Tony Cliff

 

Lenin 1

 

9. Lenin über den bewaffneten Aufstand

„Große Fragen werden im Leben der Völker nur durch Gewalt entschieden.“ [1]

Für Lenin war der bewaffnete Aufstand der Höhepunkt der Revolution. Die passiven Menschewiki verstanden nie die Rolle der aktiven Vorbereitung auf einem Aufstand. Die alten blanquistischen Putschisten sprachen nur von der technischen Seite des Aufstands und abstrahierten ihn völlig von der allgemeinen Massenbewegung, vom täglichen Leben der Massen, von ihrer Organisation und Klassenbewußtsein. Aber Lenin bezog sich immer und immer wieder auf den Aufstand als Kunst, die aktiver Untersuchung und Ausführung bedarf, aber eine Kunst, die sich auf die allgemeine Bewegung der Revolution bezog.

Marx sagte, daß die Revolution die Hebamme einer neuen Gesellschaft sei; die Geburtshilfe hat spezifische Regel, die studiert werden müssen. Lenin stellte die Frage des Aufstandes aus dieser Sicht und schaute auf die konkreten Umstände. in denen er stattfindet.. Daher stellte er die Frage unterschiedlich in verschiedenen Perioden seines Lebens.

In 1897 vertagte er die Betrachtung der Frage. In seinem Aufsatz „Aufgaben der russischen Sozialdemokraten“ erklärte er:

Im voraus aber Betrachtungen darüber anzustellen, zu welchem Mittel diese Organisation greifen wird, um dem Absolutismus den entscheidenden Schlag zu versetzen, ob sie beispielsweise dem Aufstand, dem politischen Massenstreik oder einer anderen Angriffsnmethode den Vorzug geben wird – darüber im voraus Betrachtungen anzustellen und diese Frage heute zu entscheiden, wäre leerer Doktrinarismus. Das wäre ungefähr dasselbe, wie wenn Generäle den Kriegsrat einberufen, bevor sie das Heer mobilisiert, aufgestellt und gegen das Feind ins Feld geführt hätten. [2]

Das Zusammenziehen einer Armee verlangt allgemeine Organisation, Propaganda und Agitation. In Was Tun? 1902 behandelte er den Aufstand als Frage der allgemeinen Vorbereitung:

Man stelle sich ... einen Volksaufstand vor. In der heutigen Zeit werden wohl alle zugeben, daß wir an ihn denken und uns auf ihn vorbereiten müssen. Aber wie vorbereiten? Die Zentralkomitee kann doch nicht an allen orten Agenten zur Vorbereitung des Aufstands ernennen! Selbst wenn wir ein Zentralkomitee hätten. so würde es unter den gegenwärtigen russischen Verhältnissen durch solche Ernennung absolut nichts erreichen. Das Netz von Agenten hingegen, das sich bei der Arbeit für die Schaffung und Verbreitung der gemeinsamen Zeitung von selbst bildet, brauchte nicht „zu sitzen und zu warten“, bis die Losung zum Aufstand ausgegeben wird, sondern es würde gerade eine solche regelmäßige Arbeit leisten, die ihm im Moment des Aufstands mit größter Wahrscheinlichkeit den Erfolg sichert. Gerade eine solche Arbeit würde unbedingt die Verbindung mit den breitesten Schichten der Arbeiter und mit allen Schichten, die mit der Selbstherrschaft unzufrieden sind, festigen, was für den Aufstand von großer Wichtigkeit ist. Gerade in einer solchen Arbeit würde sich die Fähigkeit herausbilden, die allgemeine politische Lage richtig einzuschätzen, und folglich auch die Fähigkeit, den für den Aufstand passenden Moment zu wählen. Gerade eine solche Arbeit würde alle lokalen Organisationen daran gewöhnen, gleichzeitig auf dieselben, ganz Rußland bewegenden politischen Fragen, Vorkommnisse und Vorfälle zu reagieren, auf diese „Vorfälle“ möglichst energisch, möglichst einheitlich und zweckmäßig zu antworten – denn der Aufstand ist doch im Grunde genommen die energischste, die einheitlichste und zweckmäßigste „Antwort“ des gesamten Volkes an die Regierung. Gerade eine solche Arbeit würde endlich alle revolutionären Organisationen an allen Ecken und Enden Rußlands dazu anhalten, ständige und gleichzeitig streng konspirative Verbindungen zu unterhalten, die die faktische Einheit der Partei schaffen – ohne diese Verbindungen aber ist es unmöglich, den Plan des Aufstands kollektiv zu beraten und am Vorabend des Aufstands die notwendigen Vorbereitungsmaßnahmen zu treffen, über die das strengste Geheimnis gewahrt werden muß. [3]

Die dritte Etappe der Betrachtung der Frage kommt 1905. nach dem Blutsonntag, dem 9. Januar 1905, befördert Lenin den Aufstand als direkten Aufruf in der Zeitung Wperjod und beim dritten Kongreß Mai 1905. In einer„Resolution über den bewaffneten Aufstand“, die er beim Kongreß stellte, erklärt er:

... der III. Parteitag der SDAPR erkennt an, daß die Aufgabe, das Proletariats zum unmittelbaren Kampf gegen die Selbstherrschaft auf dem Wege des bewaffneten Aufstands zu organisieren, eine der wichtigsten und unaufschiebbaren Aufgaben der Partei im gegenwärtigen revolutionären Zeitpunkt ist.

Der Parteitag beauftragt daher alle Parteiorganisationen:

a) dem Proletariat durch Propaganda und Agitation nicht nur die politische Bedeutung, sondern auch die Praktisch-organisatorische Seite des bevorstehenden bewaffneten Aufstands klarzumachen;

b) bei dieser Propaganda und Agitation die Rolle der politischen Massenstreiks zu erläutern, die bei beginn und im Verlauf des Aufstands große Bedeutung haben können;

c) die energischsten Maßnahmen zur Bewaffnung des Proletariats sowie zur Ausarbeitung eines Plans des bewaffneten Aufstands und der unmittelbaren Leitung des Aufstands zu ergreifen und, soweit erforderlich, zu diesem Zweck besondere Gruppen aus Parteifunktionären zu bilden. [4]

Der bewaffnete Aufstand war bei allen Beschlüssen des dritten Kongresses zentral. Jeden Punkt auf der Tagesordnung debattierte und beschloß man mit Bezug darauf.

Einige Monate nach dem Kongreß betonte Lenin wieder in seinem Buch Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution die Dringlichkeit der Vorbereitung des Aufstandes:

Wir müssen zweifellos noch viel, sehr viel tun, um die Arbeiterklasse zu erziehen und zu organisieren, aber die ganze Frage dreht sich heute darum, wo der politische Schwerpunkt dieser Erziehung und dieser Organisation liegen soll. In den Gewerkschaften und den legalen Vereinen oder im bewaffneten Aufstand, in der Schaffung einer revolutionären Armee und einer revolutionären Regierung? Durch das eine wie durch das andere wird die Arbeiterklasse erzogen und organisiert. Und das eine wie das andere ist natürlich notwendig. Heute, in der gegenwärtigen Revolution, läuft jedoch die ganze Frage darauf hinaus, wo der Schwerpunkt der Erziehung und der Organisation der Arbeiterklasse liegen wird, im ersten oder im zweiten. [5]

Kurz danach verkündete er den Urteil: „Große Fragen werden im Leben der Völker nur durch Gewalt entschieden.“ [6]

Am Vorabend des bewaffneten Aufstands in Moskau Dezember 1905 machte Lenin deutlich, daß, wenn einmal die Massen zur Revolution erweckt werden und bereit zu handeln seien, müsse die Partei den zum aufstand aufrufen und den Massen die praktischen Schritte für seinen Erfolg erkläre.

Die Losung des Aufstands bedeutet, daß die Frage durch materielle Kraft entschieden wird – eine solche ist in aber in der modernen europäischen Kultur nur die militärische Kraft. Diese Losung darf nicht ausgegeben werden, solange die allgemeinen Bedingungen des Sturzes nicht herangereift sind, solange die Erregung und die Bereitschaft der Massen zur tat nicht klar heutzutage getreten sind und solange die äußeren Umstände nicht zu einer offenkundigen Krise geführt haben. Ist aber eine solche Losung erst einmal aufgestellt ..., sind die Würfel einmal gefallen, so muß man alle Ausflüchte beiseite lassen, so muß man die breitesten Massen direkt und offen erklären, welches jetzt die praktischen Bedingungen des erfolgreichen Umsturzes sind. [7]

 

 

Der Aufstand als Kunst

Immer wieder, besonders nach dem bewaffneten Kampf in Moskau Dezember 1905, bezog sich Lenin auf den tiefgründigen Satz von Marx und Engels, „daß ... der Aufstand eine Kunst ist und daß die Hauptregel dieser Kunst die mit verwegener Kühnheit und größter Entschlossenheit geführte Offensive ist“. [8] Er betonte die enorme Wichtigkeit des militärischen Wissens, der militärischen Methoden und der militärischen Organisation. Die Arbeiter müßten vom Wissen und von den Methoden der Kapitalisten und von der eigenen Erfahrung im Kampf lernen.

In einem August 1906 geschriebenen Artikel mit dem Titel „Die Lehren des Moskauer Aufstands“ sagt Lenin:

In der allerletzten Zeit macht die militärische Taktik wiederum neue Fortschritte. Der japanische Krieg hat die Handgranate eingeführt. Die Gewehrfabriken haben das Selbstladegewehr auf den Markt geworfen. beide werden in der russischen Revolution zwar schon erfolgreich angewandt, aber bei weitem noch nicht in genügendem Maße. Wir könne und müssen uns technische Vervollkommnungen zunutze machen, müssen die Arbeiterabteilungen lehren, Bomben in Massen herzustellen, müssen ihnen und unseren Kampfgruppen helfen, sich Vorräte an Sprengstöffen, Zündern und Selbstladegewehren zu besorgen. [9]

Und über die Lehren des Moskauer Aufstands schreibt er:

Die militärische Taktik hängt von dem Niveau der militärischen Technik ab – diese Tatsache hat Engels wiederholt erläutert und den Marxisten eingehämmert. Die militärische Technik ist jetzt eine andere als in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Gegen die Artillerie scharenweise vorzugehen und mit Revolver die Barrikaden zu verteidigen wäre eine Dummheit. und Kautsky hatte recht, als er schrieb, daß es nach dem Moskauer Aufstand an der Zeit sei, Engels’ Schlußfolgerung zu überprüfen, und daß Moskau ein „neue Barrikadenkampf“ geschaffen habe. Diese Taktik war die Taktik des Partisanenkrieges. Die Organisation, die durch eine solche Taktik bedingt wurde, war die leicht bewegliche und außerordentliche kleine Abteilung: Zehnergruppen, Dreiergruppen, ja sogar Zweiergruppen, Man kann jetzt bei uns häufig Sozialdemokraten treffen, die verächtlich zu kichern beginnen, wenn die Rede auf Fünfer- und Dreiergruppen kommt. Aber mit diesem Gekicher will man nur auf billige Art darüber hinwegtäuschen, daß man vor einer „neuen“ Frage der Taktik und der Organisation, wie sie bei dem gegenwärtigen Stand der militärischen Technik der Straßenkampf verlangt, die Augen verschließt. Lest euch den Bericht über den Moskauer Aufstand aufmerksam durch, ihr Herrschaften, und ihr werdet begreifen, was für eine Verbindung zwischen den „Fünfergruppen“ und der Frage der „neuen Barrikadentaktik“ besteht!

Moskau hat diese Taktik hervorgebracht, aber noch lange nicht genug entwickelt, bei weitem noch nicht wirklich zur Taktik der breiten Massen gemacht. Es gab wenig Kampfgruppen, die Losung verwegener Überfälle wurde nicht in die Arbeitermasse getragen und von ihr nicht verwirklicht, die Partisanenabteilungen waren ihrem Charakter nach allzu gleichartig, ihre Waffen und ihre Kampfmethoden unzulänglich, ihre Fähigkeiten, die Massen zu führen, nur wenig ausgebildet. Wir müssen das alles nachholen und werden es nachholen, indem wir die Lehren des Moskauer Aufstands auswerten, indem wir diese Lehren unter den Massen verbreiten und die schöpferische Kraft der Massen selbst wecken, um diese Lehren weiter zu entwickeln. [10]

Lenin verstand schon sehr deutlich, daß die Revolution nicht siegreich sein könnte, wenn nicht mindestens ein Teil der Armee zur Seite der Revolutionären übergehe. Das wurde 1917 noch deutlicher. Aber um das zu erreichen, müsse man die Soldaten überzeugen von der Bereitschaft der Arbeiter, die macht zu ergreifen, auch auf Kosten des eigenen Lebens.

Es versteht sich von selbst, daß von einem ernsten Kampf keine Rede sein kann, solange die Revolution nicht zu einer Massenbewegung geworden ist und nicht auch die Truppen erfaßt hat. Selbstverständlich ist die Arbeit unter den Truppen notwendig. Aber man darf sich diesen Übergang der Truppen nicht als einfachen, einmaligen Akt vorstellen, der das Ergebnis einerseits der Überzeugung und anderseits des Bewußtseins ist. Der Moskauer Aufstand zeigt uns anschaulich, wie schablonenhaft und lebensfremd eine solche Auffassung ist. In der Praxis führt das Schwanken der Truppen, das jede wirkliche Volksbewegung zwangsläufig mit sich bringt, bei Verschärfung des revolutionären Kampfes im wahrsten Sinne des Wortes zum Kampf um das Heer ... wir werden traurige Pedanten sein, wenn wir vergessen, daß im Augenblick des Aufstands auch ein physischer Kampf um die Truppen erforderlich ist.

Das Moskauer Proletariat hat uns in den Dezembertagen vortreffliche Lehren erteilt, wie die geistige „Bearbeitung“ der Truppen Aussehen muß, so z.B. am 8. Dezember, als die Menschenmassen auf der Strasnaja Ploschtschad die Kosaken umringten, sich mit ihnen vermischten, mit ihnen verbrüderten und sie veranlaßten, zurückzureiten. Oder am 10. Dezember, als im Stadtteil Presnja zwei junge Arbeiterinnen, die in einer Menge von zehntausend Demonstranten eine rote Fahne trugen, sich den Kosaken mit dem Ruf entgegenwarfen: „Tötet uns! Lebend werden wir die Fahne nicht hergeben!“ Und die Kosaken gerieten in Verwirrung und sprengten fort, begleitet von den Rufen der Menge: „Es leben die Kosaken!“ Diese Beispiele von Kühnheit und Heldenmut müssen für immer im Bewußtsein des Proletariats verankert werden. [11]

In charakteristischer Weise beschränkte sich Lenin nicht zur Ausgabe von allgemeinen Parolen, sondern kümmerte sich auch um praktische Angelegenheiten. Er machte sicher, daß die Kampfschwadronen nicht bloß auf Papier blieben oder von der Routine überwältigt wurden. Unmittelbar nach dem Blutsonntag übersetzte er ins Russische eine Broschüre mit dem Titel Über Straßenkämpfe (Der Rat eines Generals der Kommune) vom General Gustave-Paul Cluseret. General Cluseret hatte während eines abenteuerlichen Lebens an der Unterdrückung des Pariser Arbeiteraufstands im Juni 1848 teilgenommen, hatte aber dann mit Garibaldi in Italien gedient, später mit den Nordstaaten während des amerikanischen Bürgerkriegs (wo er zum General wurde) und wurde schließlich zu einem militärischen Führer der Pariser Kommune. Lenin las auch alles, was er über Militärwissenschaft [Kriegswissenschaft] finden konnte. Seine beliebteste Autorität [Lieblingsautorität] war Clausewitz, Autor des klassischen Studie Über den Krieg. Lenin las wieder sehr vorsichtig alles, was Marx und Engels über Militärischen fragen und den Aufstand geschrieben hatten. Er war der einzige russische Emigrantenführer der in dieser Weise auf Blutsonntag reagierte.

Er verbreitete die Ergebnisse seines Studiums unter seine Genossen. Nachdem er einen Bericht vom Kampfkomitee des Petersburger Komitees über die Organisation der Vorbereitungen für den Aufstand bekam, der ein organisatorisches Schema vorschlug, schrieb er am 16. Oktober und warnte scharf dagegen, Pyramide auf dem Papier aufzubauen und Blaupausen auszuhecken:

... nach den Dokumenten zu schließen, droht die ganze Sache in eine bürokratische Angelegenheit auszuarten. Alle diese Schemas, alle diese Pläne der Organisation des Kampfausschusses machen den Eindruck papiernen Formelkrams – ich bitte meine Offenheit zu entschuldigen, aber ich hoffe, ihr werdet mich nicht der Nörgelsucht verdächtigen. In einer solchen Sache sind Schemas und weitschweifige Diskussionen über die Funktionen des Kampfausschusses und seine Rechte am allerwenigsten angebracht.

Was vor allem notwendig sei, sei Aktion:

Hier braucht man schäumende Energie und nochmals Energie. Ich sehe mit Entsetzen, wahrhaftig mit Entsetzen, daß man schon länger als ein halbes Jahr von Bomben spricht und noch keine einzige hergestellt hat! Und die die davon sprechen, sind hochgelehrte Leute.

Er empfiehlt dem Komitee, sich an die Jugend zu wenden:

Geht zur Jugend, Herrschaften! Das ist das einzige Allheilmittel. Sonst werdet ihr, weiß Gott, zu spät kommen (ich ersehe das aus allem) und mit allen euren „gelehrten“ Entwürfen, Plänen, Zeichnungen, Schemas und großartigen Rezepten, aber ohne Organisation, ohne lebendige Tat dasitzen. Geht zur Jugend. [12]

Dann erklärt er genau die notwendigen praktischen Schritte:

Gründet sofort Kampfgruppen, überall und allerorts, sowohl bei den Studenten als auch besonders bei den Arbeitern usw. usf. Trupps von 3 bis 10, bis zu 30 usw. Mann sollen sich unverzüglich formieren. Sie sollen sich unverzüglich selber bewaffnen, so gut jeder kann, mit Revolvern, Messern, petroleumgetränkten Lappen, um Feuer anzulegen usw. Diese Kampfabteilungen sollen sich unverzüglich Führer wählen und sich nach Möglichkeit mit dem Kampfausschuß des Petersburger Komitees in Verbindung setzen. Verlangt keinerlei Formalitäten, schickt um Gottes willen alle „Funktionen, Rechte und Privilegien“ zum Teufel ... Weigert euch nicht, mit jedem Zirkel in Verbindung zu treten, auch wenn er nur aus drei Personen besteht, unter der einzigen Bedingung, daß er in bezug auf die Polizei unverdächtig und bereit ist, gegen die zaristischen Truppen zu kämpfen. Sollen die Gruppen, die das wünschen, der SDAPR beitreten oder sich der SDAPR anschließen, das wäre ausgezeichnet; aber ich würde es unbedingt für einen Fehler halten, das zu fordern.

Die Rolle des Kampfausschusses beim Petersburger Komitee soll darin bestehen, diesen Abteilungen der revolutionären Armee zu helfen, ihnen als Verbindungs„büro“ zu dienen usw. Jede Abteilung wird eure Dienste gern annehmen, aber wenn ihr in einer solchen Sache mit Schemas und mit Reden über die „Rechte“ des Kampfausschusses ankommt, werdet ihr das Ganze zugrunde richten, glaubt mir, unwiderbringlich zugrunde richten!

Hier muß man durch breite Propaganda wirken. Sollen 5–10 Menschen in einer Woche Hunderte von Arbeiter- und Studentenzirkel aufsuchen, überall eindringen, wo es nur irgend möglich ist, und überall den klaren, kurzen, direkten und einfachen Plan vorschlagen: Bildet sofort eine Kampfabteilung, bewaffnet euch, so gut ihr könnt, arbeitet aus allen Kräften, wir werden euch soweit möglich helfen, aber erwartet nichts von uns, arbeitet selber.

Der Schwerpunkt bei einer solchen Sache liegt in der Initiative der Masse der kleinen Zirkel. Sie schaffen alles. Ohne sie ist euer ganzer Kampfausschuß nichts. Ich neige dazu, die Arbeitsproduktivität des Kampfausschusses nach der Anzahl solcher Abteilungen zu messen, mit denen er in Verbindung steht. Wenn der Kampfausschuß in ein bis zwei Monaten nicht minimum 200-300 Abteilungen in Petersburg hat, dann ist er ein toter Kampfausschuß. Dann muß man ihn begraben. Wer bei der gegenwärtigen Siedehitze nicht Hunderte von Kampfabteilungen auf die Beine bringt, der steht außerhalb des Lebens.

Die Propagandisten sollen jeder Abteilung kurze und einfache Bombenrezepte und elementare Erläuterung der ganzen Arbeitsart geben, dann aber die ganze Tätigkeit ihr selbst überlassen. Die Abteilungen sollen jetzt gleich, unverzüglich ihre militärische Ausbildung mit praktischen Kampfhandlungen beginnen. Die einen werden sofort einen Spitzel töten oder ein Polizeirevier in die Luft sprengen, andere werden eine Bank überfallen, um Geldmittel für den Aufstand zu konfiszieren, wieder andere werden eine Übung veranstalten oder Kartenskizzen anfertigen usw. Jedenfalls muß man gleich von Anfang an in der Praxis lernen, darf sich vor diesen versuchsweisen Überfällen nicht fürchten. Sie können natürlich ins Extrem ausarten, doch das ist eine Gefahr von morgen, die Gefahr von heute aber liegt in unserer Trägheit, in unserem Doktrinarismus, in der gelehrten Schwerfälligkeit und senilen Angst vor Initiative. Jede Abteilung soll selbst lernen, sei es auch durch Verprügelung von Polizisten: Die Dutzende von Opfern werden reichlich aufgewogen durch die hunderte erfahrener Kämpfer, die morgen Hunderttausende in den Kampf führen werden. [13]

Während Lenins allgemeiner Ansatz zur Frage eines bewaffneten Aufstands konsequent und äußerst konkret war, war der technische Rat, den er gab, fehlerhaft und paßte nicht den Bedürfnissen der Zeit. Aus den von ihnen unternommenen Maßnahmen, scheint es, daß er und Leonid Krassin – der bolschewistische Führer der „Kampfgruppen“, dessen Aufgabe es war, Waffen zu beschaffen und herzustellen und den tatsächlichen Aufstand vorzubereiten – Annahmen, daß daß Straßenkämpfen die Form von Massenangriffen und Handgreiflichkeiten Mann gegen Mann. Sie legten deshalb die Betonung auf Handgranaten und Pistolen. Als der Aufstand wirklich Dezember 1905 in Moskau stattfand, fand man heraus, daß diese Nahkampfwaffen sich nicht mit den Gewehren und Artillerie mit langer Reichweite messen konnten, die im Besitz der zaristischen Armee waren, wie Lenin im nachhinein bereitwillig zugab.

Bei dem Aufstand Oktober 1917 gab Lenin wieder Rat, der nicht taktisch der konkreten Lage entsprach (z.B. den Aufstand in Moskau und nicht in Petrograd anzufangen). Dieser Rat wurde glücklicherweise von Trotzki widerrufen, der der eigentliche Organisator des Oktoberaufstands war. 1905 stimmte Karssin dem Leninschen technischen Rat zu. Von der Spitze des Berges kann das Oberkommando das gesamte Schlachtfeld ganz deutlich sehen; aber es kann leicht das fehleinschätzen, was am Boden passiert, wo die Kämpfenden sich gegenseitig angreifen.

 

 

Ein Aufstand kann und sollte zeitlich abgestimmt werden

Februar 1905 argumentierte Lenin schon, daß die revolutionäre Führung nicht bloß den Aufstand planen können sollte, sondern auch planen können müßte.

... einen Aufstand festsetzen, falls wir ihn wirklich vorbereitet haben und falls ein Volksaufstand kraft der eingetretenen Umwälzungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen möglich ist, das ist etwas durchaus Realisierbares ... Kann man die Arbeiterbewegung festsetzen? Nein, das kann man nicht, weil sie sich aus tausend einzelnen Akten zusammensetzt, die durch eine Umwälzung in den gesellschaftlichen Verhältnissen erzeugt werden. Kann man einen Streik festsetzen? Jawohl, ... obwohl jeder Streik das Resultat einer Umwälzung in den gesellschaftlichen Verhältnissen ist. Wann kann man einen Streik festsetzen? Dann, wenn die Organisation oder der Zirkel, die ihn festsetzen, auf die Masse der betreffenden Arbeiter Einfluß haben und den Zeitpunkt der wachsenden Unzufriedenheit und Erregung in der Arbeitermasse richtig einzuschätzen verstehen. [14]

Wenn ein Streik einer entschlossenen Führung bedarf, um Aktionen zu planen und sie zeitlich abzustimmen, ist das Bedürfnis noch größer im Falle eines bewaffneten Aufstands. Nur ein ernsthaft engagierte revolutionäre Partei ist dazu fähig, einen echten Aufstand der Massen zu führen, denn die Massen unterscheiden deutlich zwischen einer schwankenden und einer entschlossenen Führung.

Die Frage der zeitlichen Abstimmung [des Timings], die schon Februar 1905 akut war, wurde 1917 zentral. Während der Monate September und Oktober erflehte, geißelte und bat Lenin die bolschewistische Führung inständig darum, den Tag des Aufstands zu ernennen. „Der Erfolg der russischen sowohl wie der Weltrevolution hängt von zwei, drei Tagen des Kampfes ab.“ [15]

 

 

Lenins merkwürdige schöpferische Phantasie

Lenins Schlußfolgerungen über das Wesen des Aufstandes basierten sich auf der sehr beschränkten Erfahrung des Aufstandes in Moskau im Dezember 1905. An diesem Aufstand beteiligten sich sehr wenige Arbeiter und endete nach einer kurzen Zeit. Einer der Führer des Aufstandes schrieb in seinen Memoiren: „Die Anzahl der bewaffneten Kämpfer betrug wahrscheinlich mehrere Hundert. Die Mehrheit wurden mit ärmlichen Pistolen bewaffnet, aber einige hatten Mauser und Winchester, Waffen, die für Straßenkämpfe stark genug sind.“ Ein anderer herausragender Führer machte die folgende Schätzung:

Wieviele Kämpfer es in Moskau gegeben hat, werden sie mich fragen. Grob geschätzt laut der Information, über die ich verfügte, gab es 700–800 Mitglieder in den Kampfgruppen bewaffnet mit Pistolen. Im Bahngebiet gab es nicht mehr als 100, in Presnja,Chamowniki und Butyrki , einschließlich dem, was wir geerbt hatten, aber ohne die Schmidt-Gruppe, betrug die Zahl 180 oder 200; die Zahl schließt die „Bulldoggen“ und Pistolen, die wir von der Polizei abnahmen, und die doppelläufige Gewehren, die wir von Einwohnern bekamen. [16]

Ein anderer führender Teilnehmer am Aufstand schätzte die Zahl der Kämpfer auf 2.000. [17]

Und wenn wir diejenigen dazu zählen, die als Späher, revolutionäre „Pioniere“ und Sanitäre (ein sehr gefährlicher Dienst in jenen Tagen, da die Truppen Dubasows sonderten besonders diejenigen aus, die den Verwundeten halfen) dienten, werden wir sehr nah an der Zahl von 8.000 sein, die Lenin in seiner Rede zum Anlaß des zwölften Jahrestags unserer ersten Revolution zitierte. [18]

Die ersten Barrikaden wurden am 9. Dezember aufgebaut. Der letzte Widerstand wurde acht Tage später im Presnja-Viertel vom Regiment Semjonowski niedergeschlagen. Aus dem Scheitern dieses Aufstands zog Lenin einen Satz von Schlußfolgerungen, während Plechanow, der jetzt am äußerst rechten Ende der Menschewiki stand, die genau gegensätzliche Schlußfolgerung zog:

„Der zu Unzeit begonnene politische Streik“, sagte Genosse Plechanow, „führte zum bewaffneten Aufstand in Moskau, Rostow usw. Die Kraft des Proletariats erwies sich als unzulänglich für den Sieg. Dieser Umstand war nicht schwer vorauszusehen gewesen. Und deshalb hätte man gar nicht zu den Waffen greifen sollen.“ Die praktische Aufgabe der bewußten Elemente in der Arbeiterklasse „besteht darin, das Proletariat auf seinen Fehler hinzuweisen, ihm das ganze Risiko jenes Spiels, das man bewaffneten Aufstand nennt, klarzumachen“ ... „Wir müssen auf die Unterstützung der nichtproletarischen Oppositionsparteien Wert legen und dürfen sie nicht durch taktlose Ausfälle von uns stoßen.“ [19]

Im Gegensatz zu dieser Selbstgefälligkeit und Passivität bestand Lenins Reaktion darin, die Selbstkritik der Führung zu fordern und eine aktivere Haltung zur Frage des bewaffneten Aufstands zu fordern.

Den Wechsel in den objektiven Bedingungen des Kampfes, der den Übergang vom Streik zum Aufstand erforderte, hat das Proletariat früher als seine Führer gefühlt. Die Praxis ist, wie stets, der Theorie vorangegangen. Der friedliche Streik und die Demonstrationen hörten mit einem Schlage auf, den Arbeiter zu genügen; sie fragten: Was weiter? – und verlangten aktiveres Vorgehen. Die Anweisung zum Barrikadenbau traf in den Stadtteilen mit riesiger Verspätung ein, zu einer Zeit, als im Zentrum schon Barrikaden errichtet wurden. Die Arbeiter gingen in Massen ans Werk, gaben sich aber auch damit nicht zufrieden, fragten: Was weiter? – und verlangten aktiveres Vorgehen. Wir, die Führer des sozialdemokratischen Proletariats, glichen im Dezember dem Heerführer, der seine Regimenter so unsinnig aufgestellt hat, daß der größte Teil seiner Truppen nicht aktiv an der Schlacht teilnimmt. Die Arbeitermassen suchten vergeblich Anweisungen für aktive Massenaktionen.

Es gibt somit nichts Kurzsichtigeres als die von allen Opportunisten aufgegriffene Ansicht, es hätte keinen Sinn gehabt, den unzeitgemäßen zu beginnen, „man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen“. Im Gegenteil, man hätte entschlossener, energischer und offensiver zu den Waffen greifen, hätte den Massen die Unmöglichkeit eines bloß friedlichen Streiks und die Notwendigkeit eines furchtlosen und schonungslosen bewaffneten Kampfes klarmachen müssen. [20]

 

 

Schlußfolgerung

In seiner praktischen, entschlossenen Haltung zum bewaffneten Aufstand unterschied der Bolschewismus radikal vom Menschewismus. So früh wie März 1904 hatte Martow in einer Polemik gegen die bolschewistische Wperjod in einem Kommentar geschrieben, daß die Sozialdemokratie nur in einem sinne „den Aufstand vorbereiten“ könnte – indem sie ihre eigenen Kräfte für einen schließlichen Aufstand des Massen vorbereite. Die technische Seite dieser Vorbereitung, egal wie wichtig sie sei, müsse der politischen Seite der Sache untergeordnet werden. Und die politische Vorbereitung unserer Partei und des ganzen bewußten Proletariats für diese ganz möglichen Aufstand müsse wiederum in die Vertiefung und Verbreiterung der Agitation, in die Konsolidierung und Entwicklung der Organisation aller revolutionären Elemente des Proletariats eingeschlossen werden. [21] Lenins Antwort auf Martow lautete: „Die Trennung der ‚technischen‘ der Revolution von der politischen ist allergrößter Unsinn.“ [22]

In 1907 beim fünften Parteitag in London zeigte Martow noch deutlicher seine Vorstellung der passiven Rolle der Partei in einem bewaffneten Aufstand. „Eine sozialdemokratische Partei darf an einem bewaffneten Aufstand teilnehmen, darf die Massen zum Aufstand aufrufen ..., darf aber nicht einen Aufstand vorbereiten, wenn sie ihrem Programm treu belieben sollte, daß sie nicht eine Partei von ‚Putschisten‘ werden sollte.“ [23]

Lenin sprach sehr verächtlich von Martows Formulierung von der „Bewaffnung des Volkes mit dem brennenden Wunsch, sich zu bewaffnen“. In seinem ersten Artikel, nachdem er die Nachrichten über Blutsonntag hörte, schrieb Lenin: „Die Bewaffnung des Volkes wird zu einer der nächsten Aufgaben der revolutionären Situation.“ [24] Die Frage des bewaffneten Aufstandes sei mit dem Ziel der Revolutionären verbunden: Zielten sie sich darauf, die macht in die eigene Hände zu nehmen, oder nicht? Wie Lenin es ausdrückte: „Man kann nicht kämpfen, wenn man nicht darauf rechnet, den Punkt, um den man kämpft, auch zu besetzen.“ [25]

Es ist unmöglich, krieg konsequent zu führen, während man die Vorstellung des Sieges ablehnt. die Menschewiki glaubten, daß die russische Revolution die liberale Bourgeoisie an die Macht bringen würde. Daraus stammte ihre passive, unentschlossene Haltung zur Frage des Aufstandes. Die Bolschewiki zielten sich auf die Übernahme der Macht; daher ihre entschlußfreudige, unerbittliche, praktische Haltung zur Kunst des Aufstandes.

Oktober 1917 sollte die entscheidende Probe der Leninschen Vorstellung der Wechselwirkung zwischen der Massenbewegung und dem geplanten bewaffneten Aufstand. Um das richtige Gleichgewicht zwischen der politischen Führung und der technischen Planung in einem bewaffneten Aufstand zu erreichen, muß man ihn vorsichtig planen und kühn durchführen. Eine revolutionäre Situation ist kurzlebig und die Stimmung der Massen ändert sich sehr rasch während solcher bewegten Tage. Die revolutionäre Partei muß über den genauen Tag und die genaue Weise entscheiden, wie der Aufstand durchgeführt werden sollte, weil dies eine Frage des Lebens oder des Todes für die Arbeiterklasse ist.

Die Genauigkeit des Leninschen Weitblicks über das Wesen des proletarischen bewaffneten Aufstandes wird vom folgenden Zitat gezeigt. Man könnte leicht, aber falsch annehmen, daß es 1917 statt August 1917 geschrieben wurde:

Seien wir dessen eingedenk, daß ein großer Massenkampf naht. Das wird der bewaffnete Aufstand sein. Er muß nach Möglichkeit an allen Orten zu gleicher Zeit erfolgen. Die Massen müssen wissen, daß sie in einen bewaffneten, blutigen, erbitterten Kampf gehen. Todesverachtung muß die Massen ergreifen und den Sieg sichern. Die Offensive gegen den Feind muß aufs energischste durchgeführt werden; Angriff, nicht Verteidigung, muß die Losung der Massen sein, rücksichtslose Vernichtung des Feindes wird ihre Aufgabe sein; die Organisation des Kampfes wird beweglich und elastisch sein; die schwankenden Elemente des Heeres werden in den aktiven Kampf hineingezogen werden. Die Partei des klassenbewußten Proletariats muß ihre Pflicht in diesem großen Kampf erfüllen. [26]

 

 

Anmerkungen

1. Lenin, Werke, Bd.9, S.123.

2. ebenda, Bd.2, S.344-5.

3. ebenda, Bd.5, S.536-7.

4. ebenda, Bd.8, S.369-70.

5. ebenda, Bd.9, S.5.

6. ebenda, S.123.

7. ebenda, S.367-8.

8. ebenda, Bd.11, S.162.

9. ebenda, S.164.

10. ebenda, S.162–3.

11. ebenda, S.160-1.

12. ebenda, Bd.9, S.342-3.

13. ebenda, S.343-4.

14. ebenda, Bd.8, S.141.

15. ebenda, Bd.26, S.168.

16. Pokrowski, a.a.O., Bd.2, S.208-9.

17. ebenda, S.212.

18. Lenin, Werke, Bd.23, S.258.

19. ebenda, Bd.10, S.103.

20. ebenda, Bd.11, S.159-60.

21. Iskra, 2. März 1904; Dann, a.a.O., S.203.

22. Lenin, Werke, Bd.8, S.163.

23. Pjatji sesd RSDRP, Moskau 1934, S.62.

24. Lenin, Werke, Bd.8, S.87.

25. ebenda, S.395.

26. ebenda, Bd.11, S.165.

 


Zuletzt aktualisiert am 18.6.2001