushalte auf Kosten der sozial Schwachen sowie der kleinen und mittleren Einkommensbezieher. [2]

Als die neue Kohl-Regierung diesen Kurs des Sozialabbaus dann fortsetzte und verschärfte, war der Widerstandwille dagegen erst einmal gelähmt. Die Erfahrung von damals wirkt bis heut fort und läßt viele Arbeitnehmer an Scharpings Versprechen auf „mehr soziale Gerechtigkeit“ zweifeln, zumal die SPD eine Reihe von Kürzungsmaßnahmen Kohls im Bundesrat passieren ließ, in dem sie seit drei Jahren über eine Mehrheit verfügt.

 

 

Welche Ziele hatten sich die Konservativen damals gesetzt?

Ihr Hauptziel war die Stärkung der internationalen Konkurrenzfähigkeit durch die Rückkehr zu hohen Wachstumsraten.

Das Problem der abnehmenden deutschen Konkurrenzfähigkeit und hoher Sozialausgaben hatte schon die konservativen Debatten seit Mitte der 70er Jahre beherrscht.

Die FDP schlug sich dann Anfang der achtziger Jahre unter dem Eindruck der Rezession von 1981 auf die Seite der Konservativen.

1982 beschrieb der damalige Wirtschaftsminister Grat Lambsdorft (FDP) in einem als „Scheidungspapier“ bekannt gewordenem Papier, die wirtschaftspolitischen Lage und daraus erwachsende Aufgaben einer neuen Regierung folgendermaßen:

„Da die Wachstums-, Beschäftigungs- und Budget- probleme in der Bundesrepublik nicht primär konjunktureller Natur sind, ist die Gefahr groß, daß die Aufwärtsbewegung nur schwach und relativ kurz ausfällt.“ Lambsdorff sprach von „gesamtwirtschaftlichen Strukturproblemen“ und „Anpassungsschwierigkeiten“ an weltweite Marktänderungen.

Die Hauptursache der strukturellen, d.h. langfristigen Krise sah Lambsdorff „in der schon seit längerem tendenziell sinkenden Kapitalrendite“ oder, wie Marx es nannte, im „tendenziellen Fall der Profitrate“. [3]

Anders als Marx sah er die Ursache der sinkenden Profitrate allerdings nicht in der langfristigen Verdrängung der lebendigen Arbeit als einziger Profitquelle durch Maschinen und teste Anlagen, sondern in zu hohe Löhnen, die in den Unternehmergewinn fressen und daher deren Investitionstätigkeit erlahmen lassen.

Im Zentrum der Lösungsvorschläge Lambsdorffs stand daher auch die „Kürzung der konsumtiven Ausgaben“, d.h. von staatlichen Sozialleistungen und Löhnen, eine, wie er es nannte, „Verbesserung der Ertragsperspektiven“ durch eine „relative Verbilligung des Faktors Arbeit“. Nur so sei eine Rückkehr zu hohen Investitionen und Wachstum möglich.

Die Regierung Kohl hat zwar vor allem in der ersten Hälfte der achtziger Jahre durch Sozialkürzungen und Neuverteilung der Steuerlasten eine beträchtlich Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von „unten“ nach „oben“ durchgesetzt. Von 1982 bis 92 stiegen die Nettolöhne und -gehälter um 10.5 Prozent, die Einkommen der Unternehmer dagegen um 123 Prozent. [4]

Von der Steuerentlastung profitierten vor allem die Unternehmer und die Reichen allgemein. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger und Armen stieg von 1982 bis 91 in Westdeutschland von 2,1 Mill. auf 3,7 Mill.

Trotzdem waren es immer wieder gerade die Unternehmer, die Kohls Wirtschafts- und Sozialpolitik scharf kritisierten. Von Beginn an wurden seine Kürzungs- und Umverteilungsmaßnahmen als halbherzig, zu spät und widersprüchlich kritisiert.

Heute, 12 Jahre später, läßt sich sagen, daß die konservativ-liberale Koalition unter Helmut Kohl, ihre selbst gesteckten Ziele nicht erreicht hat und von diesen weiter entfernt ist denn je.

Eine Studie der internationalen Managementberatungsfirma McKinsey aus 1993 zeigte, daß die Arbeitsproduktivität in acht wichtigen Industriezweigen für Deutschland bei 79 Prozent des US-Niveaus lag, für Japan bei 83 Prozent. [5]

Das Scheitern der Kohl-Regierung nach ihren ureigensten Maßstäben der internationalen Konkurrenzfähigkeit geht auch aus der Tatsache hervor, daß das Wachstum der westdeutschen Wirtschaft seit Beginn der 70er Jahre beträchtlich niedriger war als das der meisten anderen Industrieländer.

Das jährliche Wachstum zwischen 1971 und 1990 betrug 2,4 Prozent in Westdeutschland, gegenüber 2,3% in Großbritannien, 2,8% in Frankreich und den USA und 4,4, Prozent in Japan. Das durchschnittliche Wachstum der 24 OECD-Staaten betrug in diesem Zeitraum 3,5%. [6] Die Regierung Kohl hat diesen Trend nicht umkehren können sondern ihn umgekehrt beschleunigt.

Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug im Zeitraum von 1960-70 im Durchschnitt jährlich 4,4% zwischen 1971-80 2,7% und zwischen 1981-90 2,1%. In der ersten Hälfte der 90er wird das Wachstum auf etwa 1% jährlich weiter abgesackt sein. Während sich die Wachstumsraten also unter Kohls Regierung weiter verlangsamten, stieg die offizielle Arbeitslosigkeit im Januar 94 auf den Nachkriegsrekord von 4,03 Millionen an.

 

 

Einheitsboom und Krise

Den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Kohl-Regierung schilderte die Wirtschaftswoche mit den Worten: „Gerade auf dem Gebiet, auf dem die Wähler der Regierungskoalition immer noch die höchste Kompetenz zubilligen, bleibt Kohls Regierungsbilanz dagegen düster. Angetreten, die deutsche Wirtschaft aus der weltweiten Rezession zu Beginn der achtziger Jahr zu reißen, steckt Deutschland nach zehn fetten Jahren und dem Einheitsboom in – so Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt – ‚tiefsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg‘.“ [7]

Der Sachverständigenrat kam in seinem Jahresgutachten 1993 zu dem Ergebnis, daß die deutsche Wirtschaft zunehmend die Kraft verliere, im internationalen Wettbewerb mitzuhalten. Die Ursachen sahen Kohl und seine Experten genau wie Lambsdorff vor 12 Jahren darin, daß in Deutschland Arbeitnehmer zu wenig arbeiteten und zuviel verdienten. Im April 93 verglich Kohl die Bundesrepublik mit einem „kollektiven Freizeitpark“, eine moderne Industrienation können so nicht funktionieren. Die Ursachen der Krise hätten nichts mit der Wiedervereinigung zu tun und seien aus der alten Bundesrepublik ins wiedervereinigte Deutschland hinübergeschleppt worden.

Mit dieser Analyse stellte die Kohl-Regierung sich selber ein vernichtendes Urteil aus. Denn anders als 1982 kann sie heute den Niedergang der deutschen Wirtschaft nicht auf die „Mißwirtschaft der Sozis“ zurückführen.

 

 

Woher kommt dann die an haltende Strukturkrise der deutschen Wirtschaft?

Die oberflächlichsten Erklärungen sind solche, die auf die Wiedervereinigung mit ihrem „Einheitsboom“ verweisen. Dieser hat die Konjunkturkrise um zwei Jahre hinausgezögert, die Strukturkrise aber nicht verursacht.

Das Hinauszögern der Konjunkturkrise galt freilich nur für Westdeutschland. Denn wie bei einer Wippe ging es im Westen nur deshalb hoch, weil es im Osten runterging. Der katastrophale Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie war eine unmittelbare Folge der Öffnung zum Weltmarkt und des Entzugs staatlicher Unterstützung.

Der Binnenmarkt des westdeutschen Kapitals erweiterte sich um 16 Millionen Menschen der ehemaligen DDR.

Innerhalb von zwei Jahren ging die Industrieproduktion in Ostdeutschland um 80 Prozent zurück, von 3,5 Millionen Industriearbeitsplätzen blieben ganze 700.000 übrig, die offizielle Arbeitslosenquote liegt in Ostdeutschland 1994 mit 16,0 Prozent fast doppelt so hoch wie in Westdeutschland (9,0%). Zusammen mit den „verdeckten“ Arbeitslosen, die in staatlichen Beschäftigungsmaßnahmen stehen und den vielen älteren Arbeitnehmern und Frauen, die sich vom Arbeitsmarkt ganz zurückgezogen haben, macht die Arbeitslosigkeit im Osten über 40 Prozent aus. [8]

Der Zusammenbruch im Osten hatte Auswirkungen auf den Westen. Einmal indem während des Einheitsbooms 1990-91 Arbeitsplätze von Ost nach West exportiert wurden. Zum anderen führte sie in eine Verschuldungskrise von Staat und Regierung. Die Bundesregierung überweist inzwischen jährlich 150 Milliarden DM, um soziale Unruhen in Ostdeutschland zu verhindern. In der Folge stieg der Anteil der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt von 45 auf 52 Prozent.

Kohls ursprünglicher Beschluß, die Kosten der Einheit durch Staatsverschuldung statt durch Steuererhöhungen zu finanzieren, führte zu einem enormen Anwachsen des Haushaltsdefizits der Regierung und damit der Staatsverschuldung (1.51 Billionen DM für 1993). Die von der Bundesregierung aufzubringenden Zinsen machen mit jährlich 45 Milliarden DM 1993 fast soviel aus wie der Rüstungshaushalt!

Die Euphorie der Wiedervereinigung endete vorläufig im Katzenjammer der Rezession von 1993, die mit einem Minus von 1,9 Prozent des BIP wesentlich tiefer war als die von 1981 (–0,9 Prozent des BIP).

Mit der Rezession wuchs auch die Kritik der Unternehmer an der Kohl-Regierung. Die Kohl nahestehende FAZ schrieb im Sommer 1993: „Das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Regierung ist so schlecht wie schon lange nicht mehr. Fast könnte man meinen, in Bonn amtiere eine sozialdemokratische Regierung und nicht eine bürgerlich-konservative Regierung, die sich vor zehn Jahren einer Wende hin zu mehr Marktwirtschaft verschrieben hat.“ [9]

Noch im Februar 94 beschuldigte der Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI) TyIl Necker die Kohl-Regierung, diese führe die Bundesrepublik in die „Staatswirtschaft“. In dieser Kritik der Unternehmer, die vor der Bundestagswahl nur aus wahltaktischen Erwägungen vorübergehend verstummt ist, kommt aber nicht so sehr Kohls Schwäche als die anhaltende relative Stärke der deutschen Gewerkschaften zum Ausdruck, die einen Generalangriff auf die soziale Komponente der „sozialen Marktwirtschaft“ bisher als politisch zu riskant erscheinen ließ.

Die „soziale Marktwirtschaft“ war und ist wiederum die Basis des „Modell Deutschland“, das seinen Kern wiederum in den hochbürokratisierten und institutionalisierten Formen der industriellen Beziehungen hat.

Dieses „Modell Deutschland“, das innerhalb der EG als erfolgreich und vorbildhaft galt, ist am Zerbrechen. Die wesentlichen Merkmale dieses Modells waren:

  1. Relativ hohe Wachstumsraten in der Industrieproduktion und der Beschäftigung auf der Grundlage der Exporterfolge Westdeutschlands.
  2. Relativ niedrige Preiserhöhungen, garantiert durch die langfristig angelegte Geldpolitik der Bundesbank, dadurch Garantie einer starken Mark und Erhalt der internationalen Konkurrenzfähigkeit.
  3. Eine enge organisatorische Kooperation von Großbanken und den großen Konzernen, sowie ein hoher Grad an staatlicher Lenkung.
  4. Ein hochzentralisiertes System der industriellen Beziehungen zwischen Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Regierung, das die westdeutsche Arbeiterklasse in die Gesellschaft integrierte und so zu einer „Institutionalisierung des Klassenkampfs“ führte.

Kritiker dieses Modells aus dem Unternehmerlager weisen heute auf dessen „hohen Preis“ hin: kontinuierliches Wachstum der Löhne, ausgehandelt durch ein Gewerkschaftsbürokratie, die eine feste Kontrolle über ihre Basis besitzt und ein hoher Standard an staatlichen Sozialleistungen. So sei es zwar richtig, daß die Streikstatistiken Deutschlands bis vor kurzem im internationalen Vergleich extrem niedrig gewesen seien, zugleich aber auch die Zuwachsraten im Lebensstandard der Lohnabhängigen gemessen in Löhnen und Sozialleistungen hoch.

Die Streiks der letzten Jahre zeigen, daß die Macht der Gewerkschaften selbst in ihrer hochbürokratisierten Form einer von Unternehmern geforderten Flexibilisierung und Deregulierung von Arbeit und Löhnen im Weg stehen.

In den Streiks vom öffentlichen Dienst (1992), in der ostdeutschen Metallindustrie (1993) und bei der Post (1994) konnten die Gewerkschaften soziale Errungenschaften zumindest teilweise erfolgreich verteidigen. Die anhaltende Stärke der Gewerkschaften wirkt zwar auch heute noch als „Ordnungsfaktor“ gegen spontane Streiks von unten, wie sie Italien, Spanien und Frankreich im Winter 93 erschütterten. Aber die Kapitalseite ist immer weniger geneigt, den Preis in Form von materiellen Zugeständnissen zu bezahlen, die der Gewerkschaftsbürokratie gegenüber ihrer Basis Macht und Ansehen verlieh.

Ein Vergleich der Entwicklung der Reallöhne unterstreicht dies. Zwischen 1980 und 1992 fielen in den USA die durchschnittlichen Reallöhne um 8 Prozent: in der gleichen Zeit stiegen sie in Deutschland um 22 Prozent, in Italien um 14% und in Frankreich um 13%. Nur in Großbritannien stiegen sie mit 36% stärker als in Deutschland an. [10]

Wie groß die Bedeutung des deutschen Tarifsystems ist, kann man auch daraus ersehen, daß 90 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse durch Tarifverträge geregelt sind.

Zwar ging die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder im DGB von 11,8 Mill. (1991) auf 10,3 Mill. Ende 1993 zurück. Aber seit Beginn der 90er Jahre stiegen die Streikzahlen. 1991 nahmen 208.178 Beschäftigte an Streiks teil, 1992 waren es 598.364. [11] In keinem anderen Jahr seit 1949 hatte es eine höhere Anzahl von Streikenden gegeben. Lediglich 1971 hatten mit einer Anzahl von 536.000 annähernd so viele Arbeitnehmer gestreikt ...

Die weitverbreitete These vom Niedergang gewerkschaftlicher Macht hinkt der realen Entwicklung hinterher. Sie hatte für die 80er Jahr gestimmt, die 90er Jahre sind bisher durch einen Aufschwung gewerkschaftlicher Kämpfe gekennzeichnet. Weder der ÖTV-Streik von 1992 noch der ostdeutsche Metallerstreik vom Frühjahr 1993 brachten der Regierung Kohl und den Unternehmerverbänden die „Wende“ in der Tarifpolitik.

Die Wirtschaftswoche wirft der Kohl-Regierung vor, sie habe vor der Macht der Gewerkschaften ähnlich kapituliert wie die Regierung Willy Brandt 1974, als die ÖTV die Regierung in die Knie zwang. Zwar werfe der Kanzler den Arbeitgebern vor, sie seien gegenüber den Gewerkschaften zu nachgiebig gewesen. Er vergesse aber, „daß auch seine Regierung in den vergangenen Tarif- runden aus Angst vor unpopulären Streiks häufig genug die Unternehmer zu Kompromissen gedrängt hat.“ Durch die Kapitulation von Innenminister Wolfgang Schäuble vor der ÖTV 1991, habe sie „den Anfang vom Ende des Einheitsbooms eingeläutet“. [12]

Auch im internationalen Vergleich lag Deutschland in den Anfang der 90er Jahre nicht mehr am Ende der Streikfreudigkeit, sondern im Mittelfeld. [13]

 

 

Polarisierung

Der deutsche Kapitalismus geht stürmischen Zeiten entgegen. Das Modell Deutschland, die soziale Marktwirtschaft wird von den Unternehmern zunehmend als das zentrale Hindernis für eine Überwindung der Strukturkrise gesehen, die schon Anfang der 80er Jahre beklagt wurde.

Ein Anzeichen der Schwäche der Kohl-Regierung ist auch deren wiederholter Rückgriff auf rassistische Ablenkungsmanöver. Immer wenn Kohl mit dem Rücken an der Wand stand, griff seine Regierung in die Pandorabüchse des Rassismus.

Die These, daß die Regierung damit auf den Druck rechtsextremer Parteien reagiere, geht an den Tatsachen vorbei. Im August 1986 waren die Republikaner noch eine bayerische Lokalpartei, Naziparteien hatten seit den Erfolgen der NPD Ende der sechziger Jahre nirgendwo auch nur annähernd den Schritt über die 5%-Hürde geschafft. Dafür waren aber die Umfragen im Sommer 86 nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl und dem Versagen der Bundesregierung dabei in den Keller gerutscht. Um Wahlen zu gewinnen und um die Wut und Enttäuschung über gebrochene Wahlversprechungen umzulenken, hat die Kohl-Regierung auch 1991 und 92 ganz gezielt Kampagnen gegen die Asylflut“ losgetreten, die angeblich Deutschland zu überschwemmen drohte.

Die Wirtschaftswoche beschrieb 1991 die Motive der Kohl-Regierung ziemlich exakt, als sie schrieb:

So konnte es wirklich nicht weitergehen: Alle Welt redete nur noch von Inflation und Rezession, höheren Schulden und höheren Steuern ... Die Wähler wandten sich in Scharen der Opposition zu. Es mußt etwas geschehen. Und es geschah. Bundesinnenminister Schäuble schob ein neues Thema ins Rampenlicht der Offentlichkeit: die Asylanten frage. [13]

Der regierungsamtliche Rassismus in Form periodisch wiederkehrender Asylflutkampagne war wesentlich verantwortlich dafür, daß die Zahlen rassistische Gewalttaten explodierten und Naziparteien wie die Republikaner und die DVU durch Wahlerfolge Zulauf hatten.

Auch wenn es im Spätsommer 94 nicht so aussieht, als würden die Republikaner in den Bundestag einziehen, wäre es grundfalsch, Entwarnung zu geben. Die gleiche gesellschaftliche Polarisierung (mehr Langzeitarbeitslose und mehr reiche Erben zugleich!) kann zu sozialen Explosionen wie auch zum erneuten Anwachsen faschistischer Parteien führen.

Leggewie, der von der „relativen Hyperstabilität“ der politischen Verhältnisse in Deutschland spricht, weist an anderer Stelle darauf hin, daß der liberale Flügel der CDU zur Zeit die „Ahnung betäube“, „daß nach der Bundestagswahl der soziale Kahlschlag erst richtig beginnt“. Diese Hoffnung sei durch „nichts gedeckt“ („ein Blick auf die hohe Staatsverschuldung genügt“) und sie verbinde sich „mit der noch viel vageren Hoffnung auf einen kontinuierlichen Wirtschaftsaufschwung“. [14]

Die Unternehmerverbände und die konservative Regierung im Falle ihrer Wiederwahl werden auf jeden Fall versuchen, die soziale Marktwirtschaft und mit ihr das System der zentral-bürokratischen Regelungsmechanismen abzubauen, die Macht der Gewerkschaften zu schwächen. Einen Schritt in diese Richtung hat Kohl bereits 1986 mit der Änderung des Streikrechts nach § 116 AFG gemacht. Damals gab es beträchtlichen Widerstand mit Massendemonstrationen bis hin zu Warnstreiks. Der Versuch kann sich selbst zu einem politischen Konflikt ausweiten, der an Weimarer Verhältnisse heranführt.

Die Frage, mit der sich die Bundesrepublik konfrontiert sieht, ist nicht, ob es zur politischen Destabilisierung kommt, sondern in welche Richtung diese gehen wird. im Herbst 1992 nach den pogromartigen Überfällen auf die zentrale Asylaufnahmestelle von Rostock macht der Hamburger Verfassungsschützer Ernst Uhrlau in großen Kreisen der Linken Furore mit seiner These „es gebe eine 68er Bewegung von Rechts“. Die Warnung hat mit dazu beigetragen, daß es eine Massenbewegung gegen rassistische Gewalt von vier Millionen Menschen in den Lichterketten gab, die selbst dazu beitrugen, daß es bisher nicht dazu kam.

Die Selbstberuhigung mit der These „Bonn ist nicht Weimar“ mag kurzfristig trösten. Sie wird von Politikern und Wissenschaftlern verfochten, die trotz untrüglichen Krisenanzeichen darüber hinwegblicken, daß der Weltkapitalismus sich seit Mitte der 70er Jahre langsam aber sicher in eine langfristige Stagnationskrise hineinbewegt. Der bisherige Verlauf der Krise war völlig anders als 1929, die zu einem plötzlichen und bodenlosen Abgrund führte. Deshalb ist auch der Ausdruck von der Gefahr der Rückkehr zu Weimarer Verhältnissen im Zeitlupentempo angemessen.

Nicht zuletzt auf die Angst vor einer solchen Entwicklung macht Kohls Phantom eines Aufschwungs so attraktiv.

Auch auf einem Vulkan kann vorübergehend der Eindruck von Ruhe und Geborgenheit entstehen! Interessant für den Geologen sind nicht in erster Linie die Bewegungen an der Oberfläche, sondern die Untersuchung der Verwerfungen in den tieferen Gesteinsschichten. Und da brodelt und kocht es ganz mächtig.

 

 

Anmerkungen

1. Clauss Leggewie, Totgesagte leben länger, Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/94, S.948f.

2. Sozial-Demontage. Vom Sozialstaat zur konservativen „Wende“, Matthias Arkentstett u.a., Hamburg 1982, S.240

3. zitiert nach Klaus Bölling, Die letzten dreißig Tage des Kanzlers Helmut Schmidt, Hamburg 1982, S.122

4. Bernd Engelmann, Schwarzbuch – oder wie man einen Staat ruiniert, Göttingen 1994, S.108

5. Financial Times, 22.10.1993

6. D. Marsh, The Bundesbank, London 1993, zitiert nach A.Callinicos, The Crisis in Europe, International Socialism 63.

7. Vgl. Gewerkschaften heute, Jahrbuch für Arbeitnehmerfragen 1994, Michael Kittner (Hrsg.). Köln 1994, S.89

8. FAZ, 19. Juni 1993

9. Financial Times, 24.2.94

10. Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland

11. Wirtschaftswoche, Nr. 43/1993

12. Vgl. Die Zeit, 11. Februar 94. Danach gab es in Deutschland in den Jahren 91/92 mehr Streiktage je 1000 Beschäftigten als in England und Frankreich.

13. Wirtschaftswoche, 27.8.91

14. Leggewie, a.a.O.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2001