Tony Cliff

 

Lenin 1

 

4. „Was tun?“

Mehrere Jahre des Nachdenkens seitens Lenins über die organisatorischen Aufgaben, die vor der russischen Sozialdemokratie standen, spitzten zu, als er 1902 das sehr wichtige Buch Was tun? schrieb. Sein Hauptthema umfaßte „drei Fragen ...: die Fragen nach dem Charakter und dem Hauptinhalt unserer politischen Agitation, nach unserer organisatorischen Aufgaben, nach dem Plan für den gleichzeitig und von verschiedenen Seiten in angriff zu nehmenden Aufbau einer kampffähigen gesamtrussischen Organisation“. [1]

 

Der Unterschied zwischen trade-unionistischem und sozialistischem Bewußtsein

Lenins Ansichten über „den Charakter und den Hauptinhalt der notwendigen politischen Agitation“ entwickelten sich zu einer Darstellung des Unterschieds zwischen trade-unionistischer Politik und sozialistischer Politik. Wie er es ausdrückte: „ Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewußtsein hervorbringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m.“ [2]

Anderswo schrieb er:

die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung führt eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie ..., denn spontane Arbeiterbewegung ist Trade-Unionismus, ist Nur-Gewerkschaftlerei, Trade-Unionismus aber bedeutet eben ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie. [3]

Warum aber, wird der Leser fragen, führt die spontane Bewegung in der Richtung des geringsten Widerstands gerade zur Herrschaft der bürgerlichen Ideologie? Aus dem einfachen Grunde, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt. [4]

Daher besteht unsere Aufgabe, die Aufgabe der Sozialdemokratie, im Kampf gegen die Spontaneität, sie besteht darin, die Arbeiterbewegung von dem spontanen Streben desw Trade-Unionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben, abzubringen und sie unter die Fittiche der revolutionären Sozialdemokratie zu bringen. [5]

Er sagte weiter:

Das politische Klassenbewußtsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen. [6]

Es gibt keine Zweifel darüber, daß diese Formulierung den unterschied zwischen Spontaneität und Bewußtsein überbetonte. Denn in Wirklichkeit die vollständige Trennung der Spontaneität vom Bewußtsein ist mechanisch und undialektisch. Lenin, wie wir später sehen werden, gab das zu. Reine Spontaneität existiert nicht im Leben – „jede ‚spontane‘ Bewegung enthält rudimentäre Elemente der bewußten Führung, der Disziplin“. [7] Der kleinste Streik hat mindesten eine rudimentäre Führung.

Lenin selbst widersprach scharf in einem Artikel mit dem Titel „Über Streiks“ , den er Ende 1899 schrieb, seine späteren Äußerungen im Was tun? über das Verhältnis zwischen dem spontanen Klassenkampf und dem sozialistischen Bewußtsein. So z.B. schrieb er:

Jeder Streik erweckt in den Arbeitern mit großer Kraft den Gedanken an den Sozialismus – den Gedanken an den Kampf der ganzen Arbeiterklasse für ihre Befreiung vom Joch des Kapitals. [8]

Ein Streik lehrt die Arbeiter verstehen, worin die Kraft der Unternehmer und worin die Kraft der Arbeiter liegt, er lehrt sie, nicht allein an ihren eigenen Unternehmer und nicht allein an ihre nächsten Kollegen zu denken, sondern an alle Unternehmer, an die ganze Klasse der Kapitalisten und an die ganze Klasse der Arbeiter. [9]

Ein Streik öffnet aber den Arbeitern die Augen nicht nur über die Kapitalisten, sondern auch über die Regierung und die Gesetze. [10]

Die Logik der mechanischen Nebeneinanderstellung der Spontaneität und des Bewußtseins war die völlige Trennung der Partei von den wirklichen Elementen der Führung der Arbeiterklasse, die schon im Kampf entstanden waren. Sie nahm an, daß die Partei Antworten auf all die Fragen hatte, die der spontane Kampf vorbringen könnte. Die Blindheit der kampfbereiten Vielen ist das Gegenstück der Allwissenheit der Wenigen.

Im allgemeinen ist die Dichothomie [Zweiteilung] zwischen dem ökonomischen und dem politischen Kampf Marx fremd. Eine ökonomische Forderung, wenn sie eine Teilforderung ist, wird nach Marx’ Vorstellung als „ökonomisch“ definiert. Aber wenn die gleiche Forderung vom Staat verlangt wird, ist sie „politisch“:

... der Versuch, in einer einzelnen Fabrik oder auch in einem einzelnen Gewerk durch Streiks etc. von den einzelnen Kapitalisten eine Beschränkung der Arbeitszeit zu erzwingen, ist eine rein ökonomische Bewegung; dagegen die Bewegung ein Achtstunden- etc. Gesetz zu erzwingen, ist eine politische Bewegung. Und in dieser Weise wächst überall aus den vereinzelten ökonomischen Bewegungen der Arbeiter eine politische Bewegung hervor, d.h. eine Bewegung der Klasse, um ihre Interessen durchzusetzen, in allgemeiner Form, in Eier Form, die allgemeine, gesellschaftliche Kraft besitzt ... jede Bewegung, worin die Arbeiterklasse als Klasse den herrschenden Klassen gegenübertritt und sie durch Druck von außen zu zwingen sucht, ist eine politische Bewegung. [11]

In vielen Fällen führen ökonomische (Teil-)Kämpfe nicht zu politischen (klassenweiten) Kämpfen, aber es gibt keine chinesische Mauer zwischen den beiden, und viele ökonomische Kämpfe schlagen sich tatsächlich in politische um.

Lenins „Überspannung des Bodens“ zur mechanischen Überbetonung auf Organisation in Was tun? war trotzdem ganz nützlich, was den Einsatz betraf: Während etwa fünf oder sechs Jahre lang die Marxisten in Rußland einen Wunsch nach Konfrontation auf dem betrieblichen Ebene in der Arbeiterklasse erweckt hatten, bestand dir jetzt notwendige Schritt darin, mindestens im politisch bewußten Teil der Massen den Wunsch nach politische Aktion zu erwecken.

 

 

Der Kampf um die Demokratie und der Sozialismus

Ein Thema, das durch alle Leninschen Schriften über die „organisatorischen Aufgaben der Bewegung“ läuft, ist die Notwendigkeit, daß der revolutionäre Sozialist jede Bewegung gegen die Unterdrückung nicht nur im ökonomischen, sondern auch im politischen und kulturellen Bereich, nicht nur von den Arbeitern, sondern auch von jedem unterdrückten Teil der Gesellschaft unterstützen soll.

Die Landeshauptleute und die Prügelstrafe für Bauern, die Bestechlichkeit der Beamten und die Behandlung des „gemeinen Volks“ in den Städten durch die Polizei, der Kampf gegen die Hungernden und das Kesseltreiben gegen das Streben des Volkes nach Licht und Wissen, die Zwangseintreibung der Abgaben und die Verfolgungen der Sektierer, das Drillen der Soldaten und die Kasernenhofmethoden bei der Behandlung der Studenten und liberalen Intellektuellen – warum sollen alle diese und tausend andere ähnliche Erscheinungen der Unterdrückung, die nicht unmittelbar mit dem „ökonomischen“ Kampf verknüpft sind, weniger „weit anwendbare“ Mittel und Anlässe der politischen Agitation, der Einbeziehung der Massen in den politischen Kampf darstellen? [12]

Das Bewußtsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle von Willkür und Unterdrückung, von Gewalt und Mißbrauch zu reagieren, welche Klassen diese Fälle auch betreffen mögen, und eben vom sozialdemokratischen und nicht von irgendeinem anderen Standpunkt aus zu reagieren. [13]

Wenn man diese Tyranneien bloßlege,

so wird auch der unterentwickeltste Arbeiter verstehen oder fühlen, daß der Student und der Sektierer, der Bauer und der Schriftsteller von derselben finsteren Macht verhöhnt und mißhandelt werden, die ihn selber auf Schritt und Tritt unterdrückt, und sobald er das fühlt, wird er von dem Willen, unwiderstehlich von dem Willen beseelt werden, auch selbst zu reagieren, wird es dann verstehen, heute den Zensoren Katzenmusik zu machen, morgen vor dem Haus des Gouverneurs, der einen Bauernaufstand unterdrückt hat, zu demonstrieren, übermorgen den Gendarmen im Priesterrock, die die Arbeit der Heiligen Inquisition verrichten, eine Lektion zu erteilen usw. [14]

Gerade im Geiste dieser Unterstützung aller Unterdrückten schlug Lenin 1903 die Veröffentlichung einer besonderen Zeitschrift für Mitglieder von religiösen Sekten (von denen es über 10 Millionen in Rußland gibt). Folgendes ist der Antrag, den er beim zweiten Kongreß stellte:

RESOLUTIONSENTWURF ÜBER DIE HERAUSGABE EINES ORGANS FÜR SEKTENANHÄNGER

In der Erwägung, daß die Bewegung der Sektenanhänger in Rußland in vielen ihrer Erscheinungsformen zu den demokratischen Strömungen Rußlands gehört. lenkt der II. Parteitag die Aufmerksamkeit aller Parteimitglieder auf die Arbeit unter den Sektenanhängern, um diese für die Sozialdemokratie zu gewinnen. Versuchsweise gestattet der Parteitag Genossen W. Bontsch-Brujewitsch [1*], unter der Kontrolle der Redaktion des ZO [Zentralorgans], ein populäre Zeitung – Sredi Sektanow [Unter den Sektierern] – herauszugeben, und beauftragt das ZK und die Redaktion des ZO, die notwendigen Maßnahmen für die erfolgreiche Herausgabe dieses Organs zu treffen und alle Bedingungen für sein richtiges Funktionieren zu schaffen. [15]

Demgemäß wurde eine Zeitung mit dem Titel Rasswet (Morgendämmerung) veröffentlicht, die sich auf Mitglieder der religiösen Sekten orientierte. Die erste Ausgabe erschien Januar 1904 und sie erschien weiter – insgesamt neun Ausgaben – bis September desselben Jahres. Die Arbeit unter den religiösen Sekten hatte großen sozialistischen Wert. Man muß bloß Trotzkis Autobiographie lesen, um zu sehen, wie die Arbeiterviertel von religiösen Sekten wimmelten, die sich gegen die Griechisch-Orthodoxe [Russisch-Orthodoxe] Kirche stellten. Im großen und ganzen hatte diese Opposition direkt politische Implikationen. [16]

In seiner Entwicklung des Themas der Notwendigkeit, gegen alle formen der Unterdrückung zu reagieren, beschreibt Lenin den revolutionären Sozialdemokrat im Vergleich mit dem Gewerkschaftssekretär.

Denn der Sekretär einer beliebigen, beispielsweise englischen Trade-Union hilft den Arbeitern stets, den ökonomischen Kampf zu führen, organisiert Fabrikenthüllungen, erläutert die Ungerechtigkeit von Gesetzen und Maßnahmen, die die Streikfreiheit und die Aufstellung von Streikposten (um jedermann zur Kenntnis zu bringen, daß in dem betreffenden Betrieb gestreikt wird) behindern, klärt über die Voreingenommenheit der Schiedsrichter auf, die den bürgerlichen Klassen des Volkes angehören usw. usf. Mit einem Wort, jeder Sekretär einer Trade-Union führt „den ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und gegen die Regierung“ ... Das Ideal eines Sozialdemokraten muß nicht der Sekretär einer Trade-Union, sondern der Volkstribun sein, der es versteht, auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der Polizeiwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu benutzen, um vor aller Welt seine sozialistischen Überzeugungen und seine demokratischen Forderungen darzulegen, um allen und jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariats klarzumachen. [17]

 

 

Die Notwendigkeit einer hochzentralisierten Organisation von Berufsrevolutionären

Die von der Sozialdemokratie benötigte organisatorischen Formen entstünden aus der Natur der politischen Aufgaben. Diese neuen Aufgaben der Bewegung forderten zuallererst einen Kampf dagegen, was Lenin kustaritschestwo – eine primitive „handwerklerische Methode der Organisation“ – nannte. Lenin beschrieb den typischen während der Periode 1894–1901 existierenden marxistischen Studienzirkel folgendermaßen:

Ein Studenten Zirkel knüpft Beziehungen zu Arbeitern an und beginnt zu arbeiten, ohne jede Verbindung mit den alten Funktionären der Bewegung, ohne jede Verbindung mit Zirkeln an anderen Orten oder auch nur in anderen Stadtteilen (oder in anderen Lehranstalten), ohne jede Organisation der einzelnen Zweige der revolutionären Arbeit, ohne jeden systematischen Plan für die Arbeit auf längere Zeit. Nach und nach entfaltet der Zirkel eine immer umfassendere Propaganda- und Agitationsarbeit, gewinnt schon allein durch sein Auftreten die Sympathien ziemlich breiter Arbeiterschichten, sowie die Sympathien eines gewissen Teils der gebildeten Gesellschaft, die Gelder Aufbringt und dem „Komitee“ immer neue und neue Gruppen der Jugend zuführt. Die Anziehungskraft des Komitees ... nimmt zu, es wächst das Ausmaß seiner Tätigkeit, und das Komitee erweitert diese Tätigkeit ganz spontan: dieselben Menschen ... knüpfen nun Beziehungen zu anderen Gruppen von Revolutionären an, schaffen Literatur herbei, machen sich daran, eine lokale Zeitung herauszugeben, beginnen von der Veranstaltung einer Demonstration zu reden und gehen schließlich zu offenen Kampfhandlungen über (wobei eine solche offene Kampfhandlung, je nach den Umständen, entweder schon das erste Agitationsflugblatt oder die erste Nummer der Zeitung oder die erste Demonstration sein kann). Und gewöhnlich führt gleich der Beginn dieser Aktion zum sofortigen und vollständigen Auffliegen. Sofort und vollständig, eben weil diese Kampfhandlungen nicht das Resultat eines systematischen, im voraus durchdachten und von langer Hand vorbereiteten Planes für einen langen und hartnäckigen Kampf waren, sondern sich einfach aus dem spontanen Wachstum der traditionell betriebenen Zirkelarbeit ergeben haben ... [18]

Man kann nicht umhin, einen solchen Krieg einem Feldzug mit Knüppeln bewaffneter Bauernhaufen gegen eine moderne Armee gleichzusetzen. Und man kann nur staunen über die Lebensfähigkeit der Bewegung, die sich ausbreitete, wuchs und Siege davon trug, trotz dieses absoluten Mangels an Schulung bei den Kämpfenden. Geschichtlich gesehen war allerdings die Primitivität der Ausrüstung anfänglich nicht nur unvermeidlich, sondern sogar gerechtfertigt, als eine der Bedingungenfür die Gewinnung einer großen Schar von Streitern. Aber sobald ernste Kampfhandlungen einsetzten (und sie setzten eigentlich schon mit den Streiks im Sommer 1896 ein), da machten sich die Mängel unserer militärischen Organisation immer stärker und stärker fühlbar. [19]

Die handwerklerische Natur der Bewegung machte sie für verheerenden Razzien anfällig.

Die Regierung ... paßte sich sehr bald ... den neuen Kampfbedingungen an und verstand es, ihre auf das vollkommenste gerüsteten Trupps von Lockspitzeln, Spionen und Gendarmen an den nötigen Stellen einzustellen. Das Auffliegen von Organisationen wurde so häufig, zog eine so große Menge von Menschen in Mitleidenschaft, fegte die lokalen Zirkel so gründlich hinweg, daß die Arbeitermasse buchstäblich alle Führer verlor, die Bewegung einen unglaublich sprunghaften Charakter annahm und sich absolut keine Kontinuität und kein Zusammenhang in der Arbeit herausbilden konnte. Das unvermeidliche Ergebnis der geschilderten Verhältnisse waren außerordentliche Zersplitterung der örtlichen Funktionäre, zufällige Zusammensetzung der Zirkel, Mangel an Vorbereitung und ein enger Gesichtskreis in theoretischen, politischen und organisatorischen Fragen. Infolge unseres Mangels an Ausdauer und Konspiration ist es so weit gekommen, daß an manchen Orten die Arbeiter von Mißtrauen gegen die Intellektuellen erfaßt werden und sie meiden: die Intellektuellen, sagen sie, verursachen durch ihre Leichtfertigkeit Verhaftungen! [20]

Wirklich harsche Kritik. Lenin verschont niemanden, sich selbst am allerwenigsten.

Kein Praktiker möge mir dieses schroffe Wort übelnehmen, denn soweit es sich um mangelnde Schulung handelt, beziehe ich es vor allem auf mich selber. Ich arbeitete in einem Zirkel, der sich sehr weite, allumfassende Aufgaben stellte, und wir alle, die Mitglieder dieses Zirkels, mußten es schmerzlich, qualvoll empfinden, daß wir uns als Handwerkler erweisen in einem so historischen Moment, wo man, den bekannten Ausspruch variierend, sagen könnte: Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Rußland aus den Angeln heben! Und je öfter ich seitdem an dieses glühende Schamgefühl zurückdenken mußte, das ich damals empfand, um so mehr Bitternis sammelte sich in mir gegen jene Pseudosozialdemokraten, die durch ihre Predigten „den hohen Beruf des Revolutionärs Schande machen“, die nicht verstehen, daß es unsere Aufgabe ist, nicht für die Degradierung des Revolutionärs zum Handwerkler einzutreten, sondern die Handwerkler auf das Niveau von Revolutionären emporzuheben. [21]

Seine positive Schlußfolgerungen lauten, daß „eine stabile und die Kontinuität wahrende Führerorganisation“ gebildet werden sollte;

eine solche Organisation muß hauptsächlich aus Leuten bestehen, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen; je mehr wir die Mitgliedschaft einer solchen Organisation einengen, und zwar so weit, daß sich an der Organisation nur diejenigen Mitglieder beteiligen, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen und in der Kunst des Kampfes gegen die politische Polizei berufsmäßig geschult sind, um so schwieriger wird es in einem autokratischen Land sein, eine solche Organisation „zu schnappen“ ... [22]

Und die Rekrutierung von Berufsrevolutionären für die Bewegung sollte sich nicht auf die Studenten- und Intellektuellenzirkel beschränken.

Ein halbwegs talentierter und „zu Hoffnungen berechtigender“ Agitator aus der Arbeiterklasse darf nicht 11 Stunden in der Fabrik arbeiten. Wir müssen dafür sorgen, daß er aus Mitteln der Partei unterhalten wird, daß er imstande ist, rechtzeitig in die Illegalität zu gehen, daß er den Ort seiner Tätigkeit oft wechselt, denn sonst wird er nicht viel Erfahrungen sammeln, wird seinen Gesichtskreis nicht erweitern, wird nicht imstande sein, sich wenigstens einige Jahre lang im Kampf gegen die Gendarmen zu halten. [23]

Mehrere seiner Gegner im menschewistischen Lager beschuldigten Lenin in späteren Jahren, daß er in Was tun? die Intelligenz über die Arbeiter erhoben habe. Aber das stimmt nicht. Eigentlich greift er die Intelligenz an, da sie „nachlässig und schwerfällig in ihren Gewohnheiten“ seien (Quelle?). Anders als die Arbeiter, die durch das Fabrikleben angewöhnt werden, müßten die Intellektuellen mit eiserner Rute von der Partei diszipliniert werden. Vor allem sei ihre Rolle in der Partei vorübergehend. „Die Rolle der ‚Intelligenz‘ besteht darin, besondere, intellektuelle Führer überflüssig zu machen ...“ [24]

 

 

Die Iskra als Werkzeug der Organisation

Ab dem Moment, wo die Veröffentlichung der Iskra angefangen wurde, machte Lenin deutlich, daß die Zeitung als Waffe zur zum Aufbau einer zentralisierten allrussischen Organisation dienen. In einem Artikel mit dem Titel „Womit beginnen“ (Iskra, Nr.4) schrieb er:

Die Rolle der Zeitung beschränkt sich jedoch nicht allein auf die Verbreitung von Ideen, nicht allein auf die politische Erziehung und die Gewinnung politischer Bundesgenossen. Die Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator. Was das letztere betrifft, kann sie mit einem Gerüst verglichen werden, das um ein im Bau befindliches Gebäude errichtet wird; es zeigt die Umrisse des Gebäudes an, erleichtert den Verkehr zwischen den einzelnen Bauarbeitern, hilft ihnen, die Arbeit zu verteilen und die durch die organisierte Arbeit erzielten gemeinsamen Resultate zu überblicken. Mit der Hilfe der Zeitung und in Verbindung mit ihr wird sich ganz von selbst eine beständige Organisation herausbilden, die sich nicht nur mit örtlicher, sondern auch mit regelmäßiger allgemeiner Arbeit befaßt, die ihre Mitglieder daran gewöhnt, die politischen Ereignisse aufmerksam zu verfolgen, deren Bedeutung und Einfluß auf die verschiedenen Bevölkerungsschichten richtig zu bewerten und zweckmäßige Methoden herauszuarbeiten, durch die die revolutionäre Partei auf diese Ereignisse einwirken kann. Schon allein die technische Aufgabe – die regelmäßige Versorgung der Zeitung mit Material und ihre regelmäßige Verbreitung – zwingt dazu, ein Netz von örtlichen Vertrauensleuten der einheitlichen Partei zu schaffen, von Vertrauensleuten, die lebhafte Beziehungen zueinander unterhalten, die mit der allgemeinen Lage der Dinge vertraut sind, die sich daran gewöhnen, die Teilfunktionen der gesamtrussischen Arbeit regelmäßig auszuführen, die ihre Kräfte an der Organisierung dieser oder jener revolutionären Aktion erproben. Dieses Netz von Vertrauensleuten wird das Gerippe gerade einer solchen Organisation bilden, wie wir sie brauchen: genügend groß, um das ganze Land zu erfassen; genügend breit und vielseitig, um eine strenge und detaillierte Arbeitsteilung durchzuführen; genügend standhaft, um unter allen Umständen, bei allen „Wendungen“ und Überraschungen ihre eigene Arbeit unbeirrt zu leisten; genügend elastisch, um zu verstehen, einerseits einer offenen Feldschlacht gegen einen an Kraft überlegenen Feind auszuweichen, wenn er alle seine Kräfte an einem Punkt gesammelt hat, und anderseits die Schwerfälligkeit dieses Feindes auszunutzen und ihn dann und dort anzugreifen, wo der Angriff am wenigsten erwartet wird. [25]

 

 

Die Zeitung als Organisator der Führer eines zukünftigen bewaffneten Aufstands

Lenins schöpferische Phantasie hörte nicht mit der Vorstellung der Zeitung als Organisator einer Partei von Agitatoren. In Was tun? erklärte er, daß das Netz der Agenten der Zeitung zur Basis für die Organisierung eines zukünftigen bewaffneten Aufstands gegen den Zarismus werden sollte.

Die Organisation, die sich um diese Zeitung gruppiert ..., wird zu allem bereit sein, angefangen damit, daß sie die Ehre, das Ansehen und die Kontinuität der Partei in der Zeit der größten revolutionären „Depression“ rettet, bis zu dem Moment, da sie den allgemeinen bewaffneten Volksaufstand vorbereitet, ansetzt und durchführt ... Man stelle sich ... einen Volksaufstand vor. In der heutigen Zeit werden wohl alle zugeben, daß wir an ihn denken und uns auf ihn vorbereiten müssen. Aber wie vorbereiten? ... Das Netz von Agenten ..., das sich bei der Arbeit für die Schaffung und Verbreitung der gemeinsamen Zeitung von selbst bildet, brauchte nicht „zu sitzen und zu warten“, bis die Losung zum Aufstand ausgegeben wird, sondern es würde gerade eine solche regelmäßige Arbeit leisten, die ihm im Moment des Aufstands mit größter Wahrscheinlichkeit den Erfolg sichert. Gerade eine solche Arbeit würde unbedingt die Verbindung mit den breitesten Schichten der Arbeiter und mit allen Schichten, die mit der Selbstherrschaft unzufrieden sind, festigen, was für den Aufstand von großer Wichtigkeit ist. Gerade in einer solchen Arbeit würde sich die Fähigkeit herausbilden, die allgemeine politische Lage richtig einzuschätzen, und folglich auch die Fähigkeit, den für den Aufstand passenden Moment zu wählen. Gerade eine solche Arbeit würde alle lokalen Organisationen daran gewöhnen, gleichzeitig auf dieselben, ganz Rußland bewegenden politischen Fragen, Vorkommnisse und Vorfälle zu reagieren, auf diese „Vorfälle“ möglichst energisch, möglichst einheitlich und zweckmäßig zu antworten – denn der Aufstand ist doch im Grunde genommen die energischste, die einheitlichste und zweckmäßigste „Antwort“ des gesamten Volkes an die Regierung. Gerade eine solche Arbeit würde endlich alle revolutionären Organisationen an allen Ecken und Enden Rußlands dazu anhalten, ständige und gleichzeitig streng konspirative Verbindungen zu unterhalten, die die faktische Einheit der Partei schaffen – ohne diese Verbindungen aber ist es unmöglich, den Plan des Aufstands kollektiv zu beraten und am Vorabend des Aufstands die notwendigen Vorbereitungsmaßnahmen zu treffen, über die das strengste Geheimnis gewahrt werden muß. [26]

„Wir brauchen ...“, sagte er, „ eine militärische Organisation von Agenten.“ [27] 1905 lag nicht weit in der fernen Zukunft!

 

 

Die Struktur der Partei

Das organisatorische Schema, das Lenin in Was tun? befürwortet hatte, wurde weiter mit größerer Klarheit in einem Dokument ausgearbeitet, das er einige Monate später schrieb. Dieses hieß Brief an eine Genossen über unsere organisatorischen Aufgaben, der breit verteilt und dann 1904 als Broschüre gedruckt wurde.

Die Partei sollte zwei führende Zentren haben: ein ZO (Zentralorgan) und ein ZK (Zentralkomitee). Ersteres solte für ideologische Führung verantwortlich sein, und letzteres für die unmittelbare und praktische Führung. Ersteres sollte außerhalb der Reichweite der russischen Gendarmen gestellt und seine Konsequenz und Stabilität gesichert werden, und daher soolte es im Ausland sein.

Unter dem Niveau des Zentralkomitees sollte die Organisation aus zwei Arten von Gruppen bestehen: den lokalen und den funktionellen (industriellen). Dem lokalen Komitee „müssen politisch vollauf bewußte Sozialdemokraten angehören, die sich ganz der sozialdemokratischen Tätigkeit widmen.“ Es sollte nicht groß sein.

Die Zahl der Mitglieder soll möglichst nicht sehr groß sein ..., doch muß sie genügen, um alle Arbeitsbereiche zu erfassen und gründliche Besprechungen sowie feste Beschlüsse zu gewährleisten. Sollte sich erweisen, daß die Komiteemitglieder ziemlich zahlreich sind und es für sie daher gefährlich ist, häufig zusammenzukommen, so sollte man vielleicht aus dem Komitee eine besondere, sehr kleine (sagen wir fünf Personen oder noch weniger) leitende Gruppe aussondern, der unbedingt der Sekretär und die Mitglieder, die sich für die praktische Leitung der gesamten Arbeit am besten eignen, angehören müssen. [28]

Die folgenden Einrichtungen müßten den lokalen Komitees unterstehen:

1. Diskussion (Beratungen der „besten“ Revolutionäre), 2. bezirksweise organisierte Zirkel mit 3. jedem von ihnen angegliederten Propagandistenzirkeln, 4. Betriebszirkel und 5. „Vertreterzusammenkünfte“ von Delegierten der Betriebszirkel des betreffenden Bezirks. Ich bin ganz wie Sie der Meinung, daß alle weiteren Einrichtungen (und es muß außer den von Ihnen genannten noch sehr viele und sehr verschiedenartige geben) dem Komitee untergeordnet sein müssen und daß es Bezirksgruppen (für sehr große Städte) und Betriebsgruppen (stets und überall) geben muß. [29]

In Großstädten brauchte man Bezirzksgruppen, die als „Mittler“ zwischen den lokalen Komitees und den Betriebskomitees dienen sollten.

Jetzt zu den Betriebszirkeln. Sie sind für uns besonders wichtig, liegt doch die ganze Hauptkraft der Bewegung darin, daß die Arbeiter der großen Betriebe organisiert sind, denn die großen Betriebe (und Fabriken) umfassen nicht nur zahlenmäßig, sondern noch viel mehr dem Einfluß, der Entwicklung, der Kampffähigkeit nach den ausschlaggebenden Teil der gesamten Arbeiterklasse. Jeder Betrieb muß unsere Festung sein ...

Sobald ein Betriebsunterkomitee gebildet ist, muß es zur Gründung einer ganzen Reihe von Betriebsgruppen und -zirkeln mit verschiedenen Aufgaben, unterschiedlich strenger Konspiration und mehr oder weniger festgefügter Form schreiten; beispielsweise Zirkel zum Austragen und zur Verbreitung von Literatur (eine der wichtigsten Funktionen, die so geregelt werden muß, daß wir unsere eigene richtiggehende Post haben, daß nicht nur die Methoden der Verbreitung, sondern auch das Austragen in die Wohnungen erprobt und geprüft ist, daß man unbedingt alle Wohnungen und die Wege zu ihnen kennt), Zirkel zum Lesen illegaler Literatur, Zirkel zur Beobachtung von Spitzeln, Zirkel eigens zur Leitung der Gewerkschaftsbewegung und des wirtschaftlichen Kampfes, Zirkel von Agitatoren und Propagandisten, die es verstehen, Gespräche anzuknüpfen und sie völlig legal zu führen (über Maschinen, über die Inspektion usw.) ...

Die Betriebsorganisation sollte als Kern eine kleine Gruppe von Revolutionären unter der Kontrolle des lokalen Komitees haben. „Alle Mitglieder des Betriebskomitees müssen sich als Agenten des Komitees betrachten; sie sind verpflichtet, alle ‚Gesetze und Bräuche‘ der ‚kämpfenden Armee‘ zu beachten, in die sie eingetreten sind und die sie zur Kriegszeit ohne Erlaubnis der vorgesetzten Stelle zu verlassen kein recht haben.“ [30]

Lenins Parteistruktur zielte sich darauf die größtmögliche Arbeitsteilung, eine wirkliche interventionistische, zentralistische Führung und die möglichst breite Verteilung der Verantwortung und der Initiative unter der ganzen Mitgliedschaft zu erreichen. Der zentrale Grundsatz der Parteitätigkeit wurde folgendermaßen beschrieben:

Wenn hinsichtlich der ideologischen und der praktischen Leitung der Bewegung und des revolutionären Kampfes des Proletariats eine möglichst große Zentralisation erforderlich ist, so ist hinsichtlich der Information der zentralen Parteistelle (und folglich auch der Gesamtpartei überhaupt) über die Bewegung, hinsichtlich der Verantwortlichkeit vor der Partei möglichst große Dezentralisation erforderlich. Die Bewegung leiten muß eine möglichst kleine Anzahl möglichst gleichartiger Gruppen erfahrener und erprobter Berufsrevolutionäre. An der Bewegung teilnehmen muß eine möglichst große Anzahl möglichst verschiedenartiger und mannigfaltiger Gruppen aus den verschiedensten Schichten des Proletariats (und anderer Volksklassen) ... Wir müssen die Leitung der Bewegung zentralisieren. Wir müssen auch ... die Verantwortlichkeit jedes einzelnen Parteimitglieds, jedes Mitarbeiters, jedes der Partei angehörenden oder sich an sie anlehnenden Zirkels der Partei gegenüber möglichst stark dezentralisieren. Diese Dezentralisation ist die notwendige Voraussetzung der revolutionären Zentralisation und deren unerläßliche Korrektiv. [31]

 

 

Lenins Widerwille gegen bürokratischen Kram und unnötige Regeln

Über Regeln hatte Lenin folgendes zu sagen:

... es bedarf keines Statuts, sondern der Einrichtung einer, wenn man so sagen darf, innerparteilichen Berichterstattung. Jede örtliche Organisation verschwendet jetzt mindestens einige Abende auf das Statut. Wenn statt dessen jeder diese Zeit ausnützen würde, um der Gesamtpartei einen ausführlichen und wohlüberlegten Bericht über seine besondere Funktion zu erstatten, so würde die Sache hundertfach gewinnen.

Und nicht nur deshalb sind Statuten nutzlos, weil die revolutionäre Arbeit nicht immer eine feste Form zuläßt. Nein, eine feste Form ist notwendig, und wir müssen uns bemühen, der gesamten Arbeit nach Möglichkeit eine feste Form zu geben. Und eine feste Form ist in bedeutend größerem Umfang zulässig, als man gemeinhin annimmt, aber ist nicht durch Statuten zu erreichen, sondern nur und ausschließlich (wir wiederholen das immer und immer wieder) durch genaue Unterrichtung der zentralen Parteistelle: erst dann wird sich eine reale feste Form herausbilden, die mit realer Verantwortlichkeit und (Partei-)Öffentlichkeit verbunden ist. [32]

... es wird dem Leser nun, hoffe ich, klargeworden sein, daß man im Grunde wohl auch ohne Statut auskommen kann, wenn man es durch regelmäßige Berichterstattung über jeden Zirkel, über jeden Arbeitsbereich ersetzt. [33]

Und eigentlich, als Lenin Erne Juni oder Anfang Juli 1904 einen Statut für die SDAPR entwarf, waren die Regeln äußerst einfach und nur sehr wenige. Und sie waren völlig im Geiste von Was tun? und Brief an einen Genossen. [34]

Lenin spricht mit Belustigung von Martows Statut: „mit einer Unmenge inhaltloser Worte und bürokratischer (d.h. für die Sache unnötiger, aber für die Fassade angeblich nötiger) Formeln“ [35] überschwemmt. Dieser Statut – 48 Paragraphen im Vergleich mit Lenins 12 – „ist eben Hypertrophie der Phrase oder wahrer bürokratischer Formalismus, die sich in der Erfindung von überflüssigen, notorisch nutzlosen oder die Dinge verschleppenden Punkten und Paragraphen äußern.“ [36]

In der Praxis war Lenins Fraktion lange Zeit wirklich sehr informell. Er fing an, seine Organisation durch die Agenten des Iskra aufzubauen. Als nach dem Zweiten Parteitag er, wie wir sehen werden, die Unterstützung des eigenen Zentralkomitees verlor, organisierte er seine Anhänger neu um eine neu einberufene Konferenz, die ein russisches Büro wählte. Als 1909 er von Bogdanow spaltete, entfernte er Bogdanow bei einem erweiterten Plenum der Redaktion der Zeitschrift Proletari, obwohl Bogdanow in die bolschewistische Zentrale vom 1907er Parteitag gewählt worden war.

Eine überformelle Parteistruktur kollidiert mit zwei grundsätzlichen Merkmalen der Revolutionären Bewegung: (1) der Ungleichmäßigkeit im Bewußtsein, Militanz und Hingabe der verschiedenen Teile der revolutionären Organisation; und (2) der Tatsache, daß Mitglieder, die bei einer Etappe des Kampfes eine positive Rolle im Vorhut spielen, bei einer anderen Etappe zurückbleiben.

 

 

„Held“ und „Menge“

Eine der Hauptinterpretationen von Was tun? sowohl seitens der späteren menschewistischen Gegner Lenins als auch seitens seiner Epigonen, der Stalinisten, lautet, daß es die Betonung auf „Helden“ zum Nachteil der Menge legte.

Diese Interpretation ist völlig ungerechtfertigt. In Wirklichkeit war während seines ganzen Lebens nichts der Leninschen Denkweise fremder als eine Unterscheidung zwischen dem „Helden“ und der „Menge“. Auch wenn der Held die Menge liebt, kann er nichts anderes machen, als auf sie herabzusehen. Die Gestaltung einer trägen Masse hängt völlig von ihm ab. Lenin schaute sich nie im Spiegel der Geschichte an. Lunatscharski stellte Lenin Trotzki gegenüber, als er schrieb: „[Trotzki] neigt zweifellos oft dazu, sich selbst zu betrachten. Trotzki schätzt seine historische Rolle hoch und wäre wahrscheinlich zu jedem persönlichen Opfer (das größte von allem, das seines Lebens, nicht ausgenommen) bereit, um, mit der Aureole eines echten revolutionären Führers umgeben, in die Geschichte einzugehen. Sein zeichnet sich durch die gleiceh Eigenart ... aus.“ [37] Dagegen „ist Lenin nicht im mindesten ehrgeizig. Ich glaube nicht, daß Lenin jemals umdreht und sich vor dem Spiegel betrachtet, oder auch nur daran denkt, was die Nachwelt über ihn sagen wird – er arbeitet einfach weiter ...“

Diejenigen, die Lenin kannten, merkten überrascht seine absoluten Mangel an Selbstgefälligkeit. Angelica Balabanowa sagte, sie könne sich nicht daran erinnern, wann sie ihn zum ersten mal im Exil traf, daß „äußerlich er der farbloseste aller revolutionären Führer schien“. Bruce Lockhart, der britische Konsul in Moskau während 1917, dachte, als er Lenin zum ersten Mal nach der Oktoberrevolution sah, „auf dem ersten Blick sah er eher wie einen Lebensmittelhändler aus der Provinz aus als einen Führer der Menschen“. [38] Und Clara Zetkin erzählt von seinem Empfang einer Delegation von deutschen Kommunisten. Gewöhnt an den Marxisten des Reichstags mit ihren Gehröcken und ihrer offiziellen Selbstgefälligkeit, hatten diese Deutschen etwas anders erwartet. Lenin kam für seinen Termin pünktlich an, betrat das Zimmer so unauffällig und sprach sie so natürlich an, daß es keinem von ihnen einfiel, daß sie Lenin trafen.

Ein alter Bolschewik berichtete in seinen 1924 veröffentlichten Erinnerungen: „Der Eindruck, den er auf mich machte, und wahrscheinlich nicht allein auf mich, war am Anfang ganz zweideutig. Sein bescheidenes, auf dem ersten Blick einfaches, Ansehen beeindruckte uns nicht sehr viel.“ [39]

Maxim Gorki beschreibt seine ersten Eindruck von Lenin so: „Ich hatte nicht erwartet, daß Lenin so sein würde. Für mich fehlte etwas. Er rollte sei ‚R‘ und stand die Arme in die Seite gestemmt, irgendwie steckte er seine Fäuste in die Achselhöhlen. In einer weise war er zu normal. Er gab nicht den Eindruck eines ‚Führers‘.“ [40]

Persönlich war er bescheiden. Man findet, daß er ein Fragebogen der Partei mit dem Datum 13. Februar 1922 ausfüllte, wie folgt: „Umgangssprache: russisch Welche Sprachen sprechen Sie außerdem frei: Frei keine einzige.“ [41] In Wirklichkeit konnte er Deutsch, Französisch und Englisch fließend lesen und sprechen, und konnte auch Italienisch lesen. Wenn es irgendwelche Zweifel darüber gäbe, würde seine Teilnahme an den Sitzungen und Komitees der Komintern Beweis genug sein.

Vor allem versuchte er nie, sich im widerspiegelten Ruhm des Märtyrertods seines Bruders, Alexander, nach seiner Hinrichtung 1887 durch die zaristische Autokratie zu sonnen. In allen fünfundfünfzig Bänden der fünften, letzten und vollständigsten Ausgabe seiner Werke wird Alexander Name nur nebenbei und nur dreimal erwähnt: in einer rein faktischen Äußerung, in der Lenin einen Fragebogen antwortete; in einem 1921 geschriebenen Brief, worin er einen bestimmten Tschebotarow empfahl: „Ich kenne Tscheboratow seit den 1880er Jahren in Verbindung mit dem Falle meines älteren Bruders, Alexander Illitsch Uljanow, hingerichtet 1887. Tscheboratow ist zweifelsohne ein ehrlicher Mann“; und in einem Artikel, worin der Name von Alexander Uljanow unter anderen hingerichteten für denselben Komplott erwähnt wurde.

 

 

Die aufsteigende revolutionäre Bewegung

Der „Ökonomismus“, den Lenin in Was tun? so heftig angriff, war schon im Rückgang und fast vorbei, bis die Broschüre ans Tageslicht kam. Einige Jahre später konnte Lenin erklären, daß zwischen 1898 und 1900 die „ökonomistischen“ Anhänger von Rabotscheje Delo stärker gewesen seien als die Anhänger von Iskra sowohl im Ausland als auch in Rußland. [42] Aber danach gingen die „Ökonomisten“ rasch zurück. Die Periode des industriellen Wohlstands in Rußland kam 1898-99 zu Ende und die Streikbewegung schwächte langsam ab; die Anzahl der Arbeiter, die sich 1901 an Streiks beteiligten, war nur ein Drittel der 1899er Anzahl. Der Charakter der Streiks änderte sich auch: sie wurden verzweifelter. Die Arbeitslosigkeit stieg und es gab mehrere Aufruhre, die von der Polizei und der Armee unterdrückt wurden. Die revolutionäre Agitation stieg auf und eine Reihe von organisierten Straßendemonstrationen fand statt.

Die Jahre 1900–03, während deren Lenin sehr damit beschäftigt war, die Iskra aufzubauen, ein landesweites netz von Agenten, von Berufsrevolutionären als Rückgrat einer künftigen Partei zu schaffen, waren auch Jahre eines massiven Aufstiegs der revolutionäre Gefühle in Rußland.

Wie Früher und seitdem geschehen, ging die Studentenbewegung der Massenbewegung der Arbeiterklasse voran. Wenn die Krise in der Gesellschaft tief ist, aber die Arbeiterklasse noch nicht bereit ist, die Aufgabe aufzunehmen, sie zu überwinden, ist es oft der Fall, daß die Studenten nach vorne rücken. 1899 entstand eine stürmische Studentenbewegung. Verschiedene studentische Organisationen wurden gebildet und Konflikte wurden immer häufiger. Die studentischen Proteste gegen polizeiliche Unterdrückung nahmen einen Massencharakter an.

Februar 1899 verursachten die brutalen von der Petersburger Polizei gegen die Studenten angewandten Methoden einen Generalstreik der Universitätsstudenten [Hochschulstudenten] im gesamten Land. Etwa fünf Tausend Studenten nahmen daran teil. Einige Monate später fand eine kleine studentische Demonstration in Kiew statt, die durch die Verbannung einiger Kommilitonen, die bei einer Studentenversammlung gesprochen hatten, verursacht wurde. Als Ergebnis wurden 183 Studenten verhaftet und in die Armee einberufen. Das Verfahren in Petersburg war ähnlich und 30 Studenten wurden als Strafe zur Militärdienst einberufen.

Die gesamte Studentenschaft wurde sehr beunruhigt. Versammlungen fanden in jeder Universität statt und Flugblätter wurden verteilt, die zu einem vereinigten Protest aufriefen. Am 4. März, als ein Zug von Studenten durch die Straßen von Charkow von der Polizei auseinandergetrieben wurde, schloß sich eine Masse von Arbeitern den Studenten an und den ganzen Tag lang gab es Zusammenstöße mit der Polizei auf den Straßen.. Einige Tage später, als Hunderte von Moskauer Studenten verhaftet und im Marstall gefangengehalten wurden, versammelten riesige Gruppen von Arbeitern und Kleinbürgern vor dem Gebäude und drückten ihre Sympathie mit den Studenten aus. [43]

Solche Massenaktivität bedeutete, daß die soziale Krise sich vertiefte, aber die werktätigen Massen kamen erst langsam in Gang. Das Jahr 1900 ging relativ friedlich für die Arbeiterklasse vorbei. Aber es gab einen Generalstreik in Charkow am 1. Mai, der durch die intensive Agitation der örtlichen sozialdemokratischen Komitees verursacht wurde. In diesem Streik wurden politische Forderungen erhoben, die in einem Sinne den Streik zu einem Wendepunkt in der Entwicklung der russischen Arbeiterbewegung machten. [44]

Die Bewegung wuchs rasch danach. Ab 1901 fingen Arbeiter in Charkow, Moskau, Tomsk und anderen Städten auch damit an, sich an studentischen Demonstrationen zu beteiligen und verliehen ihnen einen viel kämpferischeren energischen Charakter. Blutige Zusammenstöße mit Polizei und Truppen wurden immer häufiger. Ein Versuch, den Streik am 1. Mai 1901 bei der Obuchow-Munitionsfabrik im Wiborger Viertel von St. Petersburg niederzuschlagen, verwandelte sich in eine militärische Belagerung der Fabrik und als Ergebnis davon wurden bis zu 800 Arbeiter verhaftet: (Viele von ihnen wurden vom einem Militärgericht zu Zwangsarbeit verurteilt.)

Im Winter 1901-02 fand ein Streik von über 30.000 Studenten statt. Am 19. Februar 1901, dem 40. Jahrestag der Befreiung der Bauern, schoß sich einer von Studenten organisierten Massendemonstration eine große Menge Arbeiter an. Noch beeindruckender waren die Demonstrationen in Moskau am 23.-26. Februar. Da traten Zehntausende von Arbeitern in den Ausstand und mehrere Male trieben sie Kosaken zurück, die sie mit Peitschen angegriffen hatten. Zum ersten Mal erlebte Moskau Barrikaden in den Straßen. Danach in Mai und wieder in Mai fanden Massendemonstrationen in Petersburg statt, die in einer Schlacht [einem Kampf] zwischen den Arbeitern des Obuchow-Werks und der Polizei ihren Höhepunkt erreichten: sechs Arbeiter wurden getötet und 80 verletzt [verwundet]. Ähnliche Arbeiteraufruhre fanden in Tiflis in April und in Ekaterinoslaw in Dezember statt.

Im November 1902 fand ein Eisenbahnstreik in Rostow an der Don statt. Dieser wandelte sich in einen Generälen Solidaritätsstreik aller Betriebe der Stadt um. Während der Streiks fanden Massenversammlungen von Zehntausenden Arbeitern statt, bei vielen von ihnen redeten sozialdemokratischen Redner. Im Juli 1903 brach eine neue Welle von Streiks aus, dieses Mal wurden sie nicht auf einzelne Städte beschränkt. Sie breiteten sich über die gesamte Ukraine und Transkaukasien aus. Politische Streiks brachen in Baku, Tiflis, Odessa, Nikolajew,Kiew, Elisawetgrad, Ekaterinograd und Kertsch aus. Insgesamt nahmen etwa 250.000 Arbeiter daran teil. Diese Streiks wurden von revolutionären Demonstrationen begleitet, die von der Polizei und der Armee brutal unterdrückt wurden.

Während der Jahre 1901-01 wurden Arbeiter zu den aktiven politischen Hauptgegnern des Zarismus. Das zeigen deutlich die verfügbaren Daten über die Berufe der Personen in der Befreiungsbewegung, die wegen Staatsverbrechen vor Gericht gestellt wurden. [45] Für je 100 solche Personen gab es:

Epochen

Adlige

Bauern

Arbeiter

Intellektuelle

1827-1846

76

?

?

?

1884-1890

30,6

7,1

15,1

73,2

1901-1903

10,7

9,0

46,1

36,7

1905-1908

9,1

24,2

47,4

28,4

Obwohl städtische Arbeiter eine Minderheit der Bevölkerung bildeten, lieferten sie fast die Hälfte der Teilnehmer. Die Intelligenz und die Studenten waren schon an zweiter Stelle. [46] So untergrub der Verlauf der Ereignisse – zusammen mit den Aktivitäten der Iskristen – den Boden unter den Füßen des – den Boden unter den Füßen des „Ökonomismus“. So sagte Lenin später, „daß der Kampf gegen den ‚Ökonomismus‘ abebbt und bereits 1902 vollkommen aufhört.“ [47]

 

 

Fußnote

1*. W. Bontsch-Brujewitsch war eine führende Autorität über das Thema der Sektiererbewegungen in Rußland und hatte mehrere Bände seiner Untersuchungen veröffentlicht. Er war ein enger Mitarbeiter Leninsund blieb durchgehend im bolschewistischen Lager. Während der 1905er Revolution und danach war er aktiv an der Organisierung der bolschewistischen Presse im Untergrund beteiligt.

 

Anmerkungen

1. Lenin, Werke, Bd.5, S.357-8.

2. ebenda, S.385-6.

3. ebenda, S.396.

4. ebenda, S.397.

5. ebenda, S.396.

6. ebenda, S.436.

7. Gramsci, a.a.O., S.197.

8. Lenin, Werke, Bd.4, S.311.

9. ebenda.

10. ebenda, S.312.

11. Marx an Friedrich Bolte, in Marx u. Engels, Werke, Bd.33, S.332-3.

12. Lenin, Werke, Bd.5, S.415.

13. ebenda, S.426.

14. ebenda, S.427.

15. ebenda, Bd.6, S.474.

16. s. Trotzki, Mein Leben, Frankfurt/M. 1974, S.100-2.

17. Lenin, Werke, Bd.5, S.437.

18. ebenda, S.456-7.

19. ebenda, S.458.

20. ebenda.

21. ebenda, S.483-4.

22. ebenda, S.480-1.

23. ebenda, S.490.

24. ebenda, Bd.1, S.302.

25. ebenda, Bd.5, S.11-2.

26. ebenda, S.535-7.

27. ebenda, S.536.

28. ebenda, Bd.6, S.229-30.

29. ebenda, S.230.

30. ebenda, S.235-7.

31. ebenda, S.240-1.

32. ebenda, S.243-4.

33. ebenda, S.243.

34. ebenda, S.475-7.

35. ebenda, Bd.7, S.240.

36. ebenda, S.242.

37. Lunatscharski, a.a.O., S.58.

38. B. Lockhart, Memoirs of a British Agent, London 1932, S.233-4.

39. M.A. Silwin, „Zur Biographie von W.I. Lenin“, Proletarskaja revolutsija, Nr.7, 1924, S.68.

40. Gorky, a.a.O., S.13.

41. Lenin, Werke, Ergänzungsbd. 1917-1923, S.481.

42. ebenda, Bd.16, S.255.

43. J. Martow, Geschichte der russischen Sozialdemokratie, Berlin 1926, S.49-50. (aus dem Englischen übersetzt)

44. ebenda, S.60.

45. Lenin, Werke, Bd.19, S.319-20.

46. Lenin, Werke, Bd.19, S.320.

47. Lenin, Werke, Bd.7, S.388.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.6.2001