Sameh Naguib

Die ägyptische Revolution

Politische Analyse und Augenzeugenbericht

(Juli 2011)


Erstveröffentlichung auf Englisch bei Bookmarks, London, Juli 2011.
Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning und David Paenson:
HTML-Markierung von Einde O’Callaghan für REDS – Die Roten.


Einführung

Zurzeit spielen sich in der arabischen Welt Ereignisse von historischer Tragweite ab. Eine Reihe Revolutionen, die in Tunesien begannen und auf Ägypten, den Jemen, Libyen, Bahrain und Syrien übersprangen, gehören zweifellos zu den größten Herausforderungen, vor denen der US-amerikanische Imperialismus und der Weltkapitalismus in den vergangenen vier Jahrzehnten gestanden haben. Betrachten wir diese Ereignisse im Zusammenhang mit der weltweiten kapitalistischen Krise, die im Jahr 2008 ausbrach und weiterhin nachwirkt, und mit dem wachsenden Widerstand gegen die europäischen Sparprogramme, dann wird deutlich, dass wir in eine Zeit außerordentlicher Gelegenheiten und Herausforderungen für revolutionäre Sozialisten eintreten.

Die ägyptische Revolution, die am 25. Januar 2011 begann und Mubarak innerhalb von 18 Tagen stürzte, ist die bedeutendste der arabischen Revolutionen. Ägypten ist nicht nur das arabische Land mit der höchsten Bevölkerungszahl, dort gibt es auch die größte, kämpferischste und erfahrenste Arbeiterklasse der Region. Das Schicksal der ägyptischen Revolution wird nicht nur entscheidend für die Zukunft der anderen arabischen Revolutionen sein, sondern auch für die Fähigkeit oder Unfähigkeit des US-Imperialismus und Weltkapitalismus, diese beispiellose Herausforderung einzudämmen.

Während ich dies schreibe (Anfang Juni 2011), sind die Schlachten der ägyptischen Revolution noch nicht alle geschlagen. Wir erleben einen revolutionären Prozess mit Vorstößen und Rückzügen, mit Zeiten reaktionärer Angriffe gefolgt von Zeiten mit Massenstreiks und Demonstrationen. Reaktionäre Kräfte vereinigen sich international (die USA, die EU, Saudi-Arabien und Israel) und lokal (die ägyptische herrschende Klasse, die Generäle, die Überreste des Sicherheitsapparats), um die Revolution abzuwürgen oder zumindest aufzuhalten.

Es ist die Pflicht von Revolutionären weltweit, die größte und kämpferischste Solidaritätsbewegung mit der ägyptischen und der arabischen Revolution aufzubauen, und ebenso notwendig ist der Aufbau revolutionärer Bewegungen und Organisationen in den eigenen Ländern, um die eigene herrschende Klasse zu bekämpfen.

Mit dieser Broschüre bieten wir eine Kurzeinführung in die Ursachen, Entwicklungen und Aussichten der ägyptischen Revolution in ihren ersten Monaten.

Sameh Naguib, Kairo, Juni 2011

Der Autor ist führendes Mitglied der Revolutionären Sozialisten Ägyptens


Mubaraks turbulentes letztes Jahrzehnt

Die ägyptische Revolution kam nicht aus blauem Himmel. Auch wenn niemand das Ereignis selbst hätte vorhersagen können, hatten im letzten Jahrzehnt von Husni Mubaraks Herrschaft die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Spannungen doch dramatisch zugenommen.

Mubaraks Herrschaft stützte sich auf drei miteinander verbundene politische Pfeiler. Der erste bestand in der neoliberalen Wirtschaftspolitik, mit der die ägyptische Wirtschaft weiter auf ungleichmäßige Weise in die kapitalistische Weltwirtschaft eingegliedert wurde und die im Inneren zur Verarmung der großen Mehrheit der Bevölkerung führte. Damit sollten mehr Profite in die Taschen der multinationalen Konzerne und einer kleinen Clique ägyptischer Kapitalisten gepumpt werden.

Der zweite bestand darin, das Regime und seine Armee zu einem zuverlässigen Verbündeten, oder besser Satellitenstaat im Dienste des US-Imperialismus und Israels zu machen. Der dritte Pfeiler bestand in der Aufrechterhaltung eines rücksichtslosen Polizeistaats, der jeden Angriff auf die Macht des Regimes und den Reichtum der Kapitalisten zerschlug.

Eine wesentliche Säule der US-amerikanischen imperialistischen Politik in der Region war wie überall auf der Welt, die Wirtschaften für Investitionen und Ausbeutung durch multinationale Konzerne zu öffnen. Militärische und strategische Kontrolle über diese wichtige Ölförderregion sollte Hand in Hand mit der Liberalisierung ihrer Ökonomien gehen. Diese Politik musste den Regimes der Region nicht aufgezwungen werden, da sie mit den Interessen der lokalen herrschenden Klassen zusammenfiel. Diese herrschenden Klassen benutzten eine Mischung aus Neoliberalismus, einem Bündnis mit den USA und regionaler Unterstützung für Israel, um Zugang zu den Weltmärkten zu erhalten und Partner großer multinationaler Konzerne zu werden. Sie sicherten sich so auch die Unterstützung der USA für ihre brutalen und undemokratischen Regime wie das Mubaraks.

Antonio Gramsci, der große italienische Revolutionär, erörterte, dass jede herrschende Klasse sowohl Zwang als auch Zustimmung braucht, um an der Macht zu bleiben. Das Regime Gamal Abdel Nassers, das nach dem Sturz der Monarchie durch Jungoffiziere im Jahr 1952 an die Macht kam, setzte Zwang ein. Aber es machte auch Zugeständnisse an Teile der Arbeiterklasse und der Bauernschaft. Nasser spielte auch eine Rolle als Mentor des Antiimperialismus. Seine Unterstützung für die Sache der Palästinenser gestattete es ihm, sein politisches Machtmonopol aufrechtzuerhalten und die linke wie die islamistische Opposition bis zum Krieg von 1967 in Schach zu halten.

Die Politik von Nassers Nachfolger Anwar as-Sadat und die Mubaraks, der nach Sadats Ermordung im Jahr 1981 an die Macht kam, untergrub Schritt für Schritt den relativen Konsens, den Nasser mit seinem Sozialpakt hergestellt hatte. Insbesondere während der dreißigjährigen Herrschaft von Mubarak stützte sich das Regime für seinen Machterhalt zunehmend allein auf scharfe Unterdrückung.
 

Neoliberalismus und Revolution

Obwohl bereits Sadat mit der Liberalisierung und Deregulierung der ägyptischen Wirtschaft – bekannt als Infitah – Mitte der 1970er Jahre begann, beschränkten sich die Maßnahmen zunächst auf die Liberalisierung des Handels und einen größeren Spielraum für ausländisches und lokales Privatkapital. Die Wirtschaft blieb bis weit in die 1980er Jahre hinein vom Staat und vom öffentlichen Sektor beherrscht.

Erst in den 1990er Jahren beginnt der Frontalangriff auf die Arbeiterklasse, die Stadtarmen und die ärmeren Schichten der Bauern. In den folgenden zwei Jahrzehnten begann eine neue Klasse von Multimilliardären, die eng mit dem Staat verbunden sind, die ägyptische Wirtschaft und Politik zu dominieren.

Zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) begann das Regime im Jahr 1991 mit der Umsetzung eines Strukturanpassungsprogramms. Zu dem Programm gehörte die Rücknahme aller nasseristischen Gesetze, die der ärmeren Bauernschaft gewissen Schutz vor den Verheerungen des freien Marktes boten. Die Preispolitik für Landwirtschaftsprodukte wurde liberalisiert, und Subventionen auf Samen, Dünger und Landwirtschaftsmaschinen wurden abgeschafft. Nach einer Gesetzesänderung im Jahr 1992 begannen der Pachtzins dramatisch zu steigen und Pächter konnten nach einer Übergangszeit von fünf Jahren von ihrem Land vertrieben werden. Nach 1997 verloren deshalb Zehntausende Pachtbauern mit ihren Familien das Land, das sie seit Generationen bestellt hatten. Die Ländereien gingen zurück an die alten, meist abwesenden Grundbesitzer.

Im Jahr 1996 wurde ein großes Privatisierungsprogramm eingeleitet. Bereits im Jahr 2005 waren über 200 der 314 großen staatlichen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen entweder vollständig oder teilweise privatisiert. Die Zahl der öffentlich Bediensteten wurde ab Mitte der 1990er Jahre bis zum Jahr 2005 um fast 50 Prozent gesenkt. Rund zwanzig Prozent des Bankenwesens ging von der öffentlichen Hand in den Privatsektor über. Unterm Strich ergab sich aus dieser Politik eine beispiellose Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, ein scharfer Anstieg der Arbeitslosigkeit und die weitere Verarmung großer Teile der ägyptischen Bevölkerung. Währenddessen kauften, verkauften und spekulierten die Generalität, die Bürokraten und die Geschäftsleute was das Zeug hielt und häuften riesige Reichtümer an.

Seit die Regierung Mubarak ihre neoliberale Politik umzusetzen begann, stieg der Prozentsatz der Ägypter, die am oder unter dem Existenzminimum von 2 US-Dollar täglich leben, von 20 auf 44 Prozent. Und in Mubaraks letztem Jahrzehnt, als das Bruttoinlandsprodukt sein höchstes Wachstum erlebte, wuchs der Anteil derjenigen, die in absoluter Armut leben (unter 1 US-Dollar täglich) von 16 auf fast 20 Prozent.

Die neoliberale Doktrin fordert in der Theorie die Verkleinerung des öffentlichen Sektors. Faktisch jedoch ging es bei dem „real existierenden“ Neoliberalismus um die Umverteilung öffentlicher Mittel zugunsten einer winzigen Minderheit. Wer gute Beziehungen hatte (und Milliardäre haben in der Regel gute Beziehungen), konnte Staatsbetriebe für einen Bruchteil ihres Marktwerts kaufen. Unternehmen für Baumaterialien wie Stahl und Zement konnten mithilfe von Staatsaufträgen riesige Profite machen.

Laut Ahmed al-Naggar, Leiter für Wirtschaftsstudien am Al-Ahram-Zentrum für politische und strategische Studien, verkauften Regierungsbeamte Staatsland zu niedrigen Preisen an politisch nahestehende Familien. Sie ermöglichten es auch Auslandskonzernen, staatliche Unternehmen gegen Schmiergelder günstig aufzukaufen.

Im Jahr 2004 ernannte Mubarak eine neue Regierung aus Spitzenunternehmern, den sogenannten Dr.-Technokraten, die faktisch hochideologische Neoliberale waren, überwiegend in Großbritannien und in den USA ausgebildete Thatcheristen und Reaganisten. Die neue Regierung setzte auf die Ausweitung der neoliberalen Programme. Alles kam in den Ausverkauf, einschließlich Fabriken, Wüstenland, landwirtschaftliche Nutzflächen, Flughäfen und der öffentliche Verkehr. Die neue Regierung senkte den Spitzensteuersatz von 42 auf 20 Prozent, womit die Milliardäre und multinationalen Konzerne haargenau denselben Anteil Einkommenssteuer zahlten wie die kleinen Ladenbesitzer.

In den Jahren 2005/08 wurde die ägyptische Regierung von den internationalen Finanzbehörden, allen voran dem IWF und der Weltbank, für das erzielte Wachstum von 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts mit Lob nur so überschüttet. Aber neoliberale Wachstumsraten haben die Eigenschaft, die ungleiche Verteilung zu verbergen. Es wird vorausgesetzt, dass der größere Reichtum schon nach unten durchsickert und so den Armen zugute kommen. Das ist aber nicht der Fall. Die hohen Wachstumsraten in Ägypten verhalfen einer winzigen Minderheit zu ungeahntem Reichtum und stießen die Mehrheit der Menschen immer tiefer in Armut und Erwerbslosigkeit.

Nach Mubaraks Sturz entdeckten Prüfer die geradezu astronomische Größe des Vermögens der Familie Mubarak, von Ministern und anderen hochrangigen Staats- und Parteifunktionären. In der ägyptischen und westlichen bürgerlichen Presse wurde geschlussfolgert, dass dies nicht das Ergebnis neoliberaler Politik oder des freimarktwirtschaftlichen Kapitalismus sei, sondern von „Vetternwirtschaft“. Entsprechend argumentierten sie, dass die Bestechlichkeit der Staatslenker und die Vermischung von politischer und wirtschaftlicher Macht verhindere, dass die Liberalisierungspolitik das Leben der Armen verbessere. Zwei Probleme gibt es mit diesem Argument. Erstens ist die enge Verflechtung von politischer und wirtschaftlicher Macht so alt wie der Kapitalismus selbst. Zweitens ging es bei der Politik des Neoliberalismus nie um die Beseitigung oder auch nur Einschränkung der Rolle des Staats in der Wirtschaft, sondern vielmehr darum, ihn als Helfer der kapitalistischen Profitmacherei auf Kosten der Arbeiterklasse zu stärken. Damit entstand eine noch engere Beziehung zwischen Staat und Kapital. Gerade in dieser engen Beziehung blühen Korruption und Vetternwirtschaft. Um ein Klischee zu bemühen, könnten wir sagen, der Kapitalismus korrumpiert, der neoliberale Kapitalismus korrumpiert absolut.
 

US-amerikanischer Imperialismus und das Regime Mubaraks

Seit Ägypten im Jahr 1979 den Friedensvertrag mit Israel schloss, gehörte das Bündnis zwischen den USA und Ägypten zu den Hauptsäulen der strategischen Hegemonie der USA in der Region.

In allen US-amerikanischen und israelischen Kriegen und Aggressionen in der Region spielte das ägyptische Regime den loyalen Diener seiner strategischen Verbündeten. Vom Krieg Israels gegen den Libanon im Jahr 1982 und der mörderischen Belagerung Beiruts mit den Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila bis zu dem barbarischen Krieg gegen Gaza im Jahr 2008/2009 setzte das Regime Mubarak seine Rolle als wichtiger Makler in der Region fort.

Wie Noam Chomsky sagte, bedeutet das Bündnis mit den USA, dass „ägyptische Streitkräfte aus dem arabisch-israelischen Konflikt herausgehalten wurden und Israel seine Aufmerksamkeit (und seine militärischen Kräfte) ganz auf die besetzten Gebiete und die Nordgrenze konzentrieren konnte“. Im ersten Golfkrieg im Jahr 1991 nahmen ägyptische Streitkräfte unter Kommando der USA an dem schweren kriegerischen Angriff auf den Irak teil, der beschönigend als „Befreiung Kuwaits“ bezeichnet wurde. Der kommandierende General der ägyptischen Streitkräfte in diesem Krieg war kein anderer als General Mohammed Hussein Tantawi, seitdem Mubaraks Verteidigungsminister und jetzt faktisch Machthaber Ägyptens seit dem Sturz seines Herrns und Meisters.

Nach dem 11. September 2001 spielte das Regime Mubarak eine wichtige Rolle bei der Unterstützung und Förderung der von den USA ausgelagerten Folterprogramme, den „außerordentlichen Auslieferungen“. Im Jahr 2005 berichtete die BBC, dass die USA und Großbritannien „Terrorismusverdächtige“ nach Ägypten brachten. In dem Bericht gab der ägyptische Ministerpräsident zu, dass die USA seit dem Jahr 2001 mehr als 60 Häftlinge im Rahmen des „Kriegs gegen Terror“ nach Ägypten überstellt haben. Während des Überfalls auf den Irak im Jahr 2003 hielt Ägypten den Suezkanal für die US-amerikanischen Kriegsschiffe offen, die den Irak schließlich verwüsteten. Mubarak spielte auch eine wichtige Rolle dabei, den verschiedenen Marionettenregimen, die der irakischen Bevölkerung von den US-amerikanischen Besatzern aufgezwungen wurden, Legitimität zu verleihen.

Im Krieg Israels von 2006 gegen den Libanon war das ägyptische Regime ein unbeugsamer Unterstützer des Plans Israels, die Hisbollah zu zerschlagen, und organisierte eine intensive Medienkampagne zur Verteufelung der Schiiten und zum Anheizen konfessioneller Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten. Der israelische Krieg gegen Gaza im Jahr 2008/2009 wurde von Mubarak voll und ganz unterstützt. Er traf sich nur wenige Stunden vor Beginn der Bombardierung mit israelischen Spitzenbeamten. Ägypten spielte auch eine wesentliche Rolle bei der erstickenden Belagerung Gazas, indem es durch die Blockade des Grenzübergangs Rafah zwischen Ägypten und Gaza dazu beitrug, 1,5 Millionen Palästinenser ihrer Lebensgrundlage zu berauben.

Natürlich wurde Mubarak von den verschiedenen US-Regierungen gut für seine Dienste entschädigt. Die USA versorgten Mubaraks Regime mit jährlich fast 2 Milliarden Dollar, es wurde so zum zweitgrößten Empfänger von Auslandshilfen nach Israel. Laut Untersuchungsbericht des US-amerikanischen Kongresses von September 2009 subventionierten die USA das ägyptische Regime mit über 64 Milliarden US-Dollar, seit es den Friedensvertrag mit Israel im Jahr 1979 unterzeichnete, dazu gehörten auch 40 Milliarden US-Dollar an militärischem Gerät und Sicherheitsausrüstung.

Sie belohnten das Regime im April 1991 auch mit einem Schuldenerlass in Höhe von 7 Milliarden US-Dollar für seine Unterstützung des Golfkriegs zu Beginn des Jahres. Außerdem intervenierten sie beim Pariser Klub, damit dieser Ägypten die Hälfte seiner 20 Milliarden US-Dollar Schulden bei westlichen Regierungen erließ.

Die USA setzten ihre Unterstützung des Regimes Mubarak bis zum bitteren Ende fort. Als Präsident Barack Obama während seines gefeierten Besuchs in Ägypten im Juni 2009 von der BBC gefragt wurde, ob er Präsident Mubarak für einen autoritären Herrscher halte, antwortete Obama mit einem ausdrücklichen „Nein“.

Sogar noch während der Revolution, als das Regime Ägypter zu Tausenden verprügelte, verhaftete und tötete, sagte Außenministerin Hillary Clinton: „Nach unserer Einschätzung ist die ägyptische Regierung stabil und sucht nach Wegen, den legitimen Bedürfnissen und Interessen der ägyptischen Bevölkerung gerecht zu werden.“ Die Frage, ob die USA an die Stabilität der ägyptischen Regierung glaubten, beantwortete der Pressesprecher des Weißen Hauses, Robert Gibbs, ohne zu zögern mit „Ja“.
 

Widerstand: Die zweite palästinensische Intifada und der Einmarsch in den Irak

Der Ausbruch der zweiten palästinensischen Intifada im September 2000 hatte zwei wesentliche Folgen für Ägypten. Die erste war der Zusammenbruch des von den USA angeleiteten Nahost-„Friedensprozesses“, in dem das ägyptische Regime eine solch wichtige Rolle gespielt hatte. Dieser Prozess, der mit dem Oslo-Abkommen zwischen israelischen und palästinensischen Verhandlungsführern im Jahr 1993 begonnen hatte, geriet in eine Sackgasse, als die den USA freundlich gesinnte Führung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) fast allen israelischen Forderungen nachgab. Unterdessen setzten die Israelis ihre Übergriffe und die Besetzung weiteren palästinensischen Lands fort, während sie sich weigerten, auch nur ein einziges Zugeständnis in der entscheidenden Frage der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge zu machen, die im Jahr 1948 und danach aus ihrer Heimat vertrieben wurden, oder in der Frage des Endstatus von Jerusalem und der Souveränität eines künftigen palästinensischen Staats. Während dieses Prozesses übte das ägyptische Regime unverminderten Druck auf die palästinensische Seite aus, damit diese noch weitere Zugeständnisse machte, und die Staatschefs der USA und Israels lobten Mubaraks „weise Führung“ in den höchsten Tönen.

Der Ausbruch der zweiten Intifada entlarvte den Friedensprozess nicht nur als Fassade für weitere aggressive Akte und weitere Besetzungen Israels, sondern zeigte auch die uneingeschränkte Komplizenschaft des ägyptischen Regimes als Verbündeter Israels und als Feind des palästinensischen Volks und seiner Bestrebungen.

Die Intifada hatte elektrisierende Auswirkung auf Ägypten. Die beschämende Rolle des Regimes einerseits und der Mut und das Beharrungsvermögen des palästinensischen Volks und seiner bewaffneten Befreiungsbewegung andererseits wirkten sich radikalisierend auf Hunderttausende junger Ägypter aus. Überall im Land kam es zu Massendemonstrationen. Studenten wie Schüler organisierten Proteste und betraten damit zum ersten Mal die Arena der Politik. Nasseristen, Islamisten und Sozialisten arbeiteten bei der Organisierung der Proteste zusammen und sammelten Geldspenden, Lebensmittel und Medikamente, um Hilfskonvois für die belagerten Palästinenser zusammenzustellen.

Dieses politische Erwachen weitete sich aus und gewann an Tiefe mit dem US-amerikanischen Krieg gegen den Irak. Am 20. März 2003 veranstalteten Aktivisten auf dem Tahrirplatz eine Protestkundgebung gegen den Krieg, zu der 40.000 Menschen zusammenkamen. Demonstranten verbrannten Plakate mit Bildern Mubaraks und besetzten den Platz vierunddzwanzig Stunden lang in einer Art Generalprobe für die revolutionäre Besetzung des Platzes im Jahr 2011.
 

Die Demokratiebewegung

Die Gewalt und die Unterdrückung, die das Regime gegen diese Welle der Proteste einsetzte, warfen die Frage nach Demokratie auf. Die Wut auf die erstickende Diktatur, die brutalen Polizeiübergriffe, die Folter, die Massenverhaftungen und die Aburteilung von Zivilisten vor Militärgerichten richtete sich auch gegen Mubaraks Pläne, seinen Sohn Gamal zu seinem Nachfolger als Präsident zu machen. Vor diesem Hintergrund bildete sich eine Demokratiebewegung heraus, die die Aufhebung des Ausnahmezustands demokratische Wahlen und das Ende der Dynastie Mubarak forderte.

Am 12. Dezember 2004 organisierte ein Oppositionsbündnis aus Nasseristen, Sozialisten, Islamisten und Liberaldemokraten die erste einer ganzen Serie von Demonstrationen unter dem Namen Kiffaja (Genug!). Die Demonstrationen waren klein, auf ihrem Höhepunkt zogen sie bestenfalls ein paar tausend Menschen an. Aber ihre politischen Auswirkungen waren viel größer als die Zahl der Teilnehmer vermuten ließ. Mit dem Ruf nach dem Ende der Herrschaft Mubaraks und der ausdrücklichen Forderung, die Polizeigeneräle wegen Folter und illegaler Verhaftungen vor Gericht zu stellen, wurde ein Tabu gebrochen. Der Angriff auf die Korruption der herrschenden Familie und von hohen Staatsbeamten stieß bei vielen auf große Resonanz.

Dennoch schaffte die Bewegung es nicht, größere Teile der Bevölkerung zu mobilisieren oder ihre politischen Forderungen mit der Unzufriedenheit über die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu verbinden, die unterhalb der Oberfläche gärte und kurz vor dem Ausbruch stand. Als es dem Regime im Jahr 2005 gelang, Mubaraks Amtszeit zum fünften Mal zu erneuern und auch die Ausnahmegesetze um weitere zwei Jahre zu verlängern, kam es zu einer Flaute in der Bewegung.
 

Die Arbeiterbewegung

Zur größten und gefährlichsten Herausforderung an das Regime wurde schließlich die beispiellose Streikwelle von Arbeiterinnen und Arbeitern, die im Jahr 2006 einsetzte und sich selbst nach dem Sturz Mubaraks noch ausweitet und an Tiefe gewinnt.

Im Jahr 2004 hatte es einen langsamen Anstieg von Streiks und Protesten gegeben, die nach Einsetzung der Regierung Ahmed Nasifs im Juli des Jahres noch zunahmen. Im Jahr 2005 kam es zu 202 Kollektivaktionen von Arbeiterinnen und Arbeitern, 222 im Jahr 2006 und beispiellosen 614 im Jahr 2007.

Im Dezember 2006 begannen Arbeiterinnen und Arbeiter der Spinn- und Webfabriken Misr in Mahalla al-Kubra, in denen über ein Viertel der öffentlich Beschäftigten der ägyptischen Textilindustrie angestellt sind, einen Streik, der zu einem entscheidenden Wendepunkt für die Arbeiterbewegung wurde. Die Regierung hatte versprochen, die Jahreszulage für Beschäftigte des öffentlichen Sektors deutlich zu erhöhen. Als die Arbeiterinnen und Arbeiter von Mahalla im Dezember feststellen mussten, dass die Regierung ihr Versprechen gebrochen hatte, verwandelte sich die Wut darüber sehr schnell in die Vorbereitung eines Streiks. Führende Arbeiterinnen und Arbeiter begannen Flugblätter zu verteilen und hielten Reden, um zum Streik aufzurufen.

Am 7. Dezember sammelten sich Tausende Arbeiter an einem der Haupteingänge der Fabrik. Eine Demonstration von 3.000 Textilarbeiterinnen marschierte durch das Spinn- und Webwerk und forderte die Arbeiter auf, sich dem Streik anzuschließen. Die Produktion in allen Abteilungen der riesigen Textilfabrik kam zu einem völligen Stillstand. Etwa 24.000 Arbeiterinnen und Arbeiter streikten und besetzten die Fabrik drei Tage lang. Die Streikenden forderten die ungekürzte Auszahlung der im März versprochenen Sonderzulagen und stellten eine Reihe anderer Forderungen auf wie die nach Transportdiensten, medizinischer Versorgung, Kindergärten, besseren Arbeitsbedingungen und Beseitigung von Missmanagement. Am vierten Tag gab die Regierung fast allen Forderungen nach und der Streik wurde ausgesetzt unter Androhung der Wiederaufnahme, sollten die übrigen Forderungen nicht erfüllt werden.

Die Streikbewegung, die im Dezember 2006 in Mahalla begann, weitete sich auf beispiellose Weise aus: Sie reichte vom öffentlichen in den Privatsektor, sie erfasste die staatlichen Behörden und sprang von den alten Industriegebieten auf die neuen Industriestädte in allen Provinzen über. Sie erfasste den Textilbereich, den Maschinenbau, Chemie, Bauindustrie, Transport und Dienstleistungen. Der Streik reichte in Bereiche hinein, in denen es keinerlei Protestkultur gegeben hatte: Lehrer, Ärzte, Angestellte und sogar die Bewohner der Elendsviertel beteiligten sich daran. Die Streiks trugen die Protestkultur in alle Lebensbereiche hinein.

Selbst in Sektoren, in denen Streiks durch Sondergesetze verboten waren, konnten Arbeiter Massenstreiks organisieren und widersetzten sich so den Gesetzen und trotzten den Behörden. Das geschah bei der Eisenbahn, der Kairoer U-Bahn, in Krankenhäusern, bei Notdiensten, im Postdienst, im öffentlichen Verkehr und bezeichnenderweise in Industrien, die den Streitkräften gehörten.

Im September 2007 organisierten die Textilarbeiter von Mahalla ihren zweiten Massenstreik und besetzten erneut die Fabrik. Die Regierung hatte ihre Versprechen wieder nicht erfüllt. Diesmal war der Streik noch kämpferischer. Nach sechs Tagen Streik und Besetzung erhielten die Arbeiterinnen und Arbeiter eine Sonderzulage, und der besonders verhasste Geschäftsführer musste zurücktreten. Das sahen die Beschäftigten nicht nur als wirtschaftlichen, sondern auch politischen Sieg an. Trotz der Gesetze, trotz der Unterdrückung, trotz der Drohungen und Einschüchterungen hatten die Arbeiterinnen und Arbeiter durch gemeinsames Handeln gegen ein rücksichtsloses Regime gewonnen. Das war ein Sieg für die Demokratie, insbesondere für Arbeiterdemokratie. Die Beschäftigten hatten der Demokratiebewegung der vergangenen Jahre gezeigt, dass nur sie über echte Kollektivmacht verfügen, um die Diktatur in die Knie zu zwingen.

Ende des Jahres 2007 traten rund 55.000 Grundsteuerbeamte in den Streik. Sie veranstalteten massenhafte Sit-ins vor den Toren des Finanzministeriums und forderten Lohngleichstellung mit ihren Kollegen, die direkt im Finanzministerium angestellt waren.

Der Streik dauerte drei Monate lang, in denen die Grundsteuereinnahmen um mehr als 90 Prozent sanken. Der Sieg wurde mit einem elftägigen Sit-in direkt vor dem Finanzministerium im Zentrum Kairos erreicht. Die Steuerbeamten erhielten eine Lohnerhöhung von 325 Prozent und vor allem verwandelten sie ihr demokratisch gewähltes Streikkomitee in die Führung der ersten unabhängigen Gewerkschaft Ägyptens seit dem Jahr 1957.

Massenstreiks und soziale Proteste verbreiteten sich weiter im Land, verlangsamten sich in einigen Monaten, um umso mächtiger in anderen wiederaufzuleben. Die Arbeiterklasse war in die Schlacht gegen das Regime gezogen. Der Aufstand gegen Neoliberalismus und Diktatur hatte ernsthaft begonnen.
 

Die Weltwirtschaftskrise

Die schwere Rezession, die den Globus im Jahr 2008 erschütterte, verschärfte die Krise in Ägypten und sorgt weiterhin für instabile Verhältnisse. Drei Hauptfaktoren sind dafür verantwortlich: Erstens ist Ägypten stakt abhängig von Exporten nach Europa, und diese nahmen wegen des Einbruchs der Nachfrage im Gefolge der Rezession dramatisch ab. Statistiken der Weltbank zeigen, dass die jährliche Wachstumsrate Ägyptens bei Warenexporten in die EU von 33 Prozent im Jahr 2008 auf minus 15 Prozent im Juli 2009 sank.

Zweitens verschlechterte sich die Lage noch durch die drakonische Sparpolitik in Europa. Die Geldanweisungen der Auswanderer nahmen um 17 Prozent im Vergleich zu 2008 ab, die Einkünfte aus dem Tourismus gingen nach einem Anstieg um 24 Prozent im Jahr 2008 auf einen Minus von 1,1 Prozent im Jahr 2009 zurück, und die Einkünfte aus dem Suezkanal fielen um 7,2 Prozent verglichen mit 2008.

Ein dritter Faktor war der scharfe Anstieg der Kosten für Grundnahrungsmittel. Ägyptens Abhängigkeit von importierten Nahrungsmitteln, insbesondere Weizen, erschweren es der Regierung, die Ökonomie vor den Folgen des weltweiten Anstiegs der Nahrungsmittelpreise abzuschirmen. In Ägypten stieg die jährliche Preisinflation bei Nahrungsmitteln von 17,2 Prozent im Dezember 2010 auf 18,9 Prozent im Januar 2011.

Der Neoliberalismus hat das Land sehr viel krisenanfälliger gemacht, indem er die Ungleichheit erheblich vergrößerte und gleichzeitig Mechanismen sozialer Unterstützung untergrub. Die Folgen der Krise konzentrierten sich so auf die am meisten verletzlichen Schichten der ägyptischen Gesellschaft.

Die Weltkrise hätte für das Regime zu keinem ungelegeneren Zeitpunkt kommen können. Angesichts der wachsenden Arbeiterbewegung und der mit den nahenden Präsidentschaftswahlen sich langsam wiederbelebenden Demokratiebewegung hätte das Regime eine klare Strategie gebraucht, um die neuen Herausforderungen zu bewältigen.
 

Auf dem Weg zur Revolution

Spaltungen und Risse begannen sich in den herrschenden Zirkeln zu zeigen. Sollten sie mit ihrem verschärften neoliberalen Programm weitermachen und den Widerstand der Arbeiterbewegung zerschlagen, oder sollten sie die Bremse ziehen und die Bewegung einzudämmen versuchen? Sollten sie wie geplant Gamal Mubarak zum Nachfolger seines Vaters machen, oder sollten sie eine akzeptablere Figur, vielleicht aus der Armee, als Ägyptens nächsten Präsidenten auswählen und so die wachsende Opposition gegen die herrschende Familie besänftigen?

Zwang oder Eindämmung, lautete die Frage. Die Eindämmungspolitik würde als Zugeständnis an die wachsenden Bewegungen von unten gesehen werden und sie womöglich noch entschlossener machen in ihrem Vorgehen gegen das Regime. Zwang könnte zu einer unkontrollierten Explosion führen. Keine Seite der herrschenden Kreise war sich wirklich sicher, dass ihre Strategie das Regime retten könnte.

Die Verwirrung an der Spitze wurde offenbar bei den Parlamentswahlen des Jahres 2005, die in drei Stufen durchgeführt wurden. Auf der ersten Stufe schien es, als hätte die Beschwichtigungsfraktion die Oberhand. Wahlfälschungen kamen kaum vor und die Muslimbruderschaft konnte als größte Oppositionskraft 88 Sitze (20 Prozent) erobern. Das machte der Zwangfraktion so viel Angst, dass sie die beiden folgenden Wahlgänge fälschte und so der herrschenden Nationaldemokratischen Partei (NDP) eine komfortable Mehrheit sicherte.

Im Jahr 2010 hatte die Zwangfraktion mittlerweile vollständig die Oberhand. Angesichts der großen Streiks und Protestbewegungen und des wachsenden Selbstbewusstseins der Muslimbruderschaft, insbesondere nachdem die Hamas im Jahr 2007 in Palästina die Wahlen gewonnen hatte, wurde die Entscheidung gefällt, mit dem Nachfolgerplan weiterzumachen und das Parlament bei den Wahlen von 2010 von jeder Opposition zu säubern. Dazu gab es deutliche Zeichen der Zustimmung vonseiten der US-amerikanischen Regierung. Dieser Plan wurde jedoch mit zitternder Hand ausgeführt und angesichts ernsthafter Meinungsverschiedenheiten unter den herrschenden Armeegenerälen, NDP-Führern und Spitzenunternehmern.

Lokal kamen also alle klassischen Vorbedingungen für eine Revolution zusammen. Die herrschende Klasse konnte nicht mehr in der alten Weise herrschen, und die arbeitenden Klassen wollten nicht mehr in der alten Weise leben.

Weltweit wurde durch eine beispiellose Krise des Kapitalismus das ganze System infrage gestellt, was erneut zur Spaltung und Verwirrung in und zwischen den verschiedenen Staaten, Banken und multinationalen Konzernen führte. Zur selben Zeit und verbunden mit der Krise gab es den langfristige Niedergang der Hegemonie des US-amerikanischen Imperialismus, wie er sich im Irak und in Afghanistan zeigte.

Diese globalen und lokalen Bedingungen schufen die Voraussetzungen für die ägyptische Revolution.
 

Achtzehn Tage

„Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts geschieht, und Wochen, in denen Jahrzehnte geschehen.“ Wladimir Lenin

Jahrelang haben Blogger, politische Aktivisten und neuerdings auch Facebookaktivisten Proteste geplant, Tausende von Textnachrichten verschickt, Zehntausende virtuelle Unterstützer gefunden und am geplanten Tag kamen dann ein paar hundert der üblichen Verdächtigen, manchmal auch wurde die magische Zahl von einem Tausend erreicht. Wir wurden in der Regel umringt von drei bis viertausend Bereitschaftspolizisten, und nach den Parolen und den Reden und einigen Zusammenstößen mit der Polizei endete der Tag.

Mit Blick auf den 25. Januar waren die Aktivisten optimistischer, nicht nur wegen der Zahl derjenigen, die sich dafür eingetragen hatten, sondern vor allem auch wegen des tunesischen Funkens, der die Straßen von Kairo, Alexandria und anderen Metropolen und Arbeiterstädten in Spannung versetzt hatte. Die kleinen Gruppen demokratischer Jugendbündnisse, Liberaler, Sozialisten und Nasseristen waren optimistisch. Dieses Mal könnten wir vielleicht mehrere Tausend Menschen bekommen, zumindest in zwei oder drei Hauptzentren. Vielleicht könnten wir sogar zehntausend erreichen! Aber kein einziger Aktivist hätte sich in seinen wildesten Träumen vorstellen können, was sich an dem Tag tatsächlich ereignete.

Die Muslimbruderschaft hatte verkündet, dass sie an dem Ereignis nicht teilnehmen werde. Dennoch schien die Idee, mehrere Demonstrationen ausgehend von verschiedenen Arbeiterbezirken im Sternmarsch in die Stadtzentren zu führen – in Kairo auf den Tahrirplatz – einen Versuch wert zu sein. Vor allem auch deswegen, weil das gewählte Datum der Nationale Tag der Polizei war (an dem des Massakers an Polizisten durch die Briten im Januar 1952 gedacht wird, das zu Aufständen führte, bei denen Gebiete Kairos niedergebrannt wurden). Der wachsende Hass und die Wut auf Jahrzehnte von Polizeigewalt, Folter und Demütigung verbunden mit dem tunesischen Wunder würden bei den Menschen zumindest Anklang finden, auch wenn nur wenige von ihnen an den Protesten teilnähmen.

Bei den geplanten Protesten sollte es um mehrere Hauptforderungen gehen: soziale Gerechtigkeit und ein Mindestlohn, die Aufhebung des Ausnahmezustands, Unabhängigkeit der Gerichte, Rücktritt des Innenministers General Habib al-Adli, der berüchtigt für Folter und Verletzung der Menschenrechte war. Wir forderten auch politische Reformen wie die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen nach den skandalösen, schwer gefälschten Wahlen vom November 2010, bei denen fast alle Oppositionspolitiker aus dem Parlament entfernt wurden.

Am Morgen des 25. Januar kamen Aktivisten an den Hauptsammelpunkten in den Arbeiterbezirken zusammen. Es war ein Feiertag zu Ehren der Polizei. Aber die Polizei hatte eindeutig keinen Ferientag! Zehntausende Bereitschaftspolizisten erwarteten uns. Die Polizei und die Hunderten Zivilbeamten mit ihren Pistolen und den üblichen Sonnenbrillen wirkten angespannt. Möglicherweise hatten sie die Stimmung der Massen besser verstanden und eingeschätzt als die Aktivisten. Sämtliche Polizeikräfte in allen Groß- und Kleinstädten des Landes waren mobilgemacht worden.

Die Demonstrationen begannen mit den üblichen Parolen gegen al-Adli, Mubarak und die NDP, gegen Preissteigerungen und Arbeitslosigkeit, gegen Korruption und den verhassten Gamal Mubarak und den Stahlindustriellen und starken Mann der NDP, Ahmed Esz. Sobald jedoch die jetzt berühmte tunesische Parole gerufen wurde: „Die Menschen wollen den Sturz des Regimes!“, veränderte sich die Stimmung der Aktivisten, und die Zahl der Teilnehmer an dem Protestmarsch schwoll an.

Immer mehr Menschen kamen aus ihren Häusern und begannen mit aller Leidenschaft die Parole zu rufen. Männer und Frauen, Junge und Alte, Christen und Muslime nahmen teil – die überwältigende Mehrheit war arm. Je lauter sie die magische Parole riefen, je mehr sie durch die ärmlichen Gassen hallte, um so mehr Menschen kamen hinzu. Was mit ein paar hundert Aktivisten begonnen hatte, verwandelte sich in Massendemonstrationen von Zehntausenden Menschen.

Die Furcht und Verwirrung bei der Polizei war mit den Händen zu greifen. In einigen Fällen rückten sie gegen die Demonstranten vor, um gleich wieder zurückzuweichen, weil die Massen mit einer Wucht, einem Selbstbewusstsein und einer Geschlossenheit gegen sie vorgingen, dass die Sonnenbrille tragenden Zivilbeamten völlig verblüfft waren, ebenso die einfachen Polizisten, allesamt Jugendliche aus armen Bauernfamilien, die für drei Jahre eingezogen waren, um die schmutzige Arbeit des Schutzes der ägyptischen herrschenden Klasse zu tun.

Die Polizei erhielt den Befehl, sich zu den Hauptkreuzungen zurückzuziehen, um die Demonstranten daran zu hindern, die Stadtmitte zu erreichen. Hier war es, wo die Hauptschlachten dieses historischen Tages stattfanden. Wasserwerfer wurden eingesetzt, Hartgummigeschosse und Tränengasgranate nach Tränengasgranate abgefeuert, um die Demonstranten zurückzudrängen. Das schwierigste Hindernis war das erstickende Tränengas. Aber die erfahreneren Demonstranten begannen Mundschutze zu verteilen, Coladosen und Zwiebeln, die umsonst von Hausfrauen, Apothekenhelfern und Cafépersonal gebracht wurden, um die weißen Tränengaswolken zu überstehen.

Zehntausende Demonstranten schafften es, durch viele Polizeisperren zu brechen und die Stadtzentren zu erreichen, wozu natürlich auch der Tahrirplatz gehörte. Aber die Schlachten gingen weiter. Es gab dutzende Märtyrer und Tausende Verletzte am Ende des Tages der Befreiung, dem Tag, der die ägyptische Revolution auslöste.

Demonstrationen und Straßenkämpfe setzten sich in den folgenden beiden Tagen fort, aber im Mittelpunkt stand die Organisierung des „Freitags der Wut“ am 28. Januar. Die Organisatoren waren nicht mehr nur die „üblichen Verdächtigen“, die politischen Aktivisten, Facebookmitglieder und Blogger, sondern Tausende neuer Anführer, vor allem Arbeiterjugendliche, die in den Tagen der Revolution eine bessere Ausbildung erhielten als in all den Jahren der politischen Bildung.

Diesmal entschied sich die Muslimbruderschaft für die Beteiligung am „Freitag der Wut“. Es wurde für die Zeit von 18 Uhr bis 6 Uhr in den Hauptkampfgebieten Kairo, Alexandria, Suez und Mahalla eine Ausgangssperre verhängt, und Hunderte Bruderschaftsführer und Aktivisten wurden verhaftet.

Das Regime stand vor einer Entwicklung, die es nicht begreifen konnte. Die Massen waren verrückt geworden. Sie forderten Gerechtigkeit und Freiheit und waren bereit, dafür zu Hunderttausenden zu sterben. Die Angst vor der Folter, vor Gefängnis und sogar Tod waren zusammen mit den Tränengaswolken, die die Straßen von Ägyptens Städten gefüllt hatten, verflogen. Tatsächlich waren die Massen nicht verrückt geworden, sie kämpften die vernünftigste Schlacht überhaupt für Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Würde. Verrückt geworden war das Regime, das in Panik geriet und offenbar immer mehr an Realitätsverlust litt. Die Regierung entschloss sich, das Internet und die Mobilfunknetze komplett abzuschalten in der Hoffnung, dass durch diesen verzweifelten Schritt die vermutlichen Organisatoren gehindert würden, für die Freitagsdemonstration zu mobilisieren.

Das stellte sich als furchtbare Fehleinschätzung heraus. Das Regime schien seiner eigenen Propaganda aufgesessen zu sein, dass es sich um eine „Facebookrevolution“ der Mittelschicht handele. Die Aktion hatte keine sichtbare Wirkung, da die überwiegende Mehrheit der Anführer und Organisatoren zu diesem Zeitpunkt nichts mit Facebook zu tun hatten und viel traditionellere Formen der Kommunikation benutzen konnten. Im Gegenteil wurden die Demonstranten noch entschlossener, weil es zeigte, dass das Regime verzweifelt und schwach war.

Nach dem Freitagsgebet begannen Hunderttausende Menschen von allen großen Moscheen und Plätzen aus Richtung Stadtmitte zu marschieren. Die Polizei konzentrierte ihre Kräfte erneut an den Hauptkreuzungen in einem letzten Versuch, die unaufhaltbare Welle zu stoppen und Millionen Menschen daran zu hindern, die großen Plätze der Stadt zu erreichen.

In Kairo kam es zu Straßenschlachten an allen Hauptstraßen und Brücken, die zum Tahrirplatz führten. Ähnliche Kämpfe fanden in den Hauptstraßen von Suez, Mahalla, Alexandria und Dutzenden weiterer Groß- und Kleinstädte statt.

Der Mut und die Entschlossenheit der Mehrheit der Demonstranten ist für die Nachwelt in Tausenden Youtube-Videos und persönlichen Berichten festgehalten worden, was für die künftigen Historiker der ägyptischen Revolution und vor allem die künftigen Revolutionäre auf der Welt von unschätzbarem Wert sein wird.

Die Polizei setzte das übliche Tränengas ein, Hartgummigeschosse und Wasserwerfer und zusätzlich voller Verzweiflung scharfe Munition, Heckenschützen und sogar Panzerwagen, mit denen sie die Demonstranten überfuhren. Hunderte wurden getötet und Tausende verletzt. Aber die Polizei erlitt überall im Land Niederlagen und zog sich eiligst zurück. Tausende Polizeiwagen, Panzerwagen, Polizeireviere wurden niedergebrannt und Polizisten, die einst Furcht auf ägyptischen Straßen verbreiteten, flüchteten jetzt selbst aus Angst um ihr Leben. Parteigebäude der NDP wurden angezündet und jedes Bild des verhassten Diktators wurde niedergebrannt.

Hunderttausende erreichten den Tahrirplatz und begannen mit ihrer berühmt gewordenen Besetzung des Platzes, die erst mit Mubaraks Sturz am 11. Februar endete. Alle Gesellschaftsschichten waren auf den Beinen, überwiegend arme Arbeiterinnen und Arbeiter, aber auch viele junge Leute aus der Mittelschicht, Frauen mit Niqab neben Frauen in Jeans, bärtige Islamisten neben Christen, allesamt wild entschlossen, das Regime zu stürzen.

Bei Einsetzen der Dunkelheit war die Polizei so gut wie verschwunden, abgesehen von denen, die immer noch das berüchtigte Innenministerium schützten, das Jahrzehnte lang das Hauptquartier für die Folter an Zivilisten war. Natürlich versuchten viele Demonstranten das Gebäude zu stürmen. Scharfschützen schossen gezielt auf sie, über ein Dutzend von ihnen starben und Hunderte wurden verletzt.

Während ihres Rückzugs öffnete die Polizei die Gefängnisse und ließ Tausende notorische Kriminelle raus, um Angst und Chaos unter der Bevölkerung zu verbreiten. Ihr Plan ging nicht auf. Volkskomitees schossen überall im Land aus dem Boden, um ihre Stadtviertel zu verteidigen, den Verkehr zu organisieren und sogar die Straßen zu reinigen. Der Präsident befahl der Armee den Einmarsch in die Stadt, um den Aufstand niederzuschlagen und zur „Ordnung“ zurückzukehren, nachdem die Polizei verschwunden war.

In der Nacht des „Freitags der Wut“ hielt Mubarak seine erste Rede, warf der Regierung Unfähigkeit vor und versprach, eine neues Kabinett zu ernennen. Er sagte kein Wort der Entschuldigung für die Toten und Verletzten, es gab keine Erwähnung der Forderungen der Bevölkerung. Sein Ton drückte kalte Distanz aus, als redete er über ein anderes Land und ein anderes Volk. Wie so viele Diktatoren vor ihm konnte er offensichtlich nicht glauben oder verstehen, was geschah. Er verachtete das Volk und gehörte bereits der Vergangenheit an.

Die Massen reagierten mit Wut auf die Rede, schienen seinen Auftritt aber auch zu durchschauen. Er sah aus wie ein altes Relikt und klang auch so. Am folgenden Tag ernannte er den Geheimdienstchef Omar Suleiman zum stellvertretenden Präsidenten, ein Posten, den es bisher nicht gegeben hatte, und General Ahmad Schafik zum Ministerpräsidenten.

Diese Männer waren beide verhasste Figuren aus Mubaraks unmittelbarem Gefolge. Suleiman war als Dr. Folterer bekannt für seine leitende Rolle bei dem Programm der „außerordentlichen Auslieferungen“ unter Führung der USA, wobei Gefangene nach Ägypten und in andere arabische Länder überstellt wurden, um dort gefoltert zu werden. Er war auch bekannt als besonders enger Verbündeter Israels bei dessen Krieg gegen Gaza.

Am Montag wurde das neue Kabinett eingeschworen, fast alle der verhassten Minister der Vorgängerregierung blieben im Amt, auch die, die die strategischen Posten für Verteidigung, Kommunikation, Justiz, Öl und Auslandsangelegenheiten besetzten. Der verhasste Habib al-Adli wurde abgesetzt zusammen mit etlichen der Unternehmerminister, die zu den extrem neoliberalen Gaunern aus der Gruppe um Mubaraks Sohn Gamal gehörten.

Die oberflächlichen Zugeständnisse wurden als Beleidigung wahrgenommen und heizten die Wut und Entschlossenheit der Massen nur an.

Als die Panzer der Armee einrollten und die Hauptstraßen und Zugänge zum Tahrirplatz und zu anderen Stadtzentren besetzten, wurden sie zunächst mit Wut empfangen, dann jedoch eilten viele Menschen bemerkenswert spontan auf die Soldaten zu, umarmten sie, kletterten auf die Panzer, schwenkten die ägyptische Fahne und riefen laut: „Die Armee und das Volk sind eine Hand!“ Bald schon bemalten Jugendliche die Panzer mit gegen Mubarak gerichteten Parolen. Das war kein Ausdruck der Verwirrung unter den Massen über die Aufgabe der Armee, wie viele meinten, auch wenn es solche Konfusion hier und da gab. Es handelte sich um eine brillante und schnelle Neutralisierung der Streitkräfte auf den Plätzen und Straßen, was es den Soldaten und Jungoffizieren so gut wie unmöglich machte, auf die Leute zu schießen, selbst wenn sie den Befehl erhielten. In früheren Revolutionen hat es ähnliche Massentaktiken gegeben, die darauf abzielten, sich mit den Soldaten und Jungoffizieren zu verbrüdern.

Die Demonstranten riefen zu einem Marsch der Millionen am Dienstag, den 1. Februar, in allen wichtigen Städten auf. Die Reaktion der Armeegeneräle gehört zu den Wendepunkten der Revolution. Der Armeesprecher General Ismail Othman erklärte im Staatsfernsehen, dass die Armee die legitimen Forderungen des Volkes anerkenne und nicht schießen werde.

Die Generalität begriff, dass ein Befehl zur Niederschlagung der Bewegung die Armee spalten und sie Tausende Soldaten und Jungoffiziere gegen sich aufbringen würde. Sie war bereit, Mubarak zu opfern, um das Regime zu retten, das letztlich nur überleben konnte, wenn die Armeeführung die Kontrolle über ihre Truppen behielt.

Am Montag, den 31. Januar, hielt der neue stellvertretende Präsident Suleiman eine Rede an die Nation, in der er sagte, dass er von Mubarak aufgefordert worden sei, in einen Dialog mit allen Oppositiongruppen einzutreten und die Gerichtsbarkeit aufzufordern, die umstrittenen Wahlergebnisse vom vergangenen November zu annullieren. Das war ein taktischer Rückzug des Regimes, um Zeit zu gewinnen und die Protestierenden zu ermüden.
 

Dienstag, 1. Februar

Die Taktik ging nicht auf. Millionen beteiligten sich an den Protesten des Tages. Zwei Millionen waren es auf dem Tahrirplatz in Kairo, eine Million auf dem Märtyrerplatz in Alexandria, 750.000 in Mansura und eine Viertelmillion in Suez. Es war eine beispiellose Demonstration der Stärke. Dieses Mal forderten die Demonstranten nicht nur die sofortige Absetzung Mubaraks, sondern auch die Abschaffung des ganzen Regimes.

Der Tahrirplatz verwandelte sich in eine Großkommune des Widerstands, in ein „Fest der Unterdrückten“. Die Menschen hatten das Gefühl, dass sie diese historische Schlacht gewinnen würden. Es gab ein unglaubliches Aufblühen an Kreativität bei Einzelnen wie bei Gruppen. Tausende Transparente und Plakate mit den Forderungen der Bevölkerung, ausgedrückt in Gedichten, Witzen und persönlichen Geschichten füllten den Platz. Graffiti, Wandgemälde und Parolen bedeckten jede Wand.

Der Raum auf dem Tahrirplatz war nicht nur rein physisch besetzt, sondern auch geistig. Frauen wurden nicht mehr belästigt, Spannungen zwischen Kopten und Muslimen lösten sich auf. Die Menschen teilten Lebensmittel, Wasser, Zigaretten. Lieder, Musik, Gedichte und Rufe erfüllten die Luft. Ein neues Ägypten war am Entstehen.

Aber der Feind sollte nicht so leicht aufgeben. Die herrschende Klasse schmiedete sorgfältig Komplotts und entwickelte Strategien, um dieses neue Ägypten zu begraben. Am Dienstagabend hielt Mubarak seine zweite Rede als Antwort auf die Massendemonstrationen des Tages. Er versprach, seine Amtszeit einzuhalten, erklärte, dass er nicht unter Druck abtreten werde. Dieses Mal schien er besser beraten worden zu sein, weil er an seinen Dienst für sein Land seit über sechs Jahrzehnten erinnerte, während er gleichzeitig wesentliche Reformen versprach. In seiner Rede beteuerte er auch, sich nicht zur Wiederwahl zu stellen und im September abzudanken, und er sagte, er werde in Ägypten sterben.

Die Rede führte bei Teilen der weniger politisierten Massen zur Verwirrung, einige meinten, die Demonstrationen sollten jetzt beendet werden. Der Mann sei alt, er werde in ein paar Monaten die Macht abtreten. Allerdings spielte das Regime ein doppeltes Spiel, indem es auch eine Medienkampagne über angebliche Verschwörungen zur Schaffung von Chaos entfesselte, dass es Lebensmittelknappheit gebe, dass die Wirtschaft zusammenbräche, den Banken das Geld ausginge, die Demonstranten von ausländischen Geheimdiensten bezahlt würden, der Tahrirplatz sich in eine Sexorgie verwandele mit Drogen und Alkohol und so weiter. Der ganze Schmutz, mit dem Revolutionäre schon immer von den herrschenden Klassen beworfen werden, füllte die Fernsehprogramme und Regierungszeitungen und wurde von Tausenden Agenten verbreitet. Die Spaltungen und die Verwirrung unter den Massen waren jedoch nur von kurzer Dauer. Das Regime plante eine teuflische und gewaltsame Konterrevolution für den nächsten Tag.
 

Die Kamelschlacht: Mittwoch, 2. Februar

Eine Reihe prominenter Milliardäre, NPD-Führer und Offiziere der Geheimpolizei entwickelten unter Gamal Mubarak einen Plan für einen umfassenden Angriff auf die Demonstranten. Jeder Geschäftsmann versprach, so viele Leute wie möglich aus ihren Unternehmen zu mobilisieren, außerdem Ganoven, Lumpenproletarier, die bereit waren, für Geld alles zu tun (auf Arabisch bekannt als Baltagijja). Unterdessen setzte der Innenminister einige der gefürchtetesten Offiziere seiner Geheimpolizei wieder ein, die an den für den Mittwoch geplanten konterrevolutionären Demonstrationen teilnehmen sollten. Der Angriffsplan gegen die Protestierenden war minutiös vorbereitet.

Rund ein Dutzend Sicherheitsoffiziere, die die Umsetzung vor Ort überwachen sollten, hatten die am vorausgegangenen Samstag entkommenen gefährlichen Häftlinge angeheuert und ihnen Geld und Amnestie für ihre Vergehen versprochen. Dieser Plan sollte unter anderem in Kairo, Alexandria, Suez, Port Said, Damanhur und Assiut zur Ausführung kommen.

Diese Art der Mobilisierung des Lumpenproletariats für eine Konterrevolution ist nicht neu. Schon Karl Marx beschrieb, wie Louis Bonaparte nach der Revolution von 1848 in Frankreich dieselbe Taktik anwandte:

Unter dem Vorwande, eine Wohltätigkeitsgesellschaft zu stiften, war das Pariser Lumpenproletariat in geheime Sektionen organisiert worden, jede Sektion von einem bonapartistischen Agenten geleitet, an der Spitze ein bonapartistischer General. Neben zerrütteten Roués mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen; mit diesem ihm verwandten Elemente bildete Bonaparte den Stock der Gesellschaft vom 10. Dezember. [1]

Die Benutzung solcher Elemente war auch in Ägypten nichts Neues. Mit derselben Taktik wurden Wahlen gefälscht, Wähler eingeschüchtert, Demonstranten und Streikende angegriffen, insbesondere im letzten Jahrzehnt von Mubaraks Herrschaft.

Um 14 Uhr am Mittwoch, 2. Februar, wurde der Angriffsplan ausgeführt. Über 3.000 Baltagijja griffen von zwei Zugängen zum Tahrirplatz aus an. Sie warfen Tausende Felsbrocken und Steine auf Zehntausende friedliche Demonstranten, die sich auf dem Platz versammelt hatten, während die meisten Angreifer Schilde trugen, um sich vor den zurückgeworfenen Steinen zu schützen. Einige Baltagijja hatten Gewehre, alle waren mit Knüppeln, Macheten, Rasiermessern, Messern oder anderen scharfen Gegenständen bewaffnet.

Nachdem die Angreifer etwa eine Stunde lang mit Steinen geworfen hatten, leiteten sie die zweite Stufe des Plans ein und ritten mit dutzenden Pferden und Kamelen in die Menge. Es war ein Bild, das an die Schlachten des Mittelalters erinnerte. Nach anfänglicher Verwirrung wehrten sich die Demonstranten mit bloßen Händen, warfen sich gegen die Pferde und Kamele.

Kämpfe fanden an allen Zugängen zum Platz statt. Die Demonstranten stellten in Windeseile Verteidigungslinien auf und sammelten die geworfenen Steine und die Pflastersteine des Platzes ein, um Widerstand zu leisten. Überall floss Blut. Die Verletzten an der Front wurden sofort ersetzt und in ein provisorisches Feldkrankenhaus gebracht, das von freiwilligen Krankenschwestern und Ärzten organisiert war.

Die Schläger wurden zurückgedrängt. Aber alle wussten, dass das nur der Anfang war. Mit unglaublicher Geschwindigkeit wurden Barrikaden an den Zugängen zum Platz errichtet, um sich für die kommenden Schlachten zu rüsten. Die organisierteren Gruppen, vor allem die Jugend der Muslimbruderschaft, spielten eine wesentliche Rolle bei der Vorbereitung und Organisierung des Kampfs gegen die Schlägertrupps.

Der bereits erwartete nächste Angriff erfolgte abends, als Tausende Schläger, Zivilpolizisten und Scharfschützen sich vor allem nahe dem Ägyptischen Museum und auf den Dächern etlicher Gebäude sammelten. Eine nahe gelegene Brücke gab den Schlägern eine erhöhte Stellung und deshalb einen taktischen Vorteil. Die Barrikaden wurden mit ausgebrannten Polizeiautos und Polizeilastern verstärkt und Tausende machten sich bereit für den Kampf.

Es wurde eine ausgeklügelte Arbeitsteilung entwickelt. Die Jungen und Starken, vor allem die Arbeiterjugendlichen, sollten an der Front als Steinewerfer stehen. Andere sollten das Pflaster aufbrechen, um die Front ständig mit Nachschub zu versorgen. Wieder andere Gruppen sollten die Steine an die Front tragen. Junge Frauen brachten in dieser schrecklichen, aber heldenhaften Nacht den Kämpfenden Wasser.

Die Schläger begannen wieder mit einem Hagel aus Steinen, leeren Sodaflaschen und Molotowcocktails. Teil des Plans schien zu sein, Feuer im Ägyptischen Museum zu legen, um es niederzubrennen und die Demonstranten dafür verantwortlich zu machen – ein weiteres gutes Beispiel dafür, wie barbarisch die Bourgeoisie sein kann, wenn sie bedroht ist. Verbrennt die alten Pharaonen, um die modernen Pharaonen zu retten! Gruppen wurden organisiert, um das Museum zu schützen und entstehende Feuer gleich zu löschen.

Hunderte Frontkämpfer stießen gegen Mubaraks Schläger vor, übersprangen die schützenden Barrikaden und bombardierten die Schläger mit ganzer Kraft mit Steinen. Dutzende wurden verwundet, sofort weggetragen und es folgte ein weiterer Angriff mit Steinwürfen gegen die Schläger. Die Idee mit den Angriffen vor den Barrikaden trotz der Schutzlosigkeit und trotz der taktischen Überlegenheit der Schläger stellte sich als kollektiver Geniestreich heraus. Das war Teil einer psychologischen Offensive, die Schläger zu entwaffnen, ihnen deutlich zu machen, dass die Revolutionäre bereit waren, für ihre Sache zu sterben. Keine Söldnerarmee kann solch einem Angriff lange standhalten.

Scharfschützen begannen mit Laserzeigern auf Demonstranten zu zielen. Zehntausende junge Demonstranten kletterten auf die Barrikaden und hielten ihre Brust für die Laserzeiger hin. Das waren furchtlose Kämpfer mit einem klaren Ziel und einer klaren Botschaft: Tod oder Sieg!

Über ein Dutzend junger Kämpfer wurden in dieser Nacht zu Märtyrern, ihre Leichen wurden mit Stolz und Entschlossenheit von ihren Genossen zu den Feldlazaretts getragen. Tausende wurden verletzt, Ärzte und Arzthelfer arbeiteten die ganze Nacht, um die Wunden zu nähen und sie zu trösten. Hunderte Verletzte kehrten nach der Behandlung sofort wieder an die Front zurück.

Eine weitere Schlacht fand auf den Dächern von Gebäuden statt, einige waren von Schlägern besetzt, andere von Revolutionären. Überall brannte es. Eine kleine, aber effiziente Fabrik für Molotowcocktails wurde auf unserer Seite der Barrikaden eingerichtet, um Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Einige brachten das Benzin, andere brachten Kisten mit Flaschen und wieder andere bereiteten sie vor und füllten Kiste um Kiste mit Bomben, wieder andere trugen sie dann zur Front und den befreiten Dächern.

Bei Tagesanbruch hatten wir den Kampf gewonnen. Die Schläger und die Polizei flüchteten. Sie rannten um ihr Leben, als die Revolutionäre die Brücke und die Kreuzungen vor dem Platz erreichten, die Schläger verfolgten und Hunderte verhafteten. Die Mörder wurden auf den Platz geschleppt und geschlagen, aber vor den vielen Demonstranten geschützt, die sie sofort hinrichten wollten. Ein provisorisches Gefängnis wurde für sie eingerichtet. Die meisten trugen entweder eine Polizeiausweis oder einen Ausweis der NDP bei sich.

Die Schlachten und der Sieg gaben der Revolution großen Auftrieb. Diejenigen, die noch in der Nacht zuvor verwirrt waren, waren wütend. Die Rede des Präsidenten hatte sich als Manöver zur Vorbereitung der mörderischen Angriffe am nächsten Tag entpuppt.

Die Armee erwies sich ebenfalls für viele als heuchlerisch. Das Gerede vom Schutz der Revolution schien jetzt besonders leer zu sein.

Noch eine Stunde vor dem geplanten Angriff hatte die Armee den Demonstranten über das Staatsfernsehen verkündet, dass die Regierung „die Botschaft verstanden“ habe, um dann die Demonstranten anzuflehen, „nach Hause“ zu gehen. Als die Protestierenden jedoch die Armee inständig baten, gegen die brutalen Angriffe vorzugehen, die sich über 16 Stunden lang hinzogen, erklärte die Armee ihre Neutralität und zog sich teils von einigen Zugängen zum Platz zurück, trotz ihres Versprechens, die friedlichen und unbewaffneten Demonstranten zu schützten.

Bei Tagesanbruch schlossen sich Hunderttausende Ägypter den Demonstranten an, um ihre Unterstützung und Solidarität zu zeigen. Die Anführer der Proteste hatten bereits zu einer Großdemonstration nach den gemeinsamen Gebeten am Freitag überall in Ägypten aufgerufen. Sie nannten das Ereignis „Abdankungstag“, weil sie hofften, Mubarak zum Rücktritt oder zum Verlassen des Landes zwingen zu können.

Omar Suleiman hatte früher zu einem nationalen Dialog mit der Opposition aufgerufen. Erstaunlicherweise fand der Dialog am Sonntag, den 6. Februar, tatsächlich statt. Daran nahmen nicht nur die zahmen und loyalen, diskreditieren Oppositionellen der angeblich linken Tagammu-Partei und der liberalen Wafd-Partei teil, sondern auch einige Führungspersonen der Muslimbruderschaft, Naguib Sawiris, Kopf der reichsten Familie Ägyptens und einige Mitglieder von Jugendbündnissen. Die Letzteren hatte bisher niemand gesehen oder von ihnen gehört, aber einige wurden in die Falle Suleimans gelockt.

Die Gespräche fanden in einem Sitzungssaal der Regierung unter einem riesigen Porträt Mubaraks an der Wand statt. Die offiziellen Medien versuchten den Dialog aufzublasen. Aber auf den Straßen und Plätzen Ägyptens fiel längst niemand mehr auf solche Tricks des Regimes herein. Die Menschen waren wütend über die Oppositionellen, die an den Gesprächen teilnahmen. Die Jugendorganisation der Muslimbrüder griff ihre Führung dafür offen an, da sie es richtigerweise als Verrat an der Revolution und ihren Märtyrern ansah.

Zum Ende des Treffens gab das Regime ein Kommuniqué heraus, in dem Mubarak gedankt wurde und die Interpretation der Ereignisse durch das Regime wiederholt wurde. Fälschlicherweise wurde behauptet, dass alle Beteiligten sich auf einen Plan zur Lösung der „Krise“ geeinigt hätten. Dieser sehe angeblich begrenzte Reformen der Verfassung und des Wahlrechts vor, während alle Staatsinstitutionen einschließlich des Scheinparlaments bestehen bleiben sollten. Es gab keine Zusage, den Ausnahmezustand aufzuheben. Ironischerweise erklärte Suleiman einen Tag nach dem Dialog im Staatsfernsehen, dass „Ägypten noch nicht reif ist für die Demokratie“.

Unter dem Druck ihrer Jugendorganisation verkündete die Führung der Muslimbrüder, dass die Gespräche gescheitert seien und Suleiman nichts von Substanz angeboten habe. Aber der Schaden war schon angerichtet und die Bruderschaftsjugend hegte zunehmend Misstrauen gegen ihre Führung.

Bei den Demonstranten wuchs das Bedürfnis, neue Taktiken zu entwickeln. Am Dienstag, den 8. Februar, hielten Hunderttausende riesige Demonstrationen um das Gebäude des Ministerpräsidenten ab und hinderten ihn daran, sein Büro zu erreichen. Sie blockierten auch das Parlament, sodass kein Abgeordneter ein- oder ausgehen konnte. Sie versprachen, dass sie als nächstes den Präsidentenpalast umzingeln würden. Ähnliche Masssenbelagerungen fanden um Regierungsgebäude in Alexandria statt.
 

Die Arbeiter und der Aufstand

Bei all diesen bedeutsamen Ereignissen beherrschten einfache Menschen aus der Arbeiterklasse das Schlachtfeld, und jede Woche wurden es mehr. Sie beteiligten sich daran nicht auf organisierte Weise im Rahmen von Gewerkschaften und als Betriebsabgeordnete, sondern als Individuen. Natürlich zeichneten die Medien ein gegenteiliges Bild. Die interviewten „Revolutionäre“ der verschiedenen Jugendbündnisse kamen alle aus der Mittelschicht und verfügten über universitäre Bildung. Sie strahlten vor Stolz, weil sie als die Helden der Revolution gefeiert wurden.

In der letzten Woche des Aufstands verbreiteten sich Massenstreiks und Demonstrationen von Arbeiterinnen und Arbeitern der wirtschaftlichen Schlüsselsektoren wie ein Flächenbrand. Sie stellten wirtschaftliche Forderungen auf und die wichtigste revolutionäre Forderung nach dem Sturz Mubaraks. Suez, Szene einer der heftigsten Kämpfe mit der Polizei am „Freitag der Wut“, machte den Anfang. Am 8. Februar traten 6.000 Beschäftigte der Suezkanalverwaltung in den Streik und schlossen sich so den Textil- und Stahlarbeitern an. Arbeiter in der Ölindustrie hielten Protestversammlungen am folgenden Tag ab und forderten bessere Bezahlung und Arbeitsplatzsicherheit. Die Streiks weiteten sich jetzt auf alle großen und viele kleinere Städte aus und erfassten Transportbeschäftigte, Textilarbeiterinnen, öffentlich Bedienstete und Beschäftigte des Gesundheitswesens. Am Donnerstag, den 10 Februar, hatte sich die Streikwelle von Alexandria im Norden nach Assuan im Süden ausgeweitet. Selbst die Fabriken der Generäle, wo die Arbeiterinnen und Arbeiter harter militärischer Disziplin unterworfen sind, wurden bestreikt.

In den meisten dieser Betriebe waren die Streikenden durch den Aufstand mutiger geworden und stellten wirtschaftliche Forderungen auf. In einigen wichtigen Bereichen jedoch gingen sie noch weiter, indem sie sich offen gegen die Diktatur stellten und den Sturz des Regimes verlangten. Die Transportarbeiter von Kairo veröffentlichten am 9. Februar eine Stellungnahme in Solidarität mit den Zielen des Aufstands, die sie auf dem Tahrirplatz verteilten. Am folgenden Tag schlossen die Streikenden die Busdepots der Stadt.

Selbst die New York Times musste zugeben, dass dieses Eingreifen der Arbeiterklasse eine entscheidende Rolle in der Gestaltung des neuen Ägyptens spielte. Wenige Tage nach dem Sturz des Diktators schrieb sie:

Die Arbeiterunruhen diese Woche in den Textil- und Pharmafabriken, in der Chemieindustrie, am Flughafen von Kairo, im Transportwesen und bei den Banken erwiesen sich als stärkste Dynamik in einem Land, das nach einem achtzehntägigen Volksaufstand und dem Ende der dreißigjährigen Herrschaft von Herrn Mubarak auf einen Übergang unter Führung der Armee zusteuert.
 

Das Ende Mubaraks

Für die Armeegeneräle, die US-amerikanische Regierung und Ägyptens herrschende Kapitalisten war klar, dass sie den Prozess beschleunigen und Mubarak loswerden mussten. Die Medien kündigten an, Mubarak werde an diesem Abend eine dritte Rede halten. Die Menschen warteten stundenlang, weil sich der Auftritt verzögerte. Erklärungen von Armeeoffizieren, Führern der Muslimbrüder und der US-Regierung schienen darauf hinzudeuten, dass das Spiel aus war und Mubarak seinen Rücktritt verkünden werde. Aber die Massen waren in Alarmbereitschaft. Drei Jahrzehnte Verrat und Lügen hatten sie misstrauisch werden lassen. Und sie hatten recht. Mubarak hielt in dieser Nacht eine kurze Rede, in der er erklärte, er werde bis zu den nächsten Wahlen bleiben, seine Macht aber an Suleiman abtreten. Die nach dieser arroganten Rede ausbrechende Wut war beispiellos. Hunderttausende hoben ihre Schuhe in die Luft als Drohung, dass der Kampf weitergehen werde.

Die Demonstrationen am Freitag, den 11. Februar, waren die bisher größten. Schätzungsweise über 15 Millionen Menschen kamen zu Demonstrationen im ganzen Land. Arbeiterinnen und Arbeiter verließen diesmal in organisierten Aufzügen ihre Betriebe und machten deutlich, dass sie das Land zum Stillstand bringen würden, wenn Mubarak nicht zurückträte.

Am selben Abend gab Suleiman eine Erklärung von zwanzig Sekunden Dauer ab, mit der er die Forderung schließlich erfüllte. Er erklärte bei einem Auftritt im Staatsfernsehen, dass Mubarak zurückgetreten sei und seine Amtsgeschäfte in die Hände des Militärrats mit der Bezeichnung Oberster Rat der Streitkräfte (ORS) gelegt habe. Damit war die erste Phase der ägyptischen Revolution erfolgreich abgeschlossen. Fast ein Tausend Menschen waren getötet, Zehntausende verletzt worden, aber Mubarak war endlich Geschichte. Die Massenfeiern der Nacht und des folgenden Tags waren die größten und festlichsten der neueren Geschichte Ägyptens.
 

Die Generäle an der Macht und der Übergang

„Die Armee stellt überhaupt ein Abbild der Gesellschaft dar, der sie dient, mit dem Unterschiede, dass sie den sozialen Beziehungen einen konzentrierteren Charakter verleiht, deren positive und negative Züge in ihr extremsten Ausdruck finden.“ Leo Trotzki [2]

Die Generäle und Feldmarschäle jeder Armee sind offensichtlich ein wesentlicher Teil der herrschenden Klasse, und Ägypten ist da keine Ausnahme. Die Armeeführer sind durch Tausende goldener Fäden mit den Milliardären und anderen Staatsbeamten verbunden, die das Land seit Jahrzehnten regieren.

Die Militärherrscher des Ägyptens nach Mubarak, der Oberste Rat, sind allesamt vom ehemaligen Diktator handverlesen. Feldmarschall Tantawi, der dem Rat vorsitzt, war Mubaraks Verteidigungsminister seit 1991. Seine Loyalität zu Mubarak war unübertroffen und er war die entscheidende Figur in Mubaraks Beraterkreis.

Die ägyptische Armee ist auch ein Wirtschaftsimperium, das fast 20 Prozent der ägyptischen Wirtschaft ausmacht. Dem Militärestablishment gehören riesige Landgüter und Immobilien, ein industrieller Komplex, in dem von Munition bis zu Waschmaschinen alles hergestellt wird, außerdem Touristenunternehmen, Handelsgesellschaften und vieles mehr.

Dieses Wirtschaftsimperium ist gegen die Korruption, die das Kennzeichen aller großen Staatsinstitutionen der Ära Mubarak war, nicht immun. Tatsächlich macht die Geheimhaltung des Armeehaushalts und der Finanzen sie vermutlich zur korruptesten aller Staatseinrichtungen.

Die ägyptische Armee ist außerdem eng mit der US-amerikanischen verbunden. Sie erhält jährliche Hilfen in Höhe von 1,3 Milliarden US-Dollar und hält regelmäßig gemeinsame Übungen mit der US-Armee und der US-Marine ab. Die Spezialausbildung von Offizieren findet in den USA statt, und alle von der ägyptischen Armee gekauften Hightechwaffen werden in den USA hergestellt.

Die Mehrheit der Soldaten und Jungoffiziere sind Wehrpflichtige vor allem aus der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der unteren Mittelschicht. Die Generäle kontrollieren diese Armee durch harte und archaische Disziplin mit schweren Bestrafungen, Demütigungen und vollständiger Trennung zwischen der Kaste der Berufsoffiziere und den Wehrpflichtigen was Lebensmittel, Unterbringung und sogar Toiletten angeht.

Wie schon vorher erwähnt, war die Entscheidung der Armeeführung, die Demonstranten während der Revolution nicht anzugreifen, kein Zeichen für eine Unterstützung der Revolution, sondern für ihre Einsicht, dass solche Befehle die Armee spalten würden. Sie opferten Mubarak, um das System zu retten.

Als sie gezwungen waren, Mubarak von der Bühne zu entfernen und die Macht direkt zu übernehmen, wusste der SCAF, dass er einen Balanceakt vollbringen musste zwischen den Zugeständnissen an die Bevölkerung und dem Schutz der Interessen der herrschenden Klasse, die nach wie vor intakt war und im Zentrum des Regimes stand. Das würde keine einfache Aufgabe sein.
 

Zugeständnisse, Zwang und Druck

Am 13. Februar löste der Oberste Rat das Parlament auf und setzte die Geltung der Verfassung aus, hielt jedoch an der verhassten, von Mubarak ernannten Regierung fest. Er versprach, die Verbrechen der Polizei an der Bevölkerung und die Verschwörungen und die Korruption des alten Regimes zu untersuchen. Am 17. Februar wurden der Innenminister Habib al-Adli und seine Mitarbeiter verhaftet. Am selben Tag wurden auch die drei Milliardärsminister Ahmed Maghrabi, Soheir Garana und Ahmed Esz, der Stahlmagnat und organisatorische Kopf der NDP, verhaftet.

Aber der Oberste Rat bremste weiterhin in Bezug auf Mubarak und seine Familie und die echten „Männer des Präsidenten“, den Kreis von Ministern und Spitzenbeamten, auf die er sich am meisten gestützt hatte. Große Demonstrationen fanden erneut am Freitag, den 18. Februar statt, sowohl als Feier der großen Errungenschaft, Mubarak gestürzt zu haben, als auch um die Regierungsumwandlung und Gerichtsverfahren gegen den Präsidenten und seine Männer zu fordern. Der Oberste Rat ernannte ein Richtergremium, das Verfassungsänderungen zur Vorbereitung von Parlamentsneuwahlen, einer verfassunggebenden Versammlung und Präsidentschaftswahlen entwerfen sollte. Über diese sollte am 19. März eine Volksabstimmung stattfinden. Vorsitzender des Gremiums war ein Sympathisant der Muslimbruderschaft (MB) und ein weiterer konservativer Muslimbruder war ebenfalls berufen worden.
 

Die neue Regierung

„‚Die Politik der revolutionären Regierung darf niemanden ohne Notwendigkeit kränken.‘ Das war im Wesentlichen die Regel der gesamten Provisorischen Regierung, die am meisten Angst hatte, jemand aus der Mitte der herrschenden Klassen zu kränken …“ Leo Trotzki. [3]

Bezüglich der bedrohlichsten Probleme für das Leben der Menschen hatte die Revolution anscheinend nur gesiegt, um zu verkünden: Alles bleibt so wie es war.

Zu den wichtigsten Forderungen der fortgesetzten Freitagsdemonstrationen gehörte die Absetzung der von Mubarak ernannten Regierung unter Ahmed Schafik. Am 3. März gab der Oberste Rat nach und beauftragte Essam Scharaf mit der Bildung einer neuen Übergangsregierung. Scharaf hielt aber nicht nur an einigen Mubarak-Leuten fest, sondern holte weitere hinzu, die entweder Großunternehmer oder auf irgendeine Weise mit dem alten Regime verbandelt waren.

Aber es gab weitere revolutionäre Initiativen. Am 4. und 5. März stürmten wütende junge Demonstranten die verhassten Staatssicherheitsbüros, die seit Jahrzehnten Zentren für Folter, illegale Verhaftungen und Mord waren. Die Bewegung begann in Alexandria, und innerhalb weniger Stunden waren dutzende dieser scheußlichen, blutbefleckten Gebäude gestürmt. Was die Demonstranten in diesen hastig aufgegebenen Gebäuden fanden, war verblüffend: Tonnen von Dokumenten, Videos und Aufnahmen von „Verhören“, und Berichte über jede Bewegung von Zehntausenden politischen Aktivisten. Die Offiziere hatten noch versucht, die Beweise zu schreddern und zu verbrennen, die Zeit hatte aber dafür nicht mehr gereicht.

Viele Demonstranten hatten zuvor diese Gebäude als Gefangene mit verbundenen Augen betreten, Folter erlitten, Demütigung, Elektroschocks und Vergewaltigung, während sie gleichzeitig die beängstigenden Schreie anderer hören mussten. Jetzt kamen sie als Befreier. Ihre Folterknechte waren geflohen und hatten eine Spur ihrer Verbrechen gegen das ägyptische Volk und die Menschheit hinterlassen. Am 15. März musste der Oberste Rat den Massen das Zugeständnis machen, die verbrecherische Staatssicherheit aufzulösen.

Eine der ersten Ankündigungen der neuen Übergangsregierung lautete, dass es keine Änderung in der freimarktwirtschaftlichen Politik der Regierung geben werde. Der Oberste Rat hatte bereits in einer früheren Mitteilung erklärt, dass die Regierung sich den internationalen Verträgen verpflichtet fühle und ein Verbündeter und Freund der USA bleibe.

Am 23. März erließ die Regierung ein Gesetz, das Streiks und Proteste verbot, die das normale Funktionieren von Einrichtungen oder Diensten stören, egal ob privat oder öffentlich. Die Strafen bei Gesetzesbruch beliefen sich auf ein Jahr Gefängnis und eine Geldbuße in Höhe von 500.000 Ägyptischen Pfund (60.000 Euro).

Trotzdem weiteten sich die Streiks noch aus und „störten“ offenbar absichtlich das „normale Funktionieren von Institutionen“. Die Regierung und der Oberste Rat trauten sich zunächst nicht, das Gesetz anzuwenden.

Allerdings leiteten der Oberste Rat, die Regierung, bürgerliche und Staatsmedien, liberale und islamistische Schreiber und Kommentatoren eine offensichtlich koordinierte Propagandakampagne gegen die Arbeiterstreiks ein. Sie bezeichneten die Streiks als selbstsüchtige „Partikularaktionen“, die die Interessen der Nation als Ganze nicht berücksichtigten. Sie schädigten die Wirtschaft und deshalb des Projekt des Aufbaus eines neuen Ägyptens. Dies sei die Revolution aller ehrenhaften Ägypter, Kapitalisten wie Arbeiter, Arme wie Reiche, und selbst wenn die Armen berechtigte Forderungen hatten, sollten sie sich in Geduld üben. Sie sollten bis zum Übergang warten.

In diesem neuen bürgerlichen Bündnis entwickelte sich ein Konsens gegen die Arbeiterklasse. Die streikenden Arbeiter verursachten Chaos und bedrohten den ordentlichen Machtübergang. Einige bezeichneten die Streiks sogar als konterrevolutionär, weshalb sie sofort beendet werden müssten. Essam Scharaf verglich sie in einer seiner Erklärungen mit den Angriffen von Schlägertrupps.

Der Propagandakrieg geht weiter, mit einem Trommelfeuer aus Zeitungsartikeln, Fernsehshows, Armeeerklärungen und Interviews mit Ministern, die alle über das neue Stadium der Revolution sprechen, das abhängig davon sei, dass das „Rad der Produktion“ wieder gedreht werde, und dieses Rad wollten die Arbeiter verrückterweise anhalten. „Danke, ihr habt uns geholfen, Mubarak loszuwerden, aber jetzt müsst ihr wieder an die Arbeit gehen und das Maul halten“, das schien die Botschaft der Bourgeoisie und ihrer Intellektuellen an die ägyptische Arbeiterklasse zu sein.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter und die Armen schienen die Botschaft aber nicht zu empfangen. Streiks, Sit-ins, die Blockade von Eisenbahnlinien und Demonstrationen vor Ministerien wurden unvermindert fortgesetzt.

Natürlich war diese Botschaft nicht nur als Drohung an die Arbeiter gemeint, sondern auch als Sammlungsruf an die Mittelschicht. Permanentes Gerede über Chaos und wirtschaftlichen Zusammenbruch angesichts einer echten Wirtschaftskrise machte vielen kleinen Geschäftsleuten, dem traditionellen Kleinbürgertum, Handwerkern und Bauern mit mittelgroßen Höfen, die ihre Produkte nicht verkaufen konnten, Angst. Indem die Verantwortung für die kapitalistische Krise und neoliberale Politik, die die wahren Ursachen ihres Elends waren, auf die Arbeiter abgeschoben wurde, versuchten sie nicht nur die Wut umzulenken, die sich sonst gegen die Regierung und ihre Politik hätte richten können, sondern auch die notwendigen Bündnisse für einen künftigen Zusammenstoß mit der Arbeiterklasse vorzubereiten.

Der April war ein Monat wachsenden Drucks von unten und wichtiger Zugeständnisse des herrschenden Obersten Rats, aber auch zunehmender Unterdrückung durch die Militärpolizei. Die Hinhaltepolitik bezüglich der Verhaftung des Präsidenten und seines Gefolges und eines Gerichtsverfahrens gegen sie wurde für die revolutionären Massen bedrohlich und sie konnten das nicht weiter hinnehmen. Die Rolle des Obersten Rats und seine Beziehung zur Revolution wurde nach einer kurzen Schonzeit, in der weite Teile der Bevölkerung den Armeeführern als „Beschützer“ der Revolution vertraut hatten, infrage gestellt.

Am Freitag, den 1. April, fanden erneut Massendemonstrationen auf dem Tahrirplatz, in Alexandria, Suez und anderen wichtigen Städten statt. Diesmal wurde der Tag „Freitag zur Rettung der Revolution“ genannt. Die Demonstranten forderten das Verbot der NDP, die Beschleunigung der Korruptionsuntersuchung und ein Gerichtsverfahren gegen Mubarak, seine Söhne und andere Spitzenbeamte.

Am 8. April versammelten sich Hunderttausende auf dem Tahrirplatz zu einem „Freitag der Säuberung und des Strafprozesses“. Zum ersten Mal kam es dabei zu einem frontalen Zusammenstoß zwischen Demonstranten und der Militärpolizei. Etliche Armeeoffiziere nahmen an der Demonstration in Uniform teil. Sie riefen Parolen gegen Feldmarschall Tantawi und gegen die Korruption in der Armee. Etliche tausend Demonstranten, wozu auch Offiziere gehörten, veranstalteten mitten auf dem Platz ein Sit-in und entschieden, die Demonstrationen die ganze Nacht fortzusetzen. Diese Verbrüderung zwischen Demonstranten und uniformierten Offizieren und der neue wütende Tonfall gegen den Obersten Rat konnte die Armeeführung nicht weiter dulden. Die Militärpolizei erhielt den Befehl, die Sit-ins aufzulösen. Sie schossen in die Menge, töteten mindestens eine Person und verletzten Dutzende. Die Offiziere, die an den Protesten teilgenommen hatten, wurden alle verhaftet.

Die Armee griff zu immer mehr Zwang, um die Protestbewegung zurückzudrängen. An der Universität Kairo sprengte die Militärpolizei eine studentische Besetzung. Hunderte Aktivisten im Land wurden verhaftet und gefoltert. Fast 10.000 Zivilisten saßen in Militärgefängnissen. Aber am bizarrsten war womöglich, dass verhaftete Aktivistinnen zwangsweise darauf untersucht wurden, ob sie noch Jungfrau seien. Das war eine schauerliche Erinnerung daran, dass die Militärpolizei dieselbe brutale Denkweise hatte wie die Staatssicherheit.

Und dennoch musste der Oberste Rat ernsthafte Zugeständnisse machen, um die Lage im Griff zu halten. Am 7. April wurde deshalb Sakaria Asmi, Mubaraks Stabschef und enger Vertrauter, verhaftet. Dem folgte die Verhaftung von Ahmed Nasif, Mubaraks letztem Ministerpräsidenten (10. April), Safwat al-Scherif, Präsident des Schurarats und Generalsekretär der NDP (11. April), und Fathi Sorur, Parlamentssprecher (13. April). Die Verhaftung von Mubarak und seinen beiden Söhnen Gamal und Alaa wurde am 13. April angeordnet. Die beiden Söhne wurden ins Toragefängnis in Kairo verbracht, während Mubarak selbst in ein Krankenhaus in Scharm al-Scheich überstellt wurde, weil er angeblich einen Herzinfarkt erlitten hatte.
 

Konterrevolutionäre Gefahren

Wie in jeder Revolution sind diejenigen, die ihre Macht verlieren, zu allem bereit, um sie wiederzuerlangen. Die Überreste der NDP, die Sicherheitspolizei und mit dem alten Regime verbundene milliardenschwere Geschäftsleute versuchten weiterhin, die Revolution zurückzudrängen. Der Einsatz von Schlägerbanden zur Einschüchterung der Menschen und die Erzeugung eines Gefühls der Angst und Unsicherheit gingen weiter. Die Polizei setzte eine Art informellen Streik fort, teils aus Angst, aber auch um das Unsicherheitsgefühl auf Ägyptens Straßen zu verstärken. Vielleicht am gefährlichsten war das plötzliche Auftauchen der salafistischen Gruppen (ultrareligiösen konservativen Muslimen), die anfingen, die christliche Minderheit anzugreifen. Wie Mustafa Omar in einem seiner ausgezeichneten Artikel über die Revolution beschreibt:

Zuerst brannte Anfang März in der Ortschaft Atfih südlich von Kairo ein Mob von Salafisten zusammen mit entrechteten städtischen Armen eine koptische Kirche nieder wegen einer angeblichen Beziehung zwischen einem Christen und einer Muslima. Im April organisierten Salafisten im südlichen Regierungsbezirk Qina, in dem viele Christen leben, zivilen Ungehorsam gegen einen neuen Regierungspräsidenten, weil er Christ war. Tatsächlich waren viele Christen und Muslime gegen die Ernennung von Emad Michael, weil er unter Mubarak ein berüchtigter, brutaler General der Geheimpolizei gewesen war. Aber die Salfisten richteten ihre Wut gegen die Religionszugehörigkeit des Gouverneurs. Im Mai schließlich griff ein weiterer muslimischer Mob in dem Kairoer Armenviertel Imbaba eine koptische Kirche an und brannte sie nieder. Salafisten hatten schon eine Zeit lang eine Kampagne gegen Christen geführt, weil angeblich der Priester eine Christin, die mit einem Muslim verheiratet war, gegen ihren Willen in der Kirche festhielt. Armee und Polizeioffiziere sahen tatenlos zu, als es zu einem mehrstündigen Feuergefecht zwischen Muslimen und Christen kam. Am Ende waren elf Menschen dabei umgekommen. Glücklicherweise wurden die Salafisten zeitweilig gebremst, als es zu einem öffentlichen Aufschrei einer beträchtlichen Mehrheit einfacher Muslime und Christen gegen das Abbrennen von Kirchen kam.

Die konterrevolutionären Versuche konnten also bisher die Revolution weder demobilisieren noch entmutigen. Dennoch ist revolutionäre Wachsamkeit nötig. Diejenigen, die Rache für die Revolution wollen, werden nicht aufgeben. Was sie am 3. Februar mit Kamelen und Pferden nicht geschafft haben, werden sie mit Bomben, Maschinengewehren und durch Säen von Zwietracht zwischen den Konfessionen versuchen.
 

Islamisten, Liberale und der Kampf um die Macht

Die Muslimbruderschaft war nicht fähig, sich ohne Schwankungen und Spaltungen an der Revolution zu beteiligen. Die Führung der Muslimbrüder reagierte auf den Druck verschiedener Strömungen in der Organisation, statt sich aus Prinzip an der Revolution zu beteiligen. Insbesondere der starke Druck der Bruderschaftsjugend war dafür verantwortlich, die sich mit den Massen auf der Straße vereinigt hatte.

Dieses Schwanken und diese Widersprüche sind in der Bruderschaft nichts Neues. Die ganze Geschichte seit ihrer Gründung durch Imam Hassan al-Banna bis heute bezeugt diese Neigung. Zum Ende der 1940er Jahre konnte die Monarchie den Kern der Organisation zerstören trotz ihrer Macht und einer halben Millionen Mitglieder, indem sie die scharfen Meinungsverschiedenheiten in ihren Reihen ausnutzte und die Unentschlossenheit der Führung, gegen das Regime vorzugehen. Eine ähnliche Krise erlebte die Gruppe in den ersten Jahren nach der Revolution vom Juli 1952, als interne Spaltungen und das Schwanken der Führung es dem nasseristischen Regime ermöglichte, sie zu zerschlagen.

Dieses permanente Pendeln zwischen Opposition und Kompromiss, zwischen Konfrontation und Stillhalten hat mit dem Wesen der Bruderschaft als eine breite religiöse Gruppierung zu tun, in der Flügel der städtischen Bourgeoisie ebenso vertreten sind wie das traditionelle und moderne Kleinbürgertum aus Studenten und Universitätsabgängern, Arbeitslose und ein großer Teil der Armen. Diese Struktur bleibt stabil, solange es politisch und sozial ruhig ist, verwandelt sich aber in eine Zeitbombe in Situationen großer Umwälzungen, wenn es fast unmöglich ist, die verschiedenen widersprüchlichen gesellschaftlichen Interessen hinter einer allgemeinen, vagen Botschaft zu vereinigen.

Tag und Nacht hat die Bruderschaft dieselben Phrasen über den Patriotismus der Armee und ihrer Führung nachgeplappert, dass es eine „rote Linie“ um die Armee gebe, über ihre Arbeit als „Hüter“ der Revolution, und dass jeder Schritt gegen die Armee ein Verrat an der Revolution sei. In einer Erklärung auf der Website der Bruderschaft finden wir folgenden Abschnitt:

Die Armee versucht einen Grad von Disziplin in ihren Reihen aufrechtzuerhalten, und das ist richtig so, denn wenn sie ihre eigene Disziplin nicht bewahren kann, kann sie das Volk nicht schützen.

Zurzeit ist die Armee die einzige organisierte Kraft in Ägypten, und es liegt nicht in unserem Interesse, sie zu schwächen oder von anderen schwächen zu lassen. Wir wissen, wer so vorgeht und was ihre Ziele und Absichten sind. Die Muslimbruderschaft wünscht sich den Erfolg der Revolution, und wir sind uns dessen bewusst, dass die Position unserer großen Armee in Bezug auf die Revolution einer der entscheidenden Faktoren für diesen Erfolg ist. Denn die Armee hat dem Volk von Anfang an gesagt: „Ihr könnt eure Ansichten frei äußern und am Tage demonstrieren, aber nicht während der nächtlichen Ausgangssperren, die schon häufiger auf nur drei Stunden beschränkt wurden.“

In Bezug auf die soziale Vertiefung der Revolution mit der großen Streikwelle, die durch den Aufstand ausgelöst wurde, nahm die Bruderschaft dieselbe Haltung wie Regierung und Armeerat ein, indem sie die „Rückkehr zur Arbeit zur Rettung der ägyptischen Wirtschaft“ forderte:

Die Muslimbruderschaft ruft alle Flügel des ägyptischen Volks auf, die Räder der Produktion und der Entwicklung am Laufen zu halten. Demonstrationen für Partikularforderungen sind zwar ein Grundrecht, sind der Produktion aber abträglich und schaden der Wirtschaft, insbesondere da die Revolution dazu da ist, den Motor der Wirtschaft in Bewegung zu halten. Die Bürger müssen das Gefühl haben, dass ihre Opfer und ihre Suche nach einem würdevollen Leben kein leeres Gerede waren, damit das ägyptische Volk beweisen kann, dass es fähig ist zu weiteren Errungenschaften über die Revolution hinaus, mit anderen Worten, Ägypten aus seiner Wirtschaftskrise herauszuholen.

Solche Einstellungen sind natürlich nicht auf die Bruderschaft beschränkt. Liberale Kräfte nehmen ebenfalls mit großer Begeisterung an dieser doppelten Kampagne der bedingungslosen Unterstützung für den Armeerat und der hysterischen Hetze gegen Arbeiterstreiks teil unter der Parole: „Das Rad der Produktion am Laufen halten“. Amr Hamsawi, einer der Stars des Liberalismus, appellierte sogar an die Jugend und an öffentliche Persönlichkeiten, sich zu organisieren und unter der Arbeiterschaft gegen Streiks aufzutreten. Eine große Zahl von Intellektuellen und Revolutionären von gestern stacheln im Rahmen der Kampagne gegen die zweite Phase der Revolution zur Niederschlagung von Streiks mithilfe der Armee auf.

Islamisten und Liberale haben eine Reihe politischer Parteien in der Erwartung gegründet, dass die Wahlen im September abgehalten werden. Obwohl künstliche Diskussionen zwischen säkularen Liberalen und Islamisten über die Einzelheiten der Verfassung und den Platz des islamischen Schariarechts in einem künftigen demokratischen Ägypten den Eindruck erwecken, dass ihre Differenzen unüberbrückbar sind, stellen sie sich als enge Verbündete heraus, wenn es um den Klassenkampf und die Grenzen der Revolution geht. Beide Kräfte unterstützen den Obersten Rat ohne Einschränkung und verurteilen jede Kritik an der Armee. Beide Seiten unterstützen den Kapitalismus der freien Marktwirtschaft, beide stellen sich eindeutig gegen die Fortsetzung von Streiks und beide werden vermutlich am Ende Teil eines Bündnisses zur Rettung des Kapitalismus und Zerschlagung der Arbeiterbewegung sein.
 

Der Aufstand der Arbeiter

Die Streikwelle, die in der dritten Woche der Revolution begann und Mubarak den letzten Stoß versetzte, hörte nach dem Sturz des Diktators nicht auf. Dieser politische Sieg gab den Tausenden wirtschaftlichen wie politischen Streiks im Land erst recht Auftrieb. In den zwei Monaten nach Mubaraks Sturz fanden mehr Streiks statt und mehr Arbeiterinnen und Arbeiter nahmen daran teil als in den gesamten Streiks der Jahre 2006 bis 2009, was bis dahin die größte Streikwelle in der neueren Geschichte Ägyptens darstellte.

Die Streikwelle nach Mubaraks Abgang war sowohl eine Fortsetzung als auch eine Vertiefung der vorherigen. Dutzende neuer unabhängiger Gewerkschaften wurden in der Hitze der Auseinandersetzungen gebildet und deren Führungen demokratisch aus den Streikkomitees gewählt. Die Streikwelle verbreitete sich auf die verschiedenen Industrien, auf Angestellte und den Privatsektor. Die Forderungen beziehen sich auf unmittelbare wirtschaftliche Fragen, auf nationale Themen wie den Mindestlohn und richten sich gegen Korruption. Der Grad der Verallgemeinerung und Radikalisierung ist beispiellos.

Diejenigen, die sich eine ordentliche, rein politisch-demokratische Revolution gewünscht hatten, einen organisierten Übergang von der Diktatur zur Demokratie unter Führung der liberalbürgerlichen Demokraten und gemäßigten Islamisten, einen Übergang, der passiv von der Arbeiterklasse und den Armen unterstützt wird, hatten nicht wirklich verstanden, in was sie sich hineinbegeben hatten.

In den Anfangstagen der Revolution, als das gemeinsame Ziel vor allem darin bestand, Mubarak zu stürzen und eine parlamentarische Demokratie zu errichten, schien es ein Gefühl klassenübergreifender Einheit zu geben, am besten vielleicht symbolisiert in der ägyptischen Fahne. Von den ärmsten Arbeitslosen bis zum reichsten Konzernleiter schwenkten alle stolz die Fahne. Wer an den Barrikaden kämpfte und diejenigen, die später hinzukamen, als die Lage sicher genug war, alle empfanden das als ihre gemeinsame Revolution, eine Revolution des gesamten ägyptischen Volks mit all seinen Gesellschaftsklassen gegen eine verhasste Diktatur. Aber dieses Gefühl der Einheit war oberflächlich und nur von kurzer Dauer.

Die eher unbestimmten demokratischen Parolen für Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Würde bedeuteten für die verschiedenen beteiligten Klassen etwas völlig Unterschiedliches. Freiheit hieß für die Arbeiter nicht nur die Freiheit zu wählen oder Meinungsfreiheit, sondern auch Freiheit von Hunger, Unsicherheit und der ständigen Bedrohung durch Arbeitslosigkeit. Soziale Gerechtigkeit hieß Gleichheit und die Umverteilung des Reichtums, höhere Löhne, bessere Gesundheitsversorgung und Bildung, bessere Wohnungen und öffentliche Dienste. Würde hatte keinen Wert, wenn es nicht das Ende von Armut und Not bedeutete.

Die bürgerlichen Demokraten hatten natürlich ein ganz anderes Verständnis von diesen Parolen. Freiheit hieß für sie ein parlamentarisches System nach westlichem Vorbild. Soziale Gerechtigkeit hieß eine leichte Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen, solange das die Investoren nicht abschreckte und die Forderungen realistisch blieben und nicht das Überleben des Kapitalismus bedrohten. Würde hieß das Ende der Polizeigewalt, hatte aber wenig zu tun mit sozialen Fragen.

Andere Flügel der Bevölkerung übersetzten diese Parolen in zunehmend abweichende Vorstellungen. Mit der Absetzung Mubaraks begannen diese Unterschiede an die Oberfläche zu treten.

Das wirft die Frage nach der Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft, genauer gesagt zwischen einer demokratischen Revolution und einer sozialen Revolution auf. Eine demokratische Revolution, in der die Arbeiterklasse eine wichtige Rolle spielt, ist an sich bereits implizit und potenziell eine soziale Revolution. Vom ersten Moment an enthält die Revolution den Samen künftiger Klassenkämpfe für die späteren Etappen der Revolution. Im Fall Ägyptens, wo die Revolution nicht nur gegen eine brutale Diktatur gerichtet war, sondern auch gegen eine neoliberal-kapitalistische, und wo der Revolution Jahre von Arbeitskämpfen gegen neoliberale Politik vorausgingen, konnte es nicht anders sein. Diesmal konnte es kein Ergebnis geben wie bei den „Farbenrevolutionen“.

Die Verbindung zwischen politischen und wirtschaftlichen Protesten in einer Revolution wurde von Rosa Luxemburg in ihrer Analyse der russischen Revolution von 1905 brillant erfasst:

Allein die Bewegung im Ganzen geht nicht bloß nach der Richtung vom ökonomischen zum politischen Kampf, sondern auch umgekehrt. Jede von den großen politischen Massenaktionen schlägt, nachdem sie ihren politischen Höhepunkt erreicht hat, in einen ganzen Wust ökonomischer Streiks um. […]

Jeder neue Anlauf und neue Sieg des politischen Kampfes verwandelt sich in einen mächtigen Anstoß für den wirtschaftlichen Kampf, indem er zugleich seine äußeren Möglichkeiten erweitert und den inneren Antrieb der Arbeiter, ihre Lage zu bessern, ihre Kampflust erhöht. Nach jeder schäumenden Welle der politischen Aktion bleibt ein befruchtender Niederschlag zurück, aus dem sofort tausendfältige Halme des ökonomischen Kampfes emporschießen. Und umgekehrt. Der unaufhörliche ökonomische Kriegszustand der Arbeiter mit dem Kapital hält die Kampfenergie in allen politischen Pausen wach […]. [4]

Diese Wechselwirkung zwischen politischen und wirtschaftlichen Forderungen ist ein wesentliches Muster der ägyptischen Revolution.

Einer der Faktoren, der diese Wechselwirkung im Fall Ägyptens noch verstärkt, ist das Ausmaß, in dem die Institutionen des Staats, die NDP und das Großkapital auf allen Ebenen der Gesellschaft eng miteinander verflochten waren und weiterhin sind.

Eine der Hauptparolen der Revolution, insbesondere nach der Absetzung Mubaraks, galt der „Säuberung des Systems“. Das bedeutete, dass die Revolution keinen Erfolg haben würde, wenn es nicht zu einer gründlichen Säuberung aller NDP-Funktionäre und korrupten Beamten aus allen Institutionen käme. Deshalb lautete in allen großen Streiks seit der Revolution eine Hauptforderung: Entfernung korrupter und mit der NDP verbundener Manager und ein Gerichtsverfahren gegen sie. Diese eindeutig politische Forderung war Bestandteil der wirtschaftlichen Forderungen nach einem Mindestlohn, festen Arbeitsverträgen für Zeitarbeiter, bessere Arbeitsbedingungen und so weiter.

Zu einer ähnlichen Situation kam es in der portugiesischen Revolution des Jahres 1974. Tony Cliff erklärte in einer wichtigen Analyse der Revolution:

„Saneamento“ (Säuberung) bedeutete weit mehr, als einfach die Geheimpolizisten hinter Schloss und Riegel zu bringen. Wirkungsvoll und vollständig durchgeführt heißt es im Grunde genommen, die Struktur des bürgerlichen Staates zu zerstören. Weil die alte Staatshierarchie die Kontrolle über jede Ebene des gesellschaftlichen Lebens, der Banken, Kirchen, Schulen, Universitäten, über das Büro- und Fabrikmanagement bedeutete, würde eine vollständige „Saneamento“ die Zerstörung der gesamten gesellschaftlichen Hierarchie von Aufsichtsräten bis hinunter zu den Meistern bedeuten. [5]

Was also in Ägypten am 25. Januar als scheinbar rein demokratische politische Revolution begann, kann sich in einen revolutionären Angriff auf die Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft selbst entwickeln.
 

Steigende Erwartungen und die Wirtschaftskrise

Ein weiterer wichtiger Faktor, der die ägyptische Revolution über die Grenzen eines bürgerlich-demokratischen Übergangs hinaus treibt, ist der sich verschärfende Widerspruch zwischen den steigenden Erwartungen der Arbeiterschaft und der Armen einerseits und der Wirtschaftskrise des Kapitalismus andererseits. Die Menschen erwarten höhere Löhne, die Senkung der Arbeitslosigkeit, bessere Wohnungen, Bildung und Gesundheitsversorgung. Aber innerhalb der Schranken des kapitalistischen Systems wird es eher zu Verschlechterungen in all diesen Fragen kommen.

Die ägyptische Wirtschaft war bereits vor der Revolution in der Krise. Aber die Dinge haben sich seitdem noch verschlimmert. Das vielleicht sichtbarste Problem ist die Inflation. Die Lebensmittelpreise zum Beispiel sind im April 2011 um 20 Prozent gestiegen verglichen mit dem Vorjahresmonat. Die Arbeitslosigkeit ist drastisch angestiegen, verschärft noch durch die Rückkehr von Hunderttausenden Arbeitern aus Libyen. Es gab 1,5 Millionen ägyptische Arbeiter in Libyen. Die Revolution und der Bürgerkrieg dort führten zu einem scharfen Rückgang der Geldüberweisungen ins Heimatland, was eine wichtige Devisenquelle war. Die Einkünfte aus dem Tourismus, der 11 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, fielen ebenfalls scharf, wodurch zusätzlich Hunderttausend die Reihen der arbeitslosen Jugend füllten.

Um die Wirtschaft zu stabilisieren, stützte die Regierung das Ägyptische Pfund mit Auslandsreserven. Diese Reserven sind von 34 Milliarden US-Dollar auf 28 Milliarden US-Dollar geschrumpft. Aber das ägyptische Pfund verlor weiter an Wert. Die längerfristige Bedrohung liegt in einer weiteren schnellen Abnahme der Reserven gefolgt von Spekulationen auf das Pfund und einen völligen Zusammenbruch seines Werts. Das Haushaltsdefizit im Jahr 2011 wird auf über 9 Prozent geschätzt und das Bruttoinlandsprodukt ist im ersten Quartal um 4,2 Prozent gesunken.

All das heißt, dass entweder der ägyptische Kapitalismus zusammenbricht oder die Arbeiterklasse und die Armen Ägyptens den Preis für die Krise zahlen müssen. Aber die Arbeiterklasse und die Armen Ägyptens revoltierten und revoltieren immer noch, weil sie den Preis für den Neoliberalismus und sein jahrzehntelanges Scheitern nicht zahlen wollen. Was sie erwarten, ist das Ende der Armut, der Arbeitslosigkeit, der Demütigung und Entwürdigung, die sie erlitten haben.

Die Generäle und Kapitalisten und ihre Übergangsregierung können keine substanziellen Zugeständnisse an die Arbeiter machen, ohne nicht nur mit dem Neoliberalismus zu brechen, sondern mit der gesamten Struktur der kapitalistischen Wirtschaft. Für sie wäre das nicht nur irrational, sondern selbstmörderisch. Sie werden mit Zähnen und Klauen kämpfen, um das System zu retten und die Armen den Preis dafür zahlen zu lassen. Aber die Armen werden auch mit Zähnen und Klauen für ihre Revolution kämpfen. Ein neuer und heftiger Zusammenstoß steht bevor.
 

Eintritt in den Weltkapitalismus

Der ägyptische Kapitalismus ist integrierter Bestandteil des kapitalistischen Weltsystems. Sein Überleben hängt von den Lebensadern ab, die ihn mit den Ökonomien der USA, der EU und der Golfstaaten verbindet. Deshalb hat sich die Übergangsregierung an diese Staaten um Hilfe gewandt. Und wie zu erwarten war, hat das Versprechen des Obersten Rats und der Übergangsregierung, dieselbe Wirtschafts- und Außenpolitik wie das Vorgängerregime zu verfolgen, dazu geführt, dass die USA, die EU und ihre Finanzinstitutionen IWF und Weltbank nur zu gerne helfen.

Auf dem G-8-Gipfel vom 26. und 27. Mai (an dem Essam Scharaf teilnahm) wurde verkündet, dass Ägypten und Tunesien bis zu 20 Milliarden Dollar angeboten wurden. Wenn die Unterstützung der arabischen Golfstaaten hinzugerechnet wird, scheint allein Ägypten mit fast 15 Milliarden US-Dollar an Krediten, Investitionen und Hilfen von Regierungen und den wichtigsten internationalen Finanzinstitutionen rechnen zu können. Mit der Zahlung dieses Geldes sind aber Bedingungen verknüpft. Die Pakete wurden verknüpft mit der Fortsetzung neoliberaler Privatisierungspolitik, Deregulierung und Förderung von Auslandsinvestitionen.

Diese Bedingungen wurden am 24. Mai festgelegt, nachdem Weltbank und IWF erklärt hatten, bis zum Jahr 2013 an Ägypten 4,5 Milliarden US-Dollar zu zahlen. Mit dem Hinweis, dass „Reformen so wichtig sind wie das Geld“, stellte der IWF auf dem G-8-Gipfel klar, was erforderlich wäre, wenn das Geld nach Ägypten fließen sollte:

Zur Überwindung der Arbeitslosigkeit ist eine erhebliche Beschleunigung des Wirtschaftswachstums erforderlich. […] Um solche Wachstumsraten zu erzielen, sind zusätzliche Investitionen und eine erhöhte Produktivität nötig. Während eine begrenzte Erhöhung der öffentlichen Ausgaben erforderlich sein mag, zum Beispiel um die Qualität von Infrastruktur und Dienstleistungen in weniger entwickelten ländlichen Gegenden zu heben, wird die Hauptrolle beim Privatsektor liegen, wozu auch das Anlocken ausländischer Direktinvestitionen gehört. Die Regierungspolitik sollte also ein Umfeld schaffen, in dem der Privatsektor gedeihen kann.

Die Hauptstoßrichtung der internationalen Finanzintervention in das Ägypten nach Mubarak ist deshalb die Beschleunigung der neoliberalen Politik, die bereits Mubarak verfolgt hatte. Eben diese Politik hatte zur Verarmung der Mehrheit der Bevölkerung geführt, zu einer erheblichen Konzentration des Reichtums bei einer kleinen Minderheit und zu einem willfährigen Staat, der ins Bett mit den Milliardären steigt.

Eben gegen dieses Ägypten haben wir revoltiert und es ist exakt das Ägypten, das uns erneut angeboten wird, nur in einer etwas anderen Verpackung.
 

Vorbereitung auf die zweite Revolution

Wie wir oben sehen konnten, gibt es in einer Revolution eine komplexe Wechselwirkung zwischen politischen und wirtschaftlichen Forderungen, zwischen ihren demokratischen und ihren sozialen Phasen. Es gibt keine klar begrenzten und getrennten Etappen in der Revolution. Die Durchsetzung der politischen Hauptforderungen der Revolution, die eben erst begonnen hat, wird nur möglich sein, wenn sich die Mehrheit der ägyptischen Arbeiterklasse daran beteiligt. Dies verwandelt notwendigerweise den Charakter der Revolution mit ihren engen bürgerlich-demokratischen Forderungen und stellt soziale Forderungen in den Vordergrund, die in den Schranken des Kapitalismus mit seinen endlosen Krisen nicht erfüllt werden können.

Die Bedrohung für den Kapitalismus vereint alle Arten grundverschiedener Kräfte gegen die Arbeiterklasse und die Armen. Pläne zur Eindämmung einerseits und Verschwörungen zur Konterrevolution andererseits liegen in der Luft. Für viele Liberale und Islamisten ist die Bedrohung durch das politische Erwachen der Arbeiterklasse und der Armen sehr viel akuter als das langsame und begrenzte Tempo der politischen und demokratischen Reformen, das die Generäle bieten.

Die wahre Vollendung der demokratischen Revolution erfordert deshalb, dass die Arbeiterklasse die Führung übernimmt und die armen Bauern, die städtischen Armen und die unterdrückten Teile der Gesellschaft wie die armen Kopten, die Nubier und Beduinen des Sinais mitzieht. Das ist notwendig, um die Revolution vor Zurückdrängung, Reaktion und Konterrevolution zu schützen und sich auf einen neuen Aufstand vorzubereiten, mit dem der Sturz des alten Regimes besiegelt wird. Der Prozess der „Säuberung“ muss durch Zerstörung der Staatsstrukturen des alten Regimes abgeschlossen werden. Dann beginnt die Aufgabe, die „soziale Republik“ aufzubauen, indem die Arbeiterklasse mit Unterstützung der armen Bauern, der städtischen Armen und aller vom alten Regime und von der sogenannten Übergangsregierung und ihren Generälen unterdrückten Teile der Gesellschaft die politische Macht erobert.

Diese Aufgaben können nicht allein durch Organisierung unabhängiger Gewerkschaften und von Volkskomitees erfüllt werden, wie wichtig das in dem nächsten Aufstand auch sein wird. Es ist dringend notwendig, eine revolutionäre Arbeiterpartei aufzubauen, eine Partei, deren Aufgabe nicht nur darin bestehen wird, die fortgeschrittensten Elemente der Arbeiterklasse zu vereinen, sondern auch die weniger organisierten und isolierten Sektoren der Klasse anzuziehen. Diese Partei muss ein „Tribun der Unterdrückten“ werden, und alle Opfer der Ausbeutung und Unterdrückung davon überzeugen, dass nur unter Führung der Arbeiterklasse ihr Leiden wirklich beendet werden kann.

Klarheit und Ehrlichkeit sind mit Blick auf den nächsten Aufstand von größter Wichtigkeit. Der Feind wird uns erbarmungslos bekämpfen. Bei dem Versuch, nicht nur den Aufstand selbst, sondern auch alle Überreste unabhängiger Arbeiterorganisation zu zerschlagen, wird der Armee eine entscheidende Rolle zufallen. Deshalb ist es in den kommenden Schlachten, unabdinglich, die Soldaten und jungen wehrpflichtigen Offiziere für die Revolution zu gewinnen, um die Armeeführung zu isolieren und schließlich zu besiegen.

Unsere Feinde sind organisiert. Sie können sich voll und ganz auf die bürgerlichen Medien stützen. Nur eine organisierte revolutionäre Partei, die zahlenmäßig stark genug und in der Lage ist, ihre Ideen zu verbreiten und die Massen für revolutionäres Handeln zu gewinnen, kann hoffen, diese Schlacht zu gewinnen.

Die Kluft zwischen der jetzigen Größe und den vorhandenen Kräften der revolutionären Linken in Ägypten und den oben benannten Aufgaben ist riesig. Aber wir wissen, dass unsere Argumente Einfluss darauf haben können, wie der Kampf sich entwickelt. Diejenigen von uns, die während des Aufstands auf dem Tahrirplatz waren und glaubten, dass Arbeiterinnen und Arbeiter Mubaraks Ende herbeiführen könnten, haben nicht einfach nur darauf gewartet, dass es zu Streiks kommt. Wir sind zu den führenden Aktivisten in den Betrieben gegangen und haben sie für den Standpunkt gewonnen, dass Arbeiter ihre organisierte kollektive Macht gegen das Regime einsetzen können.

Die revolutionäre Krise in Ägypten und in der arabischen Welt ist verschärft durch die Weltwirtschaftskrise von einem Ausmaß und einer Tiefe, dass unsere Feinde in naher Zukunft keine Lösung dafür finden werden. Die Krise wird vermutlich eher Jahre als Monate dauern. Das bietet revolutionären Sozialisten eine einmalige, wirklich historische Gelegenheit. Wenn wir keine Fehler bei den wesentlichen Fragen revolutionärer Strategie und Taktik machen, wenn wir die richtigen Lehren aus Niederlagen und Erfolgen unserer internationalen revolutionären Tradition ziehen, dann könnte ein historischer Sieg für die Arbeiterklasse in Ägypten und international in greifbarer Nähe sein.

Ein weiterer wichtiger Faktor, der für Sieg oder Niederlage entscheidend sein kann, ist die Frage des revolutionären Internationalismus. Die Kapitalistenklasse der Welt verbündet und organisiert sich, um die ägyptische Revolution zurückzudrängen und zu ersticken. Aber der Weltkapitalismus befindet sich in einer langwierigen Krise. Überall auf der Welt versuchen die herrschenden Klassen, die Arbeiterklasse den Preis für ihre Krise zahlen zu lassen. Der Widerstand dagegen wächst überall auf der Welt. Die Massenstreiks und Demonstrationen in Griechenland und Spanien sind beseelt von der ägyptischen Revolution und beseelen diese auch umgekehrt. Die Revolutionen im Jemen und in Syrien gehen weiter, obwohl ihnen mit unbeschreiblicher Unterdrückung begegnet wird. Jeder Sieg der Arbeiterklasse und der Massen in einer Region oder einem Land wird allen anderen großen Auftrieb geben. Wir können uns aber nicht einfach auf die relativ spontanen Wechselwirkungen zwischen diesen Revolutionen und Bewegungen verlassen. Wir müssen internationale Solidarität organisieren und diesen historischen Moment nutzen, um unsere Organisationen überall auf der Welt aufzubauen.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten haben wir buchstäblich eine Welt zu gewinnen.


Fußnoten

1. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (MEW), Band 8, Berlin (Dietz) 1988, S. 160–161. Lazzaroni: Lumpen; Roués: Wüstlinge; Maquereaus: Zuhälter.

2. Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, S. Fischer Verlag, Berlin 1960, S. 208. (http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b1-kap13.htm)

3. Trotzki, Geschichte, S. 176. In der Buchfassung fehlt der zweite Satz. Die Online-Fassung scheint vollständig zu sein.

4. Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Gesammelte Werke, Band 2, Berlin (Dietz) 1990, S. 128.

5. Tony Cliff, Portugal vor der Entscheidung, Frankfurt am Main 1975, S. 38.



Weitere Informationen über Arbeiterkämpfe in Ägypten und im Nahen Osten und Einzelheiten, wie ihr Solidarität mit den Revolutionen aufbauen könnt, erfahrt ihr bei MENA Solidarity Network: http://menasolidaritynetwork.com.
E-Mail: menasolidarity@gmail.com.

Kontakt zu den Revolutionären Sozialisten in Ägypten:
E-Mail: eg.socialists@gmail.com.
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Zuletzt aktualisiert am 14.9.2011