Tony Cliff

 

Lenin 1

 

7. Die Revolution von 1905

 

Der Aufstieg der polizeilichen Gewerkschaften

In Kapitel 4 beschrieben wir den stürmischen Aufstieg der Arbeiterbewegung in den Jahren 1900–03. Der Zarismus reagierte darauf in seiner gewohnten Weise, durch schwere Repression. Aber er versuchte auch eine neue Methode, den revolutionären Dampf abzuleiten.

In 1901 behauptete ein Polizeibericht über den Zustand der Arbeit:

Agitatoren, die versuchen, ihre ziele neuzuschreiben, haben leider etwas Erfolg dabei erreicht, die Arbeiter zu organisieren, um gegen die Regierung zu kämpfen. innerhalb der letzten drei oder vier Jahre ist der gelassene russische jugendliche zu einer besonderen Art halbgebildeten intelligent verwandelt worden, der dazu verpflichtet fühlt, die Religion und die Familie zu verabscheuen, das Gesetz juhezu ignorieren und den verfassungmäßigen Behörden zu verspotten. glücklicherweise sind solche Jugendlichen nicht in der Fabrik zahlreich, aber diese unbedeutende Handvoll terrorisiert die untätige Mehrheit der Arbeiter dazu, ihr zu folgen. [1]

Obwohl dieser Bericht die wirkliche Situation verdreht, deutete er auf eine wirkliche Änderung in der Arbeiterklasse an: Eine Anzahl von Arbeitern hatten damit angefangen, revolutionären Gruppen beizutreten.

Gerade um diese Entwicklung umzufassen und abzulenken, initiierte die Geheimpolizei eine neue Art der polizeiliche Gewerkschaftsorganisation: den Subatowismus. (Subatow war der Präsident der Moskauer Gendarmerie.) Wie vorgestellt, sollten Arbeitervereine mit polizeilicher Genehmigung gebildet werden, um Gelegenheiten für genossenschaftliche Selbsthilfe für Arbeiter und Schutz gegen den Einfluß der Revolutionäre zu liefern. Solche Gruppen wurden in Moskau, Odessa, Kiew, Nikolajew und Charkow organisiert.

Aber die Pläne der Polizei liefen nicht, wie erwartet. Die Arbeiter benutzten die legalen Subatowschen Organisationen, um Streiks zu organisieren und ihre Forderungen Ausdruck zu verleihen. In der Tat, wie der bolschewistische Historiker M.N. Pokrowski erzählte, unterschied sich das Ergebnis des Subatowismus völlig von Subatows Erwartungen:

gerade weil diese Arbeiter politisch so unentwickelt waren, war der Subatowismus ein Riesenschritt in Richtung der Entwicklung ihres Klassenbewußtseins und half ihnen dazu, den Klassengegensätze zwischen Arbeiter und Unternehmer zu verstehen. Das ganze Unternehmen Amte bloß die Agitation der Sozialdemokraten nach. In ihrer ungeschickten Nachahmung der revolutionären Agitatoren gingen Subatows Agenten so weit, daß sie versprachen, daß die Regierung bald die Fabriken von den Unternehmern konfiszieren lassen und den Arbeitern übergeben würden. Die Regierung, sagten sie, sei bereit, alles für die Arbeiter zu machen, wenn sie damit aufhörten, die „kleine Intelligenz“ zuzuhören. In einigen Streiks hat die Polizei tatsächlich die Streikenden unterstützt, ihnen Hilfsgelder bezahlt usw. [2]

Ein von den Subatowschen Gewerkschaften Juli 1902 in Odessa geführte Streik bezog gegen die Erwartungen der Initiatoren die gesamte Stadt hinein und nahm einen deutlich politischen Charakter an. Politische Massenstreiks während des Jahres 1903 breiteten sich durch fast den ganzen Südteil Rußlands (Kiew, Ekaterinoslaw, Mikolajew, Elisawetgrad und andere Städte) aus. Das Ergebnis davon war, daß die zaristische Regierung sich gegen den Subatowismus wandte. all die Gesellschaften, mit Ausnahme derjenigen in St. Petersburg und Moskau) wurden bis ende 1903 aufgelöst und Subatow wurde ins Exil geschickt. Aber der Zarismus schwankte weiter und innerhalb weniger Wochen wurde der „polizeiliche Sozialismus“ wieder als Waffe gegen die revolutionären Bewegungen eingeführt.

Die polizeiliche Gewerkschaft in St. Petersburg hieß dei „Versammlung der russischen Fabrik- und Werkstattarbeiter“. Sie hatte Ortsgruppen in allen Vierteln der Hauptstadt und organisierte gegenseitige Hilfe sowie kulturelle, pädagogische und religiöse Aktivitäten. sie wurde von Pfarrer Gapon geführt, einem Gefängniskaplan Schützling Subatows.

Die Gapon-Bewegung begann als ein äußerst „treues“ Unterfangen, unschuldig der kleinsten Versuche, dem Kampf zwischen Arbeit und Kapital beizutreten. Ihr bescheidenes Ziel bestand darin, Arbeitern eine Chance zu geben, sich zu sammeln und ihre Freizeit nüchtern bei erbaulichen Betätigungen zu verbringen. Während er frühen Periode, wie Gapon später schrieb, „begann und endete“ jedes Treffen im ersten Teestube-Lesesaal „mit einem Gebet“. Bei der offiziellen Eröffnung der Versammlung am 11. April 1904, nachdem sie ihr Statut bekommen hatte, wurde ein Gottesdienst gefeiert, „Gott schütze den Zaren“ wurde dreimal gesungen und die Versammlung schickte ein Telegramm an den Innenminister geschickt „mit der respektvollen Bitte, an die Füße Seiner Kaiserlichen Majestät, des verehrten Monarchen die ergebensten Gefühle der Arbeiter zu legen, inspiriert von der eifrigen Liebe für den Thron und das Vaterland“. [3]

 

Blutsonntag

Ende Dezember 1904 beunruhigte ökonomische Unruhen das riesige Putilow-Maschinenbauwerk in Petersburg, das 12.000 Arbeiter beschäftigte. Die unmittelbare Ursache war klein: Vier Arbeiter waren wegen der Mitgliedschaft von der Gaponschen Organisation entlassen. Am Montag, dem 3. Januar 1905 entwickelten sie zu einem Streik um die Wiedereinstellung der vier Arbeiter. Dies war der bescheidene Anfang, der unerbittlich zur Revolution führte.

Die Erfahrung der russischen Revolution, wie die Erfahrung anderer Länder, beweist ohne jeden Zweifel, daß da, wo die objektiven Bedingungen für eine tiefgehende politische Krise bestehen, der winzigste Konflikt, anscheinend weit entfernt vom wirklichen Geburtsort der Revolution, als funke funktionieren kann, um einen Aufschwung [ein Aufwallen] der Gefühle der Öffentlichkeit zu entzünden. [4]

Gerade zur Versammlung der Russischen Fabrik- und Werkstattsarbeiter wandten sich die Arbeiter des Putiolw-Werks nach Hilfe, um die Wiedereinstellung der Entlassenen Arbeiter zu erreichen. Die Führung der Versammlung hätte als Glaubwürdigkeit verloren, wenn sie nicht zur Hilfe ihrer vier entlassenen Mitglieder gekommen wäre. Sie konnte nichts anders als es zu dulden, als die Putilow-Arbeiter sich nach Hilfe an die Arbeiter anderer Betriebe wandten. Entsprechend hielten alle Gruppen der Versammlung überall in Petersburg Massenversammlungen. Diese reizten die Leidenschaften der Arbeiter und wandten sich rasch vom einzelnen Vorfall beim Putilow-Werk den allgemeinen Fragen, die vor den russischen Arbeitern standen – den äußerst harschen materiellen Bedingungen und der absoluten Mangel an Rechten.

Unter dem Einfluß der von diesen Massenversammlungen erzeugten Euphorie schlug Gapon vor, daß man der ursprünglichen Forderung nach Wiedereinstellung der vier entlassenen Arbeiter und Beseitigung des Vorarbeiters eine Liste von anderen Forderungen hinzufügen sollte, die lange in der Versammlung diskutiert worden waren, obwohl die Arbeiter nie früher die Mut hatten, sie vorzustellen: einen Achtstundentag, eine Steigerung [Erhöhung] des Mindesttageslohns von 60 Kopeken auf einen Rubel für Männer und von 40 Kopeken auf 75 Kopeken für Frauen, die Verbesserung der sanitären Anlagen und die Gewährung der kostenlosen medizinischen Hilfe. Bei dieser Etappe der Bewegung hatte Gapon dabei Erfolg, die Arbeiter dazu zu beeinflussen, ihren Kampf auf rein ökonomische Forderungen zu beschränken. Er erteilte ihnen die Anweisung, die Flugblätter ungelesen zu zerreißen, die die Studenten verteilten, die unter ihren Forderungen einen Kampf gegen den Zarismus einschlossen.

Die Führer der Versammlung dachten, es wäre eine gute Idee, wenn die Arbeiter sich an den Zaren für Unterstützung wandten. die Polizei stimmte damit überein: Einige wohlwollende Worte vom Thron, begleitet von einigen Maßnahmen, egal wie klein, um die Bedingungen der Arbeiter zu verbessern, würden ausreichen, um die Bewegung daran zu verhindern, sich nach Extremen zu bewegen, und würden den Mythos vom Zaren als Freund der Arbeiter verstärken. So entstand die Idee einer Petition und eines feierlichen Umzuges, wobei die Arbeiter den Porträt des Zaren, heilige Ikonen und kirchliche Banner tragen sollten. Die Petition würde demütig den Zaren um die Beseitigung der Beschwerden der Arbeiter bitten. Beim Skandieren von Gebeten und Hymnen würden die Arbeiter auf den Knien die Petition dem Zaren übertragen.

Aber als die Polizei Pläne machte, handelten die Petersburger Sozialdemokraten. Nach einem Langsamen Anfang intervenierten sie schließlich in die Bewegung und erreichten einen Ausmaß an Erfolg. Sie schickten Redner zu den Bezirksversammlungen der Versammlung und führten erfolgreich Beschlüsse und Änderungsanträge zum ursprünglichen Text der Petition ein. Eigentlich war es die menschewistische Gruppe, die diese Initiative zeigte. (Wir werden uns unten mit der Taktik der Bolschewiki zu diesem Zeitpunkt beschäftigen.) Das Ergebnis war einen Petition, die sich bedeutend unterschied von der, die ursprünglich von den Führern der Versammlung vorgestellt wurde: eine ganze Reihe von politischen Forderungen wurden unter dem Einfluß der Sozialdemokraten eingeschlossen: der Achtstundentag, Versammlungsfreiheit für die Arbeiter, Land für die Bauern, Rede- und Pressefreiheit, die Trennung von Kirche und Staat, das Ende des Russisch-Japanischen Krieges und die Einberufung einer Konstituierenden Versammlung.

Der Putilow-Streik, der am 3. Januar anfing, wurde bis zum 7. Januar ein Generalstreik der gesamten St. Petersburg. Nicht nur alle großen Fabriken, sondern auch viele kleine Werkstätten kamen zum Stillstand; praktisch alle Zeitungen stellten die Veröffentlichung ein. Auch offizielle berichte schätzen die Zahl der Streikenden auf 100.000 bis 150.000. „Nie zuvor hatte Rußland solch gewaltigen Ausbruch des Klassenkampfes gesehen“, schrieb Lenin. [5]

Am Sonntag 9. Januar marschierten 200.000 Petersburger Arbeiter in einem riesigen, aber friedlichen Umzug zum Winterpalast des Zaren; an ihrer Spitze stand Pfarrer Gapon. Der Zar lehnte es ab, die Menschen mit der Petition zu empfangen. Die Truppen, die den Winterpalast schützten, bekamen den Befehl, in die Menge zu schießen. Mehr als Tausend Menschen wurden getötet und bis zu zwei tausend wurden verletzt. So versuchte der Zar, die Revolution zu löschen. Am selben Abend sprach der entsetzten Gapon die Menge an; nachdem er erklärte: „Wir haben keine Zaren mehr“, er forderte die Soldaten dazu auf, sich als von jeder Verpflichtung befreit „zum Verräter, zum Zaren, der befohlen hatte, daß unschuldiges Blut gegossen werden sollte“. die Arbeiter lernten durch bittere Erfahrung, daß Ikonen und Bilder des Zaren weniger wirksam waren als Pistolen und Gewehre.

Verschiedene Interpretationen wurden den Ereignissen am 9. Januar verliehen. Die einfachste war die des Kriegsministeriums, das im Massenstreik die Hand (und die Gelder) von englisch-japanischen Agenten sah.

Das Kriegsministerium ging so weit, daß es in Zeitungen veröffentlichte und auf Plakaten ankündigte: daß „englisch-japanische“ Provokateure für die Streiks verantwortlich seien unter den Männern, die bei der Herstellung von Anlagen für die Marine beschäftigt waren. Auch die Heilige Synode akzeptierte diese Interpretation und gab am 14. eine Erklärung aus, die die Unruhen vor kurzem verurteilte, „die mit Bestechung durch die Feinde Rußlands provoziert wurden“. [6]

Die Liberalen glaubten nicht an der Existenz eines revolutionären Volkes, also erklärten sie die Ereignisse als natürliche Ausströmung der Persönlichkeit Gapons. „Es gibt noch nicht so etwas wie ein revolutionäres Volk in Rußland“, schrieb Peter Struve in seiner im Ausland veröffentlichten Zeitung Oswoboshdenje (Befreiung) am 7. Januar 1905, genau zwei Tage, bevor die Garderegimenter die Demonstration der Petersburger Arbeiter niederschlug. [7]

Die Liberalen glaubten beharrlich für eine lange Zeit, daß das gesamte Geheimnis der Ereignisse am 9. Januar in Gapons Persönlichkeit liege. Sie stellten ihn den Sozialdemokraten gegenüber, als ob er ein politischer Führer sei, der daß Geheimnis der Lenkung der Massen [Kontrolle über die Massen] wisse, und sie eine doktrinäre Sekte seien. Dabei vergaßen sie, daß der 9. Januar nicht stattgefunden wäre, wenn Gapon nicht auf mehrere Tausend politisch bewußte Arbeiter getroffen hätte, die durch die Schule des Sozialismus gegangen waren. [8]

Lenin bewertete die Ereignisse des 9. Januar ganz anders. In einer Schrift drei Tage nach dem Blutsonntag sagte er:

Die Arbeiterklasse hat eine große Lektion des Bürgerkriegs erhalten; die revolutionäre Erziehung des Proletariats hat an diesem einen Tag so große Fortschritte gemacht, wie sie sie in Monaten und Jahren des grauen, niederdrückenden Alltagslebens nicht hätte machen können. [9]

Sofortiger Sturz der Regierung – das ist die Losung, mit der sogar die Petersburger Arbeiter, die an den Zaren geglaubt hatten, auf das Blutbad vom 9. Januar antworteten, durch den Mund ihres Führers, des Priesters Georgi Gapon antworteten, der nach diesem Bluttag erklärte: „Wir haben keinen Zaren mehr. Ein Strom von Blut trennt den Zaren vom Volk. Es lebe der Kampf um die Freiheit!“ [10]

Und in einer Schrift am 8. Februar wiederholte er: „Der 9. Januar 1905 offenbarte den ganzen gigantischen Vorrat des Proletariats an revolutionärer Energie ...“ Aber dann fügte er betrübt, daß er enthüllte auch „die ganze Unzulänglichkeit der Organisation der Sozialdemokraten“. [11]

 

Lenin und Gapon

Am Anfang reagierten die Sozialdemokraten langsam auf die Gapon-Bewegung. So erklärte Martow:

Es mag merkwürdig scheine, aber es muß bemerkt werden, daß die revolutionären Organisationen in Petersburg das Wachstum und die allmähliche Umwandlung der legalen vom Pfarrer Gapon begründeten Arbeiterorganisationen übersehen, die im Herbst 1904 sich schon von „Hilfsfonds für gegenseitige Unterstützung“ zu einer Art Arbeiterklubs geändert hatten.

Als ende Dezember 1904 Gapons Gruppe als Ergebnis eines Streits im Putilow-Werk in einen vollen Kampf gegen die Industriellen eintrat, wurden die Sozialdemokraten völlig von den Ereignissen überholt.

Als schließlich die Sozialdemokraten, beeinflußt von Gapon, sich an die Arbeiter wandten, wurden sie geschnitten. Ihre Flugblätter wurden von den Streikenden zerstört. Auch ein Geschenk von 500 Rubeln vom sozialdemokratischen Komitee wurde „unwillig bekommen“. [12]

Die Isolation des Petersburger Komitees der Bolschewiki von der sich entwickelnden Bewegung wurden von einem seiner Mitglieder, N.W. Doroschenko, bemerkt:

Bis zu den letzten Tagen von Dezember hatten ich und meine engsten Genossen keinen Anlaß, eine einzige Ortsgruppe der Gaponschen Gesellschaft zu besuchen. Außerdem erinnere ich mich nicht an einer einzigen Konversation mit organisierten Arbeitern aus den Bezirken Wassiljew-Ostrow und Petersburg darüber, daß irgendjemand unter unseren Leuten die besagten Ortsgruppen besucht hatte. [13]

Anfang Januar fingen die Parteiarbeiter des Petersburger Komitees damit an, sich die Gaponsche Bewegung zu merken:

Die Arbeiter, von denen die meisten ohne Frage unter dem Einfluß Gapons waren, betrachteten nicht zu jenem Zeitpunkt die Sozialdemokratie als ihre eigene Partei. Noch mehr, es Chinin ihnen, daß die klare unzweideutige Linie der Sozialdemokratie ihnen daran hinderte, das zu erringen, wozu Gapon sie drängte. Bei einer der geheimen Versammlung der Komitees, bei der wir alle Parteiarbeiter uns sammelten, informierte uns S.I,. Gussew über die vom Komitee unternommenen Schritte und vermittelte uns seine Direktive, die uns eindringlich dazu mahnte, in die Fabriken zu den Ortsgruppen der Gaponschen Gesellschaft einzudringen und den Forderungen Gapons das Mindestprogramm der Partei gegenüberzustellen, die Hoffnungslosigkeit und die Absurdität des Projekts des Aufmarsches zum Palast zu enthüllen. [14]

Doroschenko versuchte selbst, die Aufgabe der Gegenüberstellung und der Enthüllung bei einer Versammlung der Gaponschen Ortsgruppe im Bezirk Stadt am 7. Januar durchzuführen, wurde aber aufgehalten durch Rufe wie: „Genug, hau ab, misch dich nicht ein!“ usw. „Man machte es mir unmöglich, meine Rede weiterzuhalten und ich mußte den Saal verlasen.“ [15] Von dieser Versammlung ging er zu einer Konferenz des Petersburger Komitees der Bolschewiki: „Der allgemeine Eindruck war, daß die Organisation irgendwie nicht glaubte, daß der Aufmarsch zum Palast stattfinden würde. Die Vorstellung war, daß die Regierung Schritte unternehmen würde, um Gapons Absichten im Keim zu ersticken. Daher gab es mindestens keine Sicherheit darüber, daß man das Massenschlachten erlauben würde.“ [16]

Schließlich entschied das Petersburger Komitee jedoch, daß die Parteimitglieder sich am Aufzug am 9. Januar beteiligen sollten.

Lenin verstand jedoch von Anfang an, daß die Gaponsche Bewegung über die Absichten der zaristischen Behörden hinauswachsen würde. In einem Artikel mit dem Titel „Der St. Petersburger Streik“ schrieb er:

Der Streik der am 3. Januar in den Putilow-Werken begonnen hat, entwickelt sich zu einer der großartigsten Aktionen der Arbeiterbewegung ... Und nun wächst die Subatowsche Bewegung über ihren Rahmen hinaus, und diese von der Polizei im Interesse der Polizei, zur Unterstützung der Selbstherrschaft, zur Demoralisierung des politischen Bewußtseins der Arbeiter geschaffene Bewegung wendet sich gegen gegen die Selbstherrschaft, wird zu einem Ausbruch des proletarischen Klassenkampfes.

Die Sozialdemokraten haben schon seit langem auf die Unvermeidlichkeit solcher Resultate unserer Subatowiade hingewiesen. Die Legalisierung der Arbeiterbewegung, sagten sie, wird uns, den Sozialdemokraten, Nutzen bringen. Sie wird gewisse, besonders rückständige Arbeiterschichten in die Bewegung hineinziehen, wird jene aufrütteln helfen, die ein sozialdemokratischer Agitator nicht so bald, vielleicht sogar niemals aufgerüttelt hätte. Aber einmal in die Bewegung hineingezogen und für die Frage ihres Schicksals interessiert, würden die Arbeiter weitergehen. Die legale Arbeiterbewegung wird nur neue, breitere Grundlage für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung sein. [17]

Eine Woche später in einem Artikel mit dem Titel „Die ersten Schritte“ führte er dasselbe Thema weiter aus:

... der revolutionäre Instinkt der Arbeiterklasse und der Geist der Solidarität wird über alle schnöden Winkelzüge der Polizei die Oberhand gewinnen. Die rückständigsten Arbeiter werden durch die Subatowleute in die Bewegung hineingezogen, und dann sorgt die zaristische Regierung schon selbst dafür, daß die Arbeiter weitergehen; die kapitalistische Ausbeutung selbst drängt sie von der friedlichen und durch und durch heuchlerische Subatowiade zur revolutionären Sozialdemokratie. [18]

Lenin war nicht nur nichtsektiererisch in seiner Haltung gegenüber der Massenbewegung, die sich hinter Gapon bildete, sondern er, wie es seine Gewohnheit war, „verliebte sich“ auch in Gapon selbst. als Gapon ins Ausland fuhr, wollte Lenin ihn unbedingt treffen. Die Unterredung ließ bei ihm Beine Zweifel darüber, daß Gapon völlig aufrichtig sei. Viele Jahre später, nachdem Gapon als Polizeispitzel enthüllt worden war und für seine Straftat von einem Revolutionären ermordet wurde, erklärte Krupskaja Lenins Vernarrtheit folgendermaßen:

Gapon war ein lebendiges Stück der in Rußland heranreifenden Revolution, mit den Arbeitermassen eng verbunden, ein Mensch, dem sie grenzenloses Vertrauen schenkten. Und deshalb regte diese Zusammenkunft Iljitsch auf.

Ein Genosse hat sich vor kurzem darüber empört: Wie konnte Wladimir Iljitsch sich nur mit Gapon einlassen.

Gewiß hätte man Gapon einfach übergehen und von vorhherien annehmen können, daß von einem Pfaffen nichts Gutes kommen kann. So verhielt sich zum Beispiel Plechanow, der Gapon äußerst kühl empfing. Aber Iljitschs Stärke bestand ja eben darin, daß die Revolution für ihn lebendig war, daß er es verstand, in ihren Zügen zu lesen, sie in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit zu erfassen, daß er wußte und verstand, was die Massen wollten. Die Kenntnis der Masse gewinnt man aber nur durch Berührung mit ihr. Und darum interessierte es Iljitsch, wodurch Gapon Einfluß auf die Massen ausübte. [19]

Am 18. Januar 1905 schrieb Lenin:

Der Gedanke, daß der Pope Gapon vielleicht ein aufrichtiger christlicher Sozialist war und daß ihn gerade der Blutsonntag auf einen durchaus revolutionären Weg gedrängt hat, ist daher nicht ganz von der Hand zu weisen. Wir neigen um so mehr zu dieser Annahme, als die Briefe, die Gapon nach dem Blutbad des 9. Januar schrieb und worin es heißt „wir haben keinen Zaren mehr“, sein Aufruf zum Kampf um die Freiheit usw. – als all dies Tatsachen sind, die für seine Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sprechen ... [20]

Am 23. April sagte er über Gapon: „Auf mich machte Gapon den Eindruck eines der Revolution unbedingt ergebenen Menschen, voller Initiative und klug, wenn auch leider ohne eine konsequente revolutionäre Weltanschauung.“ [21]

Lenin gab sich besondere Mühe, den Versuch zu unternehmen, Gapon den Marxismus beizubringen – jedoch ohne Erfolg. „Ich habe zu ihm gesagt“, erzählte er Krupskaja nach seiner Rückkehr von seinem Treffen mit Gapon, „‚Hören Sie nicht auf Schmeicheleien, Väterchen! Lernen Sie, sonst werden Sie dorthin geraten‘, und ich zeigte unter den Tisch.“ [22]

Andere bolschewistische Führer waren viel weniger von Gapon angetan. S.I. Gussew z.B., der Ende Dezember bzw. Anfang Januar aus Genf ankam und die Rolle des Sekretärs und Führers des Petersburger Komitees übernahm, schreibe Lenin am 5. Januar über den „verfluchten Gapon“:

Dieser Pope Gapon ist absolut sicherlich ein Subatowist reinsten Wassers ... Gapon zu enthüllen und zu bekämpfen, wird die Basis der Agitation sein, die wir in Eile vorbereiten. Wir müssen alle unseren Kräfte in Aktion setzen, auch wenn wir sie alle auf den Streik vergeuden müssen, den die Situation uns dazu verpflichtet, die Ehre die Sozialdemokratie zu retten. [23]

Er änderte nicht seine Meinung nach dem Blutsonntag. Am 30. Januar schrieb er wieder an Lenin:

Die Arbeiter sind auch ein bißchen verwirrt (wieder unter dem Einfluß der antirevolutionären Predigten der Menschewiki) über die (richtige) Haltung g gegenüber Gapon. Ihr Artikel in Nr. 4 stellt die Rolle der Regierung sehr gerecht dar, aber sie sind mit Gapon zu nachsichtig. Er ist ein zwielichtiger Charakter. Ich habe Ihnen darüber mehrmals geschrieben und je mehr ich darüber nachdenke, je verdächtiger er scheint. Man kann ihn nicht ein bloßer Irrer nennen, er war Subatowist und arbeitete mit Subatowisten wohlwissend, was sie waren und was sie wollen. [24]

 

Bekämpfung der sektiererischen Haltung der Bolschewiki gegenüber den Gewerkschaften und dem Sowjet

Über die sozialdemokratischen Haltung gegenüber der aufsteigenden Gewerkschaftsbewegung mußte Lenin seine Anhänger bekämpfen, die einen engen, sektiererischen Ansatz hatten. S.I. Gussew, der nah zu Lenin und zum bolschewistischen Zentrum im Ausland stand, schlug bei einem Plenum des Odessaer Komitees der Bolschewiki September 1905, daß die Bolschewiki von den folgenden Regeln in ihrer Haltung zur Gewerkschaftsfrage geleitet werden sollten:

1. In unserer Propaganda und Agitation alle Illusionen über Gewerkschaften zu entlarven, indem wir besonders ihre Beschränktheit im Vergleich mit den Endzielen der Arbeiterbewegung betonen.

2. Dem Proletariat zu erläutern, daß eine breite und stabile Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung unter einem autokratischen Regime undenkbar [unvorstellbar] ist und daß eine solche Entwicklung zuerst den Sturz der zaristischen Autokratie benötigt.

3. In Propaganda und Agitation stark zu betonen, daß die entscheidendste vorrangige Aufgabe des kämpfenden Proletariats darin besteht, sich sofort für einen bewaffneten Aufstand vorzubereiten, um die zaristische Autokratie zu stürzen und eine demokratische Republik zu gewinnen.

4. Einen energischen ideologischen Kampf gegen die sogenannten Menschewiki durchzuführen durchzuführen, die über die Frage der Gewerkschaften in den beschränkten irrtümlichen Standpunkt der Ökonomisten zurückfallen, die die Aufgaben der Sozialdemokratie erniedrigt und den Vorstoß der proletarischen Bewegung zurückhält.

Aber gleichzeitig sollten sie „jedes Mittel benutzen, um sozialdemokratischen Einfluß und, wenn möglich, Führung in allen neu entstehenden bzw. schon bestehenden legalen und illegalen Gewerkschaften zu sichern“. Einige Mitglieder des Komitees konnten diesen letzten Punkt akzeptieren. Ein Auszug aus dem Protokoll des Plenums berichtet, daß ein Mitglied sagte:

Genosse S. übersieht die Tatsache, daß Punkt 5 seines Beschlusses alle vorhergehenden Punkte widerspricht. Was sagen sie? Daß man Illusionen entlarven, zerstören muß, man muß, kurz gesagt, die Gewerkschaften entwaffnen, mit anderen Worten, sie auflösen. Und Punkt 5 spricht plötzlich von Führung. Mir hat eine Gewerkschaft einen bestimmten Inhalt. Wenn ich ihre Führung übernehme, übernehme ich dabei diesen Inhalt, ich muß Gelder organisieren usw. Dies ist eine menschewistische Vorstellung. [25]

Gussew konnte eigentlich die Einwände überwinden und der Beschluß wurde einstimmig angenommen und zu Lenin in Genf geschickt.

Lenin mochte den Beschluß überhaupt nicht. Am 20. September [13. Oktober] 1905 schrieb er an das Odessaer Komitee, daß er „hoch irrtümlich [check]“ sei.

Meiner Meinung nach muß man sich ganz allgemein davor hüten, den Kampf gegen die Menschewiki in dieser Frage zu übertreiben. Gerade jetzt werden wahrscheinlich bald die Gewerkschaftsverbände zu entstehen beginnen. Man darf nicht beiseite stehen, man darf vor allem nicht zu der Auffassung Anlaß geben, daß man abseits stehen muß, man muß vielmehr bestrebt sein, sich zu beteiligen, Einfluß zu nehmen usw. ... Für die russische Sozialdemokratie ist es wichtig, in der Gewerkschaftsfrage gleich von Anfang an den richtigen Ton zu finden und auf diesem Gebiet sofort eine Tradition sozialdemokratischer Initiative, sozialdemokratischer Beteiligung, sozialdemokratischer Führung zu schaffen. [26]

Einige Monate später formulierte er einen Beschluß nach demselben Muster für den Stockholmer („Einigungs“-)Parteitag April-Mai 1906:

1. alle Parteiorganisationen müssen die Bildung parteiloser Gewerkschaften fördern und alle der Partei angehörenden Vertreter eines bestimmten Berufszweiges zum eintritt in ihren Gewerkschaftsverband veranlassen;

2. die Partei muß auf jede Weise danach streben, die den Gewerkschaften angehörenden Arbeiter im Geiste eines weitgehenden Verständnisses für den Klassenkampf und die sozialistischen Aufgaben des Proletariats zu erziehen, durch ihre Tätigkeit faktisch die führende Rolle in diesen Gewerkschaften zu erobern und schließlich zu erreichen, daß sich diese Gewerkschaften unter bestimmten Bedingungen der Partei direkt anschließen, wobei jedoch die parteilosen Mitglieder unter keinen Umständen ausgeschlossen werden dürfen. [27]

Noch entscheidender als dieser Kampf gegen die sektiererische Haltung einiger bolschewistischer Führer gegenüber den Gewerkschaften war der Kampf, den Lenin gegen fast das gesamte St. Petersburger Komitee über die Frage des neugegründeten Sowjets führte. Der Petersburger Sowjet der Arbeiterdeputierten war der Nachwuchs des Generalstreiks von Oktober 1905. Dieser war in Moskau angezündet Fjorden durch eine kleinen Streik von Druckern, die einige Kopeke mehr pro Tausend gesetzten Buchstaben und Bezahlung für Punktuationszeichen forderten. Der Streik breitete sich spontan durch das ganze Land aus. Die Initiative für die Gründung des Petersburger Sowjets wurde von den Menschewiki ergriffen, die jedoch keine Vorstellung der Auswirkung hatten, die ihre Schöpfung langfristig haben sollte. Das Petersburger Komitee der Bolschewiki zeigte seinerseits äußerste Feindseligkeit gegenüber dem Sowjet.

P.A. Krassikow sollte bolschewistische Agitatoren vor „dieser neuen Intrige der Menschewiki ..., einem nichtparteilichen Subatowschen Komitee“ gewarnt haben. [28] Bogdanow, als Führer des Russischen Büros, der wichtigste bolschewistische Führer in Rußland selbst, argumentierte, daß der Sowjet, der Männer verschiedener politischer Färbung enthielt, leicht zum Kern einer antisozialistischen unabhängigen Arbeiterpartei werden könnte. [29]

B.I. Gorew, ein Vertreter der bolschewistischen Zentrale in Petersburg, schrieb unverblümt: „Wenn der Petersburger Sowjet seine Tätigkeit ausdehnte, zu einer vereinigten revolutionären Kraft wurde, erschrak das Petersburger Komitee. Er stützte diesen Urteil [diese Schätzung] auf einer Bemerkung von „Nina Lwowna“ (M.M. Essen, ein einflußreiches Mitglied des Petersburger Komitees) und auf Beschlüssen, die bei einigen Sektorplenen angenommen wurden:

Ich erinnere mich an den Worten „Nina Lwownas“: „Aber wo passen wir hinein? Also müssen wir mit ihnen rechnen! Der Sowjet erteilt Erlasse, und wir hinken hinterher, wir können unsere eignen Erlasse nicht durchsetzen“, usw.

Dies wurde auch in den Beschlüssen der Sektorplenen, besonders denen der Petersburgskaja Storona, widerspiegelt, wo die Führer Doroschenko ... und der Bolschewik Mendelejew, jetzt der bekannte Menschewik Schwarz-Monoszon, waren. Sie forderten, daß der Sowjet entweder sich zu einer gewerkschaftlichen Organisation verwandele oder unser Programm annehme und sich praktisch mit der Parteiorganisation zusammenschmilzt. [30]

Die Haltung des Petersburger Komitees dem Sowjet gegenüber war negativ. Einige Mitglieder wollten ihn boykottieren, da er unnötig sei, da die Partei bestehe, während andere den Eintritt in den Sowjet befürworteten, um so viele Bolschewiki wie möglich zu ihn wählen zu lassen und „den Sowjet von innen zu sprengen“ – auch mit der Begründung, er sei „unnötig“. [31] Bei einem Plenum des bolschewistischen Vorstands im Newa-Viertel von Petersburg,

am 29. Oktober stellte eins der fünfzehn Mitglieder sich gegen die Teilnahme daran, weil „das Wahlprinzip sein Klassenbewußtsein und seinen sozialdemokratischen Charakter nicht gewähren könnte“. Vier stimmten gegen die Teilnahme am Sowjet, wenn er nicht ein sozialdemokratisches Programm annehme. Neun waren für die Teilnahme und zwei enthielten sich. [32]

Ein Grund für die negative Haltung der Petersburger Bolschewiki gegenüber dem Sowjet Oktober 1905 war die Tatsache, daß die Haltung der Menschewiki positiv war. „Indem sie die Inkonsequenz und Mangel an Prinzipien der Menschewiki anprangerten, hatte die Bolschewiki vor, den Sowjet zu boykottieren“. [33]

Das Zentralkomitee der Bolschewiki, damals in Petersburg, schichte einen „Brief an alle Parteiorganisationen“ am 27. Oktober, worin es andeutete auf die Gefahr der

politisch formlosen [amorphen] und sozialistisch unreifen Arbeiterorganisationen, die von der spontanen revolutionären Bewegung des Proletariats geschaffen werden ... jede solche Organisation stellt eine bestimmte Etappe der politischen Entwicklung des Proletariats dar, aber, wenn sie außerhalb der Sozialdemokratie steht, stellt sie objektiv in Gefahr, das Proletariat auf einem primitiven politischen Niveau zu halten und es dadurch den bürgerlichen Parteien zu unterwerfen.

Eine solche Organisation sei der Petersburger Sowjet der Arbeiterdeputierten. Das Zentralkomitee bat die sozialdemokratischen Mitglieder des Sowjets darum: (1) den Sowjet einzuladen, das Programm der SDAPR anzunehmen und, wenn das einmal gemacht worden sei, die Führung der Partei anzuerkennen und „sich schließlich in sie aufzulösen“; (2) falls der Sowjet es ablehne, das Programm anzunehmen, den Sowjet zu verlassen und das antiproletarische Wesen solcher Organisationen zu entlarven; (3) wenn der Sowjet, während er es ablehne, das Programm anzunehmen, sich das Recht vorbehalte, seine politischen Standpunkt in jedem Fall zu entscheiden, als er auftauche, im Sowjet zu bleiben aber sich das Recht vorzubehalten, über „die Absurdität einer solchen politischen Führung“ auszusagen. [34]

Einige Tage später schlug der Genosse Anton (Krassikow) wirklich im Namen der Bolschewiki dem Sowjet vor, daß er das Parteiprogramm annehmen und die Führung der Partei anerkennen sollte. „Soweit ich mich erinnere, war die Debatte kurz. Chrustalew stellte sich dagegen. Krassikows Vorschlag bekam kaum Unterstützung. Aber im Gegensatz zu Bogdanows Plan verließen die Bolschewiki nicht den Sowjet.“ [35]

Es bedurfte der Intervention Lenins, um die bolschewistische Führung in Petersburg zur Ordnung zu rufen – um sie vom Abgrund einer völlig sektiererischen Haltung dem Sowjet gegenüber zurückzuziehen. Er blieb im Ausland für fast einen Monat nach seiner Gründung. auf seinem Weg nach Petersburg, wo er am 8. November eintraf, verbrachte er etwa eine Woche in Stockholm, wo er einen Artikel, „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten. ein Brief an den Redakteur“, schrieb, der in der bolschewistischen Zeitschrift Nowaja Shisn erscheinen sollte. Darin sagt er über diese Frage:

Sowjet der Arbeiterdeputierten oder Partei? Mir scheint, man darf die Frage nicht so stellen, die Antwort muß unbedingt lauten: sowohl Sowjet der Arbeiterdeputierten als auch Partei. Die Frage – eine äußerst wichtige Frage – besteht lediglich darin, wie die Aufgaben des Sowjets und die Aufgaben der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands voneinander abzugrenzen und miteinander zu verbinden sind.

Mir scheint, es wäre nicht zweckmäßig, wenn sich der Sowjet voll und ganz irgendeiner einzigen Partei anschließen würde. [36]

Der Sowjet führe sowohl einen ökonomischen als auch einen politischen Kampf durch. Über ersteren sagt Lenin:

Soll dieser Kampf allein von den Sozialdemokraten oder allein unter dem sozialdemokratischen Banner geführt werden? Ich glaube nein; ich bin nach wie vor der Meinung, die ich (allerdings unter völlig anderen, jetzt schon überholten Bedingungen) in Was tun? ausgesprochen habe, nämlich daß es unzweckmäßig ist, die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften und folglich auch die Teilnehmerschaft am gewerkschaftlichen, ökonomischen Kampf lediglich auf die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei zu beschränken. [37]

Und dann beschäftigt er sich mit dem politischen Kampf:

... es scheint mir auch in dieser Hinsicht unzweckmäßig, vom Sowjet der Arbeiterdeputierten die Annahme des sozialdemokratischen Programms und den Eintritt in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands zu verlangen. Mir scheinen für die Führung des politischen Kampfes gegenwärtig sowohl der Sowjet ... als auch die Partei gleichermaßen unbedingt notwendig zu sein. [38]

Lenin argumentiert, prophetisch, daß der Sowjet nicht nur eine neue Form der Organisation des Proletariats im Kampf sei, sondern auch die Form der künftigen revolutionären macht der Arbeiter und Bauern.

... mir scheint ..., daß der Sowjet der Arbeiterdeputierten in politischer Hinsicht als Keimform einer provisorischen revolutionären Regierung betrachtet werden muß. Mir scheint, der Sowjet muß sich so bald wie möglich zur provisorischen revolutionären Regierung ganz Rußlands ausrufen oder (was dasselbe ist, nur in anderer Form) eine provisorische Regierung bilden. [39]

Hierzu sollte der Sowjet ihre Basis verbreitern; er sollte

hierzu ... neue Deputierte nicht nur der Arbeiter, sondern auch erstens der Matrosen und Soldaten, die allerorts schon ihre Hand nach der Freiheit ausstrecken, zweitens der revolutionären Bauernschaft und drittens der revolutionären bürgerlichen Intelligenz heranziehen ... Wir fürchten eine solche Breite und Buntscheckigkeit der Zusammensetzung nicht, sondern wünschen sie, denn ohne die Vereinigung des Proletariats und der Bauernschaft, ohne Kampfgemeinschaft der Sozialdemokraten und der revolutionären Demokraten ist ein voller Erfolg der großen russischen Revolution unmöglich. [40]

Dieser wichtige Brief wurde vom Redakteur der Nowaja Shisn abgelehnt – er kam erst ans Tageslicht in der Prawda 34 Jahre später – am 5. November 1940.

So war fast von Anfang an Lenins Schätzung der künftigen rolle der Sowjets viel weiter fortgeschritten als die der Beteiligten. Für ihn war der Sowjet nicht nur eine neue Organisationsform des Proletariats im Kampf; er war die Form der künftigen Arbeitermacht. Er entwickelte diese Vorstellung nicht in der Leere. Er artikulierte und verallgemeinerte das, was viele Arbeiter sich instinktiv fühlten. Die folgende Anekdote aus Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution veranschaulicht dieses Gefühl an der Basis.

Ein alter Kosak aus der Provinz Poltawa beschwerte sich über seine ungerechte Behandlung durch die Prinzen Repnin, die ihn für 28 Jahre als Schriftführer ausgebeutet und ihn dann ohne Grund entlassen hatten; der alte Mann bat den Sowjet, in seiner Sache mit den Prinzen zu verhandeln. Der Umschlag, der diese merkwürdige Petition enthielt, wurde einfach an Die Arbeiterregierung, Petersburg adressiert, trotzdem wurde er prompt vom revolutionären Postdienst zugestellt. [41] [1*]

Ein Jahr, nachdem er den oben zitierten wichtigen Artikel schrieb, entwickelte Lenin die Vorstellung der Wechselwirkung zwischen dem Sowjet und der revolutionären Regierung weiter. Im oben zitierten Artikel argumentierte er, daß der Sowjet die Form der revolutionären Regierung der Zukunft sei. Ein Jahr später argumentierte er, daß der Sowjet nicht unabhängig von der unmittelbaren revolutionären Situation bestehen könne, sondern auch, daß er von sich aus nicht den bewaffneten Aufstand organisieren könne.

Die Erfahrungen von Oktober und Dezember haben ... die lehrreichsten Hinweise gegeben. Die Sowjets der Arbeiterdeputierten sind Organe des unmittelbaren Massenkampfes. Sie entstanden als Organe des Streikkampfes. Sie wurden sehr rasch, unter dem Druck der Notwendigkeit, zu Organen des allgemeinen revolutionären Kampfes gegen die Regierung. Sie verwandelten sich unaufhaltsam, kraft der Entwicklung der Ereignisse und des Übergangs vom Streik zum Aufstand, in Organe des Aufstands. Daß eine ganze Reihe von „Sowjets“ und „Komitees“ im Dezember eben diese rolle gespielt haben, ist eine durchaus unbestreitbare Tatsache. Und die Ereignisse haben aufs anschaulichste und überzeugendste gezeigt, daß die Kraft und die Bedeutung solcher Organe in einer Zeit des Kampfes ganz und gar von der Kraft und dem Erfolg des Aufstands abhängen.

Nicht irgendeine Theorie, nicht irgendein Aufruf, von wem er auf herrühren möge, nicht eine von irgend jemand erdachte Taktik, nicht eine Parteidoktrin, sondern die Kraft der Tatsachen hat diese parteilosen Massenorgane von der Notwendigkeit des Aufstands überzeugt und sie zu Organen des Aufstands gemacht ...

Wenn dem so ist – und zweifellos ist dem so –, so ergibt sich daraus auch der Schluß, daß „Sowjets“ und ähnliche Massenkörperschaften für die Organisierung des Aufstands noch nicht ausreichen. sie sind erforderlich, um die Massen zusammenzuschweißen, sie für den Kampf zu vereinigen, ihnen die von der Partei aufgestellten (oder von den Parteien gemeinsam ausgegebenen) Losungen der politischen Führung zu übermitteln, um die Massen zu interessieren, sie aufzurütteln und in den Kampf einzubeziehen. Aber sie reichen nicht aus, um die Kräfte für den unmittelbaren Kampf, um den Aufstand im engsten Sinne des Wortes zu organisieren. [43]

Diese Passage zeigt ein wunderbares Verständnis der strategischen Wechselwirkung zwischen den Sowjets und dem bewaffneten Aufstand – und das auf der Basis von nur einigen Wochen Erfahrung! Die Geschichte von 1917 wird hier fast in aller Kürze erzählt.

Die Sowjets bestehen aus fast der gesamten Arbeiterklasse [fassen fast die gesamte Arbeiterklasse um]. Daher, obwohl sie nur in einer revolutionären Situation entstehen, werden sie nicht notwendigerweise von Revolutionären geführt. Sie könne sehr wohl von Gegnern der Revolution geführt werden. Das war der Fall in Rußland nach Februar 1917 – als sie die bürgerliche provisorische Regierung und ihren imperialistischen Kriegseinsatz unterstützten. Es war der Fall 1918 in Deutschland, als der Berliner Arbeiterrat nicht nur Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von der Mitgliedschaft ausschloß, sondern auch die Regierung unterstützte, die die Revolution enthauptete und diese hervorragenden Führer ermordete.

Die revolutionäre Partei vertritt den fortgeschrittenen Teil der Arbeiterklasse. Für die Arbeitermacht braucht man eine bestimmte Kombination der Partei und der Sowjets. Daher „reichen ‚Sowjets‘ und ähnliche Massenkörperschaften für die Organisierung des Aufstands noch nicht aus“. Aber es gibt noch einen Grund. Auch wenn die Sowjets unter dem Einfluß der revolutionären Partei stehen, wie 1917, können sie nicht von sich aus den Aufstand durchführen. Es fehlt ihnen die Homogenität, die so ausschlaggebend für die abrupte Tat Eises bewaffneten Aufstands ist. Sie werden benötigt, um dem Aufstand einen legalen Charakter zu verleihen. Aber sie „reichen nicht aus ..., um den Aufstand im engsten Sinne des Wortes zu organisieren“ – wie Lenin es so deutlich erklärte, viele Jahre vor 1917.

Es ist nützlich, Lenins klare Formulierung mit einer Analyse der Lehren von 1905 von Rosa Luxemburg und Leo Trotzki zu vergleichen. Rosa Luxemburg, Teilnehmerin der 1905er Revolution, erwähnt in ihrem großartigen Buch Massenstreik, Partei und Gewerkschaften den Sowjet überhaupt nicht. Erst 1918 verstand sie seine Rolle als eine Form der Arbeiterregierung.

Rosa Luxemburg teilte den Sowjets keine Rolle in der Regierung zu ..., obwohl sie von ihrer Bedeutung bewußt war; diese waren spontane Instrumente des Kampfes, sollten aber nicht in die permanente institutionelle Struktur einverleibt werden. Diese Vorstellung der Sowjets als mittel vielmehr als Ziel beherrschte immer noch das frühe Denken des Spartakusbundes in Deutschland zwölf Jahre später, und erst als die Spartakusführer vor der unerwünschten Forderung der SPD nach einer verfassungsgebende Versammlung, teilte sie eine positivere und permanentere Rolle den Arbeiter- und Soldatenräten – inspiriert vom russischen Beispiel! [44]

Trotzki, der 1905 Vorsitzender des Petersburger Sowjets war, und der den sozialistischen Inhalt der künftigen russischen Revolution vorhersagte, beschrieb deutlich die regierende Rolle des Sowjets, als er im Gefängnis gleich nach der Revolution schrieb:

Der Sowjet war wirklich eine Arbeiterregierung im Keim – Vor dem Sowjet finden wir unter den Industriearbeitern eine Mehrzahl von revolutionären Organisationen ... Aber diese waren Organisationen innerhalb des Proletariats, und ihr unmittelbares Ziel bestand darin, Einfluß über die Massen zu erringen. Der Sowjet war vom Anfang an die Organisation des Proletariats, und sein Ziel war der Kampf um die revolutionäre Macht ... Mit dem Sowjet haben wir die erste Erscheinung einer demokratischen Macht in der modernen russischen Geschichte. Der Sowjet ist die organisierte Macht der Masse selbst über ihre verschiedene Teile. Er bildet authentische Demokratie, ohne untere und obere Kammer, ohne berufliche Bürokratie, aber mit dem Recht der Wähler, ihre Deputierten zu jedem Zeitpunkt abzusetzen. Durch seine Mitglieder – direkt von den Arbeitern gewählte Deputierte – übt der Sowjet unmittelbare Führung über alle sozialen Erscheinungen des Proletariats als Ganzes und seiner einzelnen Gruppen aus, organisiert seine Aktionen und liefert ihnen eine Parole und eine Fahne. [45]

Trotzdem, seltsamerweise, nachdem einige Monate vergangen war und die Sowjets nicht mehr eine unmittelbare Erscheinung waren, als Trotzki in seinem Buch Perspektiven und Ergebnisse (1906) über die Lehren der 1905er Revolution nachdachte, erwähnte er die Sowjets gar nicht. Er strengte sich überhaupt nicht an, die Form zu identifizieren, die die revolutionäre Arbeiterregierung annehmen würde: „Die Revolution ist aber zunächst und vor allem eine Frage der Macht – nicht eine Frage der Staatsform (verfassungsgebende Versammlung, Republik, Vereinigte Staaten), sondern des sozialen Inhalts der Macht.“ [46] Er konnte den Sowjet, der entstanden war, beschreiben, aber er hielt für ihn keine Bedeutung außer als historischer Erscheinung.

Für die Menschewiki, die ihn ins Leben gerufen hatten, war der Petersburger Sowjet weder eine Organisation des Kampfes um die Macht, noch eine Regierungsform. Für sie war er bloß ein „proletarisches Parlament“, ein „Organ der Selbstverwaltung“ usw.

 

Fußnote

1*. Eigentlich hatte Lenin schon drei Tage nach dem „Blutsonntag“ die Notwendigkeit von demokratischen Volkskomitees vorgeschlagen, um den Kampf zu führen: „Revolutionäre Komitees werden in jeder Fabrik, in jedem Distrikt, in jedem großen Dorf gegründet. Das aufständische Volk wird alle Regierunggseinrichtungen der zaristischen Autokratie stürzen und die sofortige Einberufung einer konstituierende Versammlung erklären.“ [42]

 

Anmerkungen

1. S.S. Harcave, First Blood: The Russian Revolution of 1905, London 1965, S.23.

2. Pokrovsky, a.a.O., Bd.2, S.52-3.

3. Lenin, Works, Bd.15, S.276. ?!?

4. Lenin, Works, Bd.15, S.276. ?!?

5. Lenin, Werke, Bd.8, S.106.

6. Harcave,a.a.O., S.97.

7. L. Trotsky, 1905, New York 1972, S.77.

8. ebenda, S.76.

9. Lenin, Werke, Bd.8, S.85.

10. ebenda, S.86.

11. ebenda, S.155.

12. Tretij sesd RSDRP, S.54.

13. N. Doroschenko, „Die Rolle der sozialdemokratischen bolschewistischen Organisationen in den Januartagen 1905“, Krasnaja letopis, Nr.3, 1925, S.211; zit. in Schwarz, a.a.O., S.68-9.

14. Doroschenko, a.a.O., S.212.

15. ebenda, S.213-4.

16. ebenda, S.214.

17. Lenin, Werke, Bd.8, S.78-9.

18. ebenda, S.102-3.

19. Krupskaja, a.a.O., S.126-7.

20. Lenin, Werke, Bd.8, S.94.

21. ebenda, S.413.

22. Krupskaja, a.a.O., S.127.

23. „Die Korrespondenz von N. Lenin und N.K. Krupskaja mit S.I. Gussew“, Proletarskaja revoljutsija, Nr.2 (37), 1925, S.23-4, zit. in Schwarz, a.a.O., S.66.

24. ebenda, S.36, in Schwarz, a.a.O.

25. „Die Korrespondenz von N. Lenin und N.K. Krupskaja mit der Odessaer Organisation“, Proletarskaja revoljutsija, Dezember 1925, S.62; zit. in Schwarz, a.a.O., S.157-8.

26. Lenin, Werke, Bd.34, S.347.

27. ebenda, Bd.10, S.153.

28. W.S. Woitinski, Gody pobed i porashenij, Moskau 1923; zit. in J.L.H. Keep, The Rise of Social Democracy in Russia, London 1964, S.230.

29. Woitinski, a.a.O., S.194; zit. in Keep, a.a.O., S.231.

30. B.I. Gorew, Is partijnogo proschlogo, Leningrad 1924, S.75-6; zit. in Schwarz, a.a.O., S.180.

31. Schwarz, ebenda, S.180-1.

32. Nowaja shisn, Nr.5, November 1905; zit. in Lane, a.a.O., S.88.

33. P. Gorin, Otscherki po istorij sowetow rabotschich deputatow w 1905 godu, Moskau 1925; zit. in Schwarz, a.a.O., S.181.

34. W.I. Newski, „Soweti v 1905 godu“, S.39-40; zit. in Schwarz, a.a.O., S.183-4

35. In Swertschkow, Na sare revoljutsij, Moskau 1921, S.6-7; Trotzkis Brief diente als Vorwort; zit. in Schwarz, a.a.O., S.181.

36. Lenin, Werke, Bd.10, S.3-4.

37. ebenda, S.4.

38. ebenda, S.5.

39. ebenda.

40. ebenda, S.8.

41. Trotsky, 1905, S.224.

42. Lenin, Werke, Bd.8, S.87.

43. ebenda, Bd.11, S.111-2.

44. Nettl, a.a.O., Bd.1, S.340.

45. Trotsky, 1905, S.251 u. S.253-4.

46. L. Trotzki, in Nasche slowo, 17. Oktober 1915; zit. in L. Trotzki, Ergebisse und Perspektiven, ohne Angabe von Ort und Datum, S.103.

 


Zuletzt aktualisiert am 18.6.2001