Tony Cliff

 

Lenin 1

 

12. Die große Generalprobe

Obwohl sie in einer Niederlage endet, war die 1905er Revolution äußerst wichtig bei der Enthüllung der Interessen und Ziele der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen, ihrer jeweiligen Stärken und Schwächen, ihrer jeweiligen Wichtigkeit in der russischen Gesellschaft und der sich verändernden Verhältnisse zwischen ihnen. Sie lieferte auch eine eingehende, obwohl nicht endgültige, Prüfung für die wichtigsten bestehenden Parteien.

Die Jahre der Revolution und des Niedergangs – 1905-07 – waren in Lenins Augen eine gewaltige Gelegenheit für Millionen, Erfahrung anzueignen, eine Lehre zu lernen, die in den Lebenssaft, ins Nervensystem, in die Herzen und Gehirne des Volkes eintreten sollte.

Das wirkliche Wesen der Klasse und der Partei wurden deutlich freigelegt. Alle Parteien schlossen die „die embryonale Periode ihrer Entwicklung“ während dieser Periode ab.

Zum erstenmal haben sich in Rußland die Klassen im offenen politischen Kampf klar voneinander abgegrenzt und ihr bestimmtes Gesicht gewonnen: die heute ... existierenden politischen Parteien ... bringen mit noch nie dagewesener Präzision die Interessen und Positionen der einzelnen Klassen zum Ausdruck, welch in drei Jahren hundertmal schneller gereift sind als in dem vorangegangenen halben Jahrhundert. [1]

Zuallererst entblößte die „Gesellschaft“ sich. Die Liberalen zeigten ihre wahre Farben.

Das, was man vor der Revolution die liberale und die liberal-volkstümlerische „Gesellschaft“ oder den gebildeten Teil und die Vertreterin der „Nation“ überhaupt nannte, die breite Masse der wohlhabenden „Opposition“ aus Adels- und Intellektuellenkreisen, jener Opposition, die scheinbar etwas in sich Geschlossenes, Homogenes war und die Semstwos, die Universitäten, die ganze „anständige“ Presse usw. usf. durchdrang – sie alle offenbarten sich in der Revolution als Ideologen und Anhänger der Bourgeoisie, stellten sich auf einen heute für alle offenkundigen konterrevolutionären Standpunkt gegenüber dem Massenkampf des sozialistischen Proletariats und der demokratischen Bauernschaft. Die Konterrevolutionäre liberale Bourgeoisie bildete sich aus und wächst heran. [2]

Vor allem legten die stürmischen Ereignisse die Rolle dress Proletariats in der Revolution frei.

Die führende Rolle der proletarischen Massen in der ganzen Revolution und auf allen Gebieten des Kampfes, von den Demonstrationen über den Aufstand bis zur „parlamentarischen“ Tätigkeit (in chronologischer Reihenfolge), ist dieser als ein Ganzes genommenen Periode für jedermann greifbar heutzutage getreten. [3]

Die Revolution war eine herrliche Schule der Massen.

Millionen Menschen unseres Volkes haben in den verschiedenartigen Formen des unmittelbar revolutionären und wirklichen Massenkampfes – bis zum „Generalstreik“, bis zur Vertreibung der Gutsbesitzer und Niederbrennung ihrer Herrensitz, bis zum offenen bewaffneten Aufstand – praktische Erfahrungen gesammelt. [4]

Die beste Ausbildung gewinnt man durch den Kampf. In einer Vorlesung über die 1905er Revolution, die er bei einer Versammlung junger Arbeiter in Zürich am 9. Januar 1917 hielt, sagte Lenin:

Wenn die bürgerlichen Herrschaften und ihre kritiklosen Nachtreter, die sozialistischen Reformisten, von der „Erziehung“ der Massen mit so viel Wichtigkeit sprechen, dann meinen sie gewöhnlich etwas Schulmeisterliches, Pedantisches, die Massen Demoralisierendes, ihnen die bürgerlichen Vorurteile Einimpfendes.

Die wirkliche Erziehung der Massen kann niemals getrennt werden vom und außerhalb vom selbständigen politischen und besonders revolutionären Kampfe der Masse selbst geschehen. Erst der Kampf erzieht die ausgebeutete Klasse, steigert ihre Fähigkeit, klärt ihren Verstand auf, stahlt ihren Willen. [5]

Eben in diesem Erwachen der ungeheuren Volksmassen zum politischen Bewußtsein und zu revolutionärem Kampfe besteht die geschichtliche Bedeutung des 22. Januar 1905. [6]

Obwohl die Arbeiter die Revolution nicht gewonnen hätten, hätte die Revolution die Arbeiter gewonnen.

... das russische Proletariat errang durch seinen heldenmütigen Kampf im Verlauf Dreier Jahre (1905–1907) für sich und das russische Volk etwas, zu dessen Erkämpfung andere Völker Jahrzehnte gebraucht hatten. Er erkämpfte die Befreiung der Arbeitermassen von dem Einfluß des verräterischen und verachtungswürdig-ohnmächtigen Liberalismus. Es erkämpfte sich die Rolle des Hegemons im Kampf für die Freiheit, für die Demokratie, als Vorbedingung des Kampfes für den Sozialismus. Es erreichte durch seinen Kampf, daß alle unterdrückten und ausgebeuteten Klassen verstehen, den revolutionären Massenkampf zu führen, ohne den nirgends in der Welt ein ernsthafter Fortschritt der Menschheit erzielt worden ist. [7]

Die Masse der Arbeiter würde nie 1905 vergessen:

Wartet nur, das Jahr 1905 kommt wieder! Das ist die Meinung der Arbeiter. Ihnen bot dieses Jahr des Kampfes ein Schulbeispiel dafür, was zu tun ist. Für die Intellektuellen aber und für die abtrünnig gewordenen Spießer ist dieses Jahr ein „tolles Jahr“, ein Beispiel dafür, was man nicht tun soll. Für das Proletariat muß die Durcharbeitung und kritische Aneignung der Erfahrungen der Revolution darin bestehen, zu lernen, die damaligen Kampfmethoden erfolgreicher anzuwenden, um den Streikkampf von Oktober und den bewaffneten Kampf von Dezember umfassender, konzentrierter, bewußter zu gestalten. [8]

Geschlagene Armeen, sagt man, lernen gut ... eine Errungenschaft der ersten Revolutionsjahre und der ersten Niederlagen im revolutionären Massenkampf steht außer Zweifel: die Tatsache, daß der früheren Schlappheit und Niedergeschlagenheit der Massen der Todesstoß versetzt wurde. Die Trennungslinien sind schärfer geworden. Klassen und Parteien haben sich voneinander abgegrenzt. [9]

Die Revolution habe jede der Hauptparteien in einem permanent Gestalt geformt, das die Wechselfälle des Kampfes nie völlig ändern könnten.

... in Perioden unmittelbaren revolutionären Kampfes bilden sich tiefgreifende und stabile Grundlagen für die Klassengruppierungen und für die Scheidung in große politische Parteien heraus, die dann selbst in den längsten Perioden der Stagnation bestehen bleiben. Einzelne Parteien sich in der Illegalität verbergen, nichts mehr von sich hören lassen, aus dem Vordergrund der politischen Bühne verschwinden, doch bei der geringsten Belebung werden die politischen Hauptkräfte unvermeidlich wieder auftauchen, vielleicht in veränderter Form, aber unbedingt mit demselben Charakter und derselben Richtung ihrer Tätigkeit, solange die objektiven Aufgaben der Revolution, die die eine oder andere Niederlage erlitten hat, noch ungelöst geblieben sind. [10]

 

 

Lenins Betonung auf die Initiative der Massen

Was die Revolution vor allem für Lenin bedeutete, war die praktische Bestätigung seines Glaubens an den riesigen schöpferischen Fähigkeiten der Arbeiterklasse.

In seiner März 1906 geschriebenen Broschüre, Der Sieg der Kadetten und die Aufgaben der Arbeiterpartei, sagt er:

Es handelt sich darum, daß im Vergleich zu den Perioden des kleinbürgerlichen, kadettischen, reformistischen Fortschritts gerade die revolutionären Perioden sich durch größere Breite, größeren Reichtum, größere Bewußtheit, größere Planmäßigkeit, größere Systematik, größere Kühnheit und Zielstrebigkeit des historischen Schöpfertums auszeichnen. Die Herren Blank [Liberalen] aber stellen die Dinge auf den Kopf! Sie geben Armseligkeit für geschichtemachenden Reichtum aus. Sie betrachten die Untätigkeit der getretenen oder zertretenen Massen als einen Triumph der „Systematik“ in der Tätigkeit der Beamten, der Bourgeois. Sie schreien über das Verschwinden von Verstand und Vernunft, wenn die Zeit des Flickwerks von Gesetzentwürfen, an denen alle möglichen bürokratischen Beamtenseelen und liberalen penny-a-liners (Zeilenschinder) herumschustern, durch eine Periode abgelöst wird, in der sich das einfache Volk unmittelbar politisch betätigt und ohne Umstände, direkt und sofort die Organe zur Unterdrückung des Volkes zerbricht, die Macht ergreift und sich das nimmt, was als Besitz all der Ausplünderer des Volkes galt, kurzum, wenn gerade Millionen getretener Menschen zu Verstand und Vernunft erwachen, nicht nur um Bücher zu lesen, sondern um Taten zu vollbringen, lebendige, menschenwürdige Taten, um Geschichte zu machen. [11]

Und wieder:

Das organisatorische Schöpfertum des Volkes, besonders des Proletariats und sodann auch der Bauernschaft, äußert sich in Perioden revolutionärer Wirbelstürme millionenmal stärker, reicher und fruchtbringender als in Perioden des sogenannten ruhigen (sich mit der Langsamkeit eines Ochsenkarrens bewegenden) geschichtlichen Fortschritts. [12]

Jahre später kehrte Lenin zum gleichen Thema zurück: „Der Demokrat ..., welche Illusionen er auch mitunter bezüglich der Interessen und Bestrebungen der Masse hegen mag, ... glaubt an die Masse, an die Aktion der Massen, an die Berechtigung der Stimmungen und die Zweckmäßigkeit der Kampfmethoden der Masse.“ [13]

In der schon erwähnten Zürcher Vorlesung sagte Lenin über 1905:

Das beweist ..., wie groß die schlummernde Energie des Proletariats überhaupt sein kann. Das beweist, daß in einer revolutionären Periode das Proletariat eine – ich sage es ohne jegliche Übertreibung, auf Grund der genauesten Daten der russischen Geschichte –, eine hundertmal größere Kampfkraft entwickeln kann als zu gewöhnlichen, ruhigen Zeiten. Das beweist, daß die Menschheit bis zum Jahre 1905 noch nicht gewußt hat, wie enorm, wie großartig die Steigerung der Kräfte des Proletariats sein kann und sein wird, wenn es gilt, wirklich um große Ziele, wirklich revolutionär zu kämpfen! [14]

 

 

Von den Massen lernen

Wir haben gesehen, daß die Bolschewistische Partei zwischen dem 9. Januar und der Gründung des Petersburger Sowjets den Massen hinterherhinkte. Lenin betonte immer, daß die Partei sich auf den Massen verlassen müßte, „daß die Losungen der Revolutionäre nicht nur Widerhall nicht nur Widerhall fanden, sondern geradezu hinter dem Leben zurückblieben. sowohl der 9. Januar als auch die darauffolgenden Massenstreiks und der Aufstand auf dem ‚Potjomkin‘ – alle diese Ereignisse überflügelten die unmittelbaren Appelle der Revolutionäre.“ [15]

Die zentrale Rolle der Partei bestehe darin, „die revolutionäre schöpferische Tätigkeit der unteren Volksschichten, die in friedlichen Zeiten wenig in Erscheinung tritt, in revolutionären Zeiten aber in den Vordergrund rückt, zur vollen Entfaltung zu bringen“ [16], zu verstehen, „daß das politische Bewußtsein der Massen die Hauptkraft ist“ [17], „die Entwicklung des politischen Bewußtseins und des Klassenbewußtseins der Massen über alles“ zu stellen. [18]

Die Partei müsse immer mit den Massen im Kampf sein, ob im Sieg oder in der Niederlage, ob sie richtig handelten oder Fehler begingen. Wie Lenin es viele Jahre später nach dem Sieg der Oktoberrevolution ausdrückte:

Die unlösliche Verbindung mit der Masse der Arbeiter, das Vermögen, ständig in ihr zu agitieren, an jedem Streik teilzunehmen, auf jede Anforderung der Massen zu reagieren, das ist die Hauptsache für eine kommunistische Partei ... [19]

Wenn die Massen kämpfen, sind Fehler im Kampf unvermeidlich: die Kommunisten, die diese Fehler sehen, sie den Massen erläutern, die Korrektur der Fehler anstreben und unentwegt den Sieg des Bewußtseins über die Spontaneität verfechten, bleiben mit den Massen. [20]

Als Lenin über die kämpfenden Massen sprach, meinte er nicht notwendigerweise die Mehrheit der Arbeiterklasse. Eine revolutionäre Partei muß sich in der Arbeiterklasse basieren, aber nicht notwendigerweise in der Klasse als Ganzem. Für eine ganze historische könnte sie sich nur unter einer Minderheit der Klasse – ihrer Avantgarde – etablieren. Wie Lenin am 22. August 1907 schrieb:

Die Bewegung einer revolutionären offenkundigen Minderheit nicht forcieren – das bedeutet dem Wesen nach, auf revolutionäre Kampfmethoden zu verzichten. Denn es ist völlig unbestreitbar, daß an den revolutionären Aktionen während des ganzen Jahres 1905 eine revolutionäre offenkundige Minderheit teilgenommen hat: gerade weil zwar Massen gekämpft haben, jedoch Massen, die in der Minderheit waren, gerade deshalb haben sie auch keinen vollen Erfolg im Kampf errungen. Aber jene Erfolge, die die Freiheitsbewegung in Rußland überhaupt erreicht hat, all jene Errungenschaften, die sie überhaupt durchsetzte – dies alles ist restlos und ohne Ausnahme nur durch diesen Kampf der Massen errungen worden, die in der Minderheit waren. [21]

Januar 1905 glaubten die meisten Arbeiter, man könne dem Zaren ansprechen wie einem anständigen Menschen. Im Oktober glaubten dieselben Arbeiter, daß, wenn man dem Zaren mit der Faust drohe, es ausreiche, um ihn dazu zu zwingen, Zugeständnisse zu gewähren. Der Generalstreik von Oktober bewies ihnen, daß dieser Glaube nicht stimmte. Die Anwendung von Waffen war der nächste Schritt. Aber wieder wurde diese Idee nicht von der Mehrheit der Arbeiterklasse akzeptiert. Nur eine Minderheit der Moskauer Arbeiter beteiligte sich am bewaffneten Ausstand im Dezember.

Die revolutionäre Partei, die verwurzelt im fortgeschrittenen Teil der Klasse ist, lernt von den Arbeitern im Kampf und lehrt sie gleichzeitig.

 

 

1905 – Schule für Bolschewiki

Die 1905er Revolution war auch eine große Schule für die revolutionäre Arbeiterpartei. Die Revolution ist die beste Prüfung für Theorien und Programme. Sie zerstört jede Art politischer Zweideutigkeit und Erfindung. Die Revolution fordert ideologisch Unversöhnlichkeit. Sie bereinigt das Bewußtsein der fortgeschrittenen Arbeiter von Routine, Trägheit und Unentschlossenheit. Gleichzeitig fordert sie von der Partei wegen sie scharfen Richtungsänderungen, die der Kampf erfährt, außergewöhnliche taktische Fähigkeiten [Fertigkeiten] und Anpassungsfähigkeit zu den sich rasch ändernden Bedürfnisse [Erfordernisse] der Bewegung.

Die Revolution hob nicht nur die Beziehung der Avantgarde-Partei zur Klasse scharf hervor, sondern auch die Beziehung der Parteiführer zur Partei. 1905 war Lenins Führung der eigenen Fraktion als Ganzes unbestreitbar. Aber sei erforderte von ihm eine dauerhafte Anstrengung des Denkens und der Organisation – er mußte in einem Sinne seine Führung jeden Tag wieder bestätigen und seine Partei wieder erobern. Mit dem Beweismaterial von 1905, unterstützt von der Erfahrung von 1917, könnte man lehrreiche Kapitel darüber schreiben, was zur Führung der Leninisten ohne Lenin passiert wäre. Falls das Jahr 1905 die Bolschewiki stählte, stählte es Lenin noch mehr. Seine Ideen, sein Programm und seine Taktik wurden härtestens erprobt während dieser Tage.

Lenin war ganz klar über die führende Rolle des Proletariats und seine Unabhängigkeit von den Liberalen, über die Rolle des Sowjets als Organisationsform des revolutionären Kampfes und als Organisationsform der künftigen revolutionären Regierung, über die Kunst des Aufstandes. Die 1905er Revolution scheiterte trotz der richtigen Taktik und Strategie Lenins. Sie scheiterte, weil das Proletariat und seine Partei ungenügend vorbereitet waren. Das Jahr 1905 war für Lenin eine prächtige Ausbildungsschule [Schulung], die ihn und seine Partei auf die großen Tage von 1917 vorbereitete.

In der gleichen Weise, wie Marx und Engels während der Jahre der „Normalität“ immer wieder auf 1848 zurückschauten als der Punkt, aus dem man das künftige Muster der revolutionären Arbeiterbewegung zu bestimmen, so schaute auch Lenin auf 1905 zurück. Der revolutionäre Massenkampf dieser Periode war der Ansatzpunkt für seine Formulierung und Neuformulierung der Strategie und Taktik des Bolschewismus.

 

 

Anmerkungen

1. Lenin, Werke, Bd.15, S.265.

2. ebenda.

3. ebenda, S.266.

4. ebenda, S.265.

5. ebenda, Bd.23, S.249.

6. ebenda, S.245.

7. ebenda, Bd.16, S.394.

8. ebenda, Bd.15, S.42.

9. ebenda, S.203-4.

10. ebenda, S.271.

11. ebenda, Bd.10, S.252.

12. ebenda, S.258.

13. ebenda, Bd.17, S.282-3.

14. ebenda, Bd.23, S.247-8.

15. ebenda, Bd.13, S.12.

16. ebenda, Bd.8, S.566.

17. Lenin, Works, Bd.11, S.435.

18. Lenin, Werke, Bd.16, S.117.

19. ebenda, Bd.29, S.555.

20. ebenda, S.385.

21. ebenda, Bd.13, S.56-7.

 


Zuletzt aktualisiert am 20.6.2001