Tony Cliff

 

Lenin 1

 

13. Sieg der dunklen Reaktion

 

Die noch fortschreitende Revolution

Obwohl die Revolution seit mehreren Monaten im Rückgang gewesen war und die Reaktion sich eingesetzt hatte, glaubte Lenin weiter, daß sie immer noch im Aufschwung war. Also schrieb er kurz nach der Niederschlagung des Aufstands von Dezember 1905:

Wie ist die Lage der demokratischen Revolution in Rußland: ist sie niedergeschlagen oder machen wir nur eine kurze Zeit der Flaute durch? War der Dezemberaufstand der Kulminationspunkt der Revolution und gleiten wir jetzt unaufhaltsam zu einem „Schipowschen konstitutionellen“ Regime hinab? Oder ebbt die revolutionäre Bewegung im großen und ganzen nicht ab, sondern steigt nach wie vor an, bereitet einen neuen Ausbruch vor, sammelt während der Flaute neue Kräfte und verspricht nach dem ersten mißlungenen Aufstand einen zweiten, der unvergleichlich mehr Aussichten auf Erfolg hat? [1]

Und er antwortete diese Fragen folgendermaßen:

Der neue Ausbruch wird vielleicht nicht im Frühjahr stattfinden; aber er naht und aller Wahrscheinlichkeit nach ist nicht sehr weit weg. Wir müssen ihn bewaffnet, organisiert in militärischer weise und vorbereitet für entschlossene Offensivvorgänge treffen.

In Übereinstimmung damit beriet die bolschewistische Konferenz, die in Tammerfors (Finnland) am 12.-17. Dezember 1905 zusammenkam, auch

Allen Parteiorganisationen, breite Anwendung der Wahlversammlungen, nicht nur um irgendwelche Wahlen zur Duma herbeizuführen, indem sie sich den polizeilichen Einschränkungen aussetzen, sondern um die revolutionäre Organisation des Proletariats auszubreiten und in allen Schichten der Bevölkerung für einen bewaffneten Aufstand zu agitieren. Der Aufstand muß sofort vorbereitet, ohne Verzögerung, und über organisiert werden, den nur sein Sieg uns die Möglichkeit geben wird, eine echte Volksvertretung einzuberufen, d.h. eine frei gewählte Verfassunggebende Versammlung auf der Basis einer allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Stimmenabgabe. [2]

Drei Monate später bestand Lenin in einem Resolutionsentwurf für den Vereinigungsparteitag des SDAPR immer noch darauf, daß der Aufstand eine unmittelbare Aussicht sei: „der bewaffnete Aufstand ist gegenwärtig nicht nur ein notwendiges Mittel des Kampfes um die Freiheit, sondern eine faktische schon erreichte Stufe der Bewegung ...“ [3]

Anfang Juni 1906 schrieb er: „Wir durchleben allem Anschein nach einen der wichtigsten Abschnitte der Revolution. Der neue Ausschwung einer breiten Massenbewegung gegen die alte Ordnung ist schon seit langem erkennbar. Jetzt nähert sich dieser Aufschwung seinem Höhepunkt.“ [4] Noch im Juli betrachtete er die Revolution im aufstieg: „Die Möglichkeit einer gleichzeitigen Aktion in ganz Rußland wächst. Die Wahrscheinlichkeit der Verschmelzung aller Teilaufstände zu einem allgemeinen Aufstand wird größer. Wie nie zuvor fühlen die breiten Schichten der Bevölkerung, daß der politische Streik und der Aufstand als Kampf um die Macht unvermeidlich sind.“ [5]

Aber sechs Monate später, Anfang Dezember, revidierte er seien Schätzung der Lage. Und ohne ein Wort der Entschuldigung erklärte er, warum er hinter anderen – vor allem hinter den Menschewiki – hinterhergehinkt hatte, die die Revolution Monate früher für geschlagen erklärt hatten:

... der Marxist sieht als erster das nahen einer revolutionären Epoche voraus und beginnt das Volk zu wecken und Sturm zu läuten, während die Philister noch ihren sklavischen Untertanenschlaf schlafen. Deshalb betritt der Marxist als erster den Weg des direkten revolutionären Kampfes ... der Marxist verläßt als letzter den Weg des unmittelbaren revolutionären Kampfes, verläßt ihn erst dann, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, wenn auch kein Schimmer einer Hoffnung auf einer kürzeren Weg geblieben ist, wenn die Aufforderung, sich auf Massenstreiks, auf den Aufstand usw. vorzubereiten, offenkundig jeden Boden verliert. Deshalb straft der Marxist mit Verachtung die zahllosen Renegaten der Revolution, die ihm zurufen: Wir sind „fortschrittlicher“ als du, wir haben uns früher von der Revolution losgesagt! Wir haben uns früher der monarchistischen Konstitution „untergeordnet“! [6]

Ein Revolutionär kann nicht die Niederlage der Revolution akzeptieren, bis objektive Tatsachen keinen Platz für Zweifel lassen. Die Revolutionär müssen die letzten sein, die das Schlachtfeld verlassen.

 

 

Die falsche Perspektive

1907 gab es international einen ökonomischen Abschwung, der, so war Lenins Erwartung, eine Wiederbelebung des revolutionären Kampfs verursachen sollte. Daher schrieb er in einer Resolutionsentwurf für den fünften Parteitag der SDAPR: „... eine Reihe von Tatsachen zeugt von der äußersten Verschärfung der wirtschaftlichen Not des Proletariats und seines wirtschaftlichen Kampfes ... es ist erforderlich, gerade diese wirtschaftliche Bewegung als die Hauptquelle und die wichtigste Grundlage der gesamten revolutionären Krise, die sich in Rußland entwickelt, in Rechnung zu stellen“. [7]

Die Ansicht, daß eine Wirtschaftskrise den revolutionären Kampf verstärkt, wurde allgemein von russischen Marxisten akzeptiert. Die einzige Ausnahme war Trotzki und er bewies sich als absolut richtig.

Nach einer Periode großer Kämpfe und großer Niederlagen wirken Krisen auf die Arbeiterklasse nicht erhebend, sondern drückend, rauben ihr die Zuversicht zu ihren Kräften und zersetzen sie politisch. Unter solchen Umständen vermag nur ein neuer industrieller Aufschwung das Proletariat zusammenzuschweißen, zu neuem Leben zu erwecken, ihm das Vertrauen zu seiner Kraft zurückzugeben und es wieder kampffähig zu machen. [8]

Im nachhinein konnte Trotzki zurecht sagen:

Die weltweite industrielle Krise, die 1907 ausbrach, verlängerte die langanhaltende Depression in Rußland für drei zusätzliche Jahre und weit davon entfernt, die Arbeiter zu inspirieren, einen neuen Kampf aufzunehmen, verstreute sie sie und schwächte sie mehr denn je. Unter den Schlägen von Aussperrungen, Arbeitslosigkeit und Armut wurden die müden Massen deutlich entmutigt. Solche war die materielle Basis für die „Errungenschaften“ der Stolypinschen Reaktion. Das Proletariat brauchte den wiederbelebenden Born eines neuen industriellen Aufschwungs, um seine Stärke wieder aufzuleben, seine Reihen zu füllen, wieder sich als den unentbehrlichen Faktor der Produktion zu fühlen und in einen neuen Kampf zu stürzen. [9]

 

 

Siegreiche Reaktion

Die Jahre 1907-10 waren Jahre der furchtbaren Reaktion. Der Rückzug der Arbeiterbewegung läßt sich durch den katastrophalen Rückgang der Streikbewegung nach dem Höhepunkt 1905 messen. [10]

Jahr

Zahl der Streikenden
(Tausende)

Prozentuales Verhältnis
zur Gesamtzahl der Arbeiter

1895-1904
(Durchschnitt)

431

1,46%-5,10%

1905

2.863

163,8%

1906

1.108

65,8%

1907

740

41,9%

1908

176

9,7%

1909

64

3,5%

1910

47

2,4%)

„1908, und noch mehr 1909, war die Zahl der Streikenden viel kleiner noch als der Durchschnitt der zehn Jahre vor der Revolution.“ [11] Der Rückgang der politischen Streiks war besonders deutlich. Die zahlen für Streiktage waren wie folgt: [12]

Jahr

Gesamte
Streiktage

Politische
Streiktage

1895-1904
(insgesamt)

2.079.408

1905

23.609.387

7.569.708

1906

5.512.749

763.605

1907

2.433.123

521.647

1908

864.666

89.021

Der Rückgang der Revolution ließ die Initiative völlig in den Händen der zaristischen Regierung und weiße Massenterror fand statt.

Während der Stolypinschen Diktatur wurden 5.000 Todesurteile verhängt und über 3.500 wurden tatsächlich hingerichtet – das ist mindestens dreimal so viele wie während der ganzen Periode der Massenbewegung (natürlich sind Erschießungen ohne Gerichtsverfahren nach der Unterdrückung des bewaffneten Aufstands nicht eingeschlossen). [13]

 

 

Auflösung der Arbeiterbewegung

Als die revolutionäre Bewegung einmal im Rückzug war und die zaristische Regierung ihr Selbstbewußtsein wieder gewonnen hatte, schritt der Prozeß der Auflösung der Arbeiterbewegung rasch fort. Nachdem sie im Kampf niedergeschlagen worden war, verstärkte sich den Rückgang der Moral und der Rückzug verwandelte sich in eine verheerende Niederlage. Arbeiter zeigten keine Fähigkeit zum weiteren Widerstand. Die gesamte Bewegung fiel auseinander.

März 1908 schrieb Lenin:

Über ein halbes Jahr ist seit dem reaktionären Staatsstreich vom 3. Juni verstrichen, und es steht außer Zweifel, daß dieses erste Halbjahr durch einen ernsten Niedergang und eine Schwächung aller revolutionären Kräfte, einschließlich der sozialdemokratischen, gekennzeichnet ist. Schwankungen, Verwirrung und Zerfall bildeten das allgemeine Merkmal dieses Halbjahrs. [14]

Aber er gab nicht leicht auf. Er klammerte sich an jeden Strohhalm, der auf einen Aufschwung der Bewegung andeuten könnte – wie eine Zunahme der illegalen Veröffentlichungen oder das fortbestehen der lokalen und betrieblichen Gruppen. Januar 1909 erklärte er voller Hoffnung: „Die vor kurzem durchgeführte Gesamtrussische Konferenz der SDAPR bringt die Partei wieder auf den Weg und stellt unverkennbar einen Wendepunkt in der Entwicklung der russischen Arbeiterbewegung nach dem Sieg der Konterrevolution dar.“ [15]

Aber sein Optimismus fehlte jeden Grund und die Zeichen eines Aufschwungs entbehrten jeder Grundlage. In Wirklichkeit gab es bei der von Lenin erwähnten Konferenz bloß vier Delegierte aus Rußland. [16] Stalin beschrieb die Situation zu jenem Zeitpunkt in einem Artikel mit dem Titel „Die Krise in der Partei und unsere Aufgaben“:

Es ist ein Geheimnis vor niemandem, daß unsere Partei durch eine harte Krise geht. Die Migliederverlust der Partei, die Schrumpfung und Schwächung der Organisationen, die Isolation letzterer voneinander und der Mangel an koordinierter Parteiarbeit – alle zeigen, daß die Partei kränklich ist, daß sie durch eine schwerwiegende Krise geht.

Die erste Sache, die die Partei besonders drückt, ist die Isolation ihrer Organisationen von den Massen. Zu einem Zeitpunkt zählten unsere Organisationen Tausende in ihren Reihen und führten Hunderttausende. Zu jenem Zeitpunkt hatte die Partei feste Wurzeln unter den Massen. Das ist jetzt nicht der Fall. Statt Tausende Zehnen und bestenfalls Hunderte sind in den Organisationen geblieben. Bezüglich der Führung von Hunderttausenden, es lohnt sich nicht darüber zu sprechen ... Es reicht aus, auf St. Petersburg anzudeuten, wo 1907 wir etwa 8.000 Mitglieder hatten und wo wir jetzt kaum 300 bis 400 aufstellen können, um sich sofort den vollen Ernst der Krise bewußt zu werden. Wir werden nicht von Moskau, dem Ural, Polen, dem Donezbecken usw. sprechen, die in einer ähnlichen Lage sind.

Aber das ist nicht alles. Die Partei leidet nicht bloß unter Isolation von den Massen, sondern auch von der Tatsache, daß ihre Organisation nicht miteinander verbunden sind, nicht dasselbe Parteileben erfahren, voneinander geschieden sind. St. Petersburg weiß nicht, was im Kaukasus passiert, der Kaukasus weiß nicht, was im Ural passiert usw., jede kleine Ecke lebt sein getrenntes Leben. Streng gesagt haben wir nicht mehr eine einige Partei, die dasselbe Parteileben erfährt, von dem wir alle mit solchem Stolz in der Periode 1905 bis 1907 sprachen. [17]

Die Bewegung war tatsächlich in totaler Unordnung. Zum Beispiel im Sommer 1905 hatte die Moskauer Bezirk 1.435 Mitglieder. [18] Die Zahl stieg Mitte Mai 1906 auf 5.320. [19] Aber bis Mitte 1908 war sie auf 250 gefallen, und sechs Monate später betrug sie 150. In 1910 hörte die Organisation auf zu existieren, als die Stelle des Bezirkssekretärs in die Hände eines bestimmten Kukuschkin, eines Agenten der Ochrana, der Geheimpolizei, fiel. [20]

Die ersten, die den sinkenden Schiff verließen, waren die Intellektuellen. März 1908 bemerkte Lenin über „die Flucht der Intellektuellen aus der Partei“ und zitierte mehrere Korrespondenten, um diese Erklärung zu unterstützen.

„In der letzten Zeit ist die Kreisorganisation mangels Kräften aus den Reihen der Intellektuellen eingegangen“, heißt es in einer Zuschrift aus dem Werk in Kulebaki (Kreisorganisation Wladimir im Zentralen Industriegebiet). „Unsere ideologischen Kräfte schmelzen wie Schnee dahin“, berichtet man aus dem Ural. „Die Elemente, die illegale Organisationen überhaupt meiden ... und die sich der Partei nur während des revolutionären Aufschwungs und der damals vielerorts herrschenden faktischen Freiheit angeschlossen haben, haben unsere Parteiorganisation verlassen.“ Und der Artikel des Zentralorgans „Über Organisationsfragen“ zieht das Fazit aus diesen (und anderen, nichtveröffentlichten) Mitteilungen, wenn darin geschrieben steht: „Die Intellektuellen desertierten in letzter Zeit bekanntlich in hellen Scharen aus der Partei.“ [21]

Ein Jahr später am ende Januar 1909 beschrieb Lenin den traurigen Zustand der Bewegung mit folgenden Worten:

Ein Jahr des Zerfalls, ein Jahr der ideologisch-politischen Zerfahrenheit, ein Jahr der Weglosigkeit für die Partei liegt hinter uns. Alle Parteiorganisationen haben an Mitgliedern eingebüßt, einige – und zwar jene, die am wenigsten aus Proletariern bestanden – sind eingegangen ...

Die Hauptursache für die Krise der Partei ... besteht in der Säuberung der Arbeiterpartei von den schwankenden intellektuellen und kleinbürgerlichen Elementen, die sich der Arbeiterbewegung vor allem in der Hoffnung auf einen nahen Sieg der bürgerlich-demokratischen Revolution angeschlossen haben und in der Periode der Reaktion nicht standzuhalten vermochten. Die mangelnde Standfestigkeit zeigte sich auf dem Gebiet der Theorie („Abweichungen vom revolutionären Marxismus“ ...), auf dem Gebiet der Taktik („Beschneiden der Losungen“) wie auf dem Gebiet der Organisationspolitik der Partei. [22]

In einem Brief an Maxim Gorki, die Februar oder Anfang März 1910 geschrieben wurde, merkte er wieder „den riesigen Verfall der Organisationen überall, fast ihr Ende in vielen Örtlichkeiten. Die massenhafte Flucht der Intelligenz. Alles, was übrig bleibt, ist Arbeiterzirkel und isolierte Individuen. Der junge unerfahrene Arbeiter kommt mit Schwierigkeit nach vorne.“ [23]

Im Oktober desselben Jahres schrieb er:

Die schwere Krise der Arbeiterbewegung und der sozialdemokratischen Partei in Rußland dauert immer noch an. Zerfall der Parteiorganisationen, aus denen fast alle Intellektuellen flüchten, Zerfahrenheit und Schwankungen unter denen, die der Sozialdemokratie treu geblieben sind, Niedergeschlagenheit und Apathie unter ziemlich breiten Schichten des fortgeschrittenen Proletariats, Unsicherheit nach dem Ausweg aus dieser Lage – das sind die Merkmale, die die gegenwärtige Situation kennzeichnen. [24]

Im Dezember beschwerte er sich darüber, „daß das Russische Kollegium des Zentralkomitees ein Jahr lang nicht ein einziges Mal zusammengekommen ist ...“ [25] Im Mai 1911 schrieb er: „Die reale Lage in der Partei ist jetzt so, daß fast überall im Lande formal ganz und gar nicht gegliederte, kleine und kleinste, unregelmäßige zusammentretende, von Arbeitern gebildete Parteigruppen und -zellen bestehen ... Sie haben keine Verbindung miteinander. Literatur erhalten sie höchst selten.“ [26]

Die Aktivitäten von Agents provocateurs trug zur Auflösung der Bewegung bei. Im Jahre 1910 und Anfang 1911 wurden alle bolschewistischen Mitglieder des Zentralkomitees, die in Rußland arbeiteten, verhaftet. [27]

Die Ochrana unterwanderte fast alle Parteiorganisationen und die Atmosphäre des Verdachts und des gegenseitigen Mißvertrauens durchkreuzte alle Initiative. Anfang 1910 nach mehreren wohlüberlegten Verhaftungen wurde der Provokateur Kukuschkin zum Chef der Moskauer Bezirksorganisation. „Das Ideal der Ochrana wird verwirklicht“, schrieb ein Aktivist. „Geheimagenten sind an der Spitze aller Moskauer Organisationen.“ Die Situation in Petersburg war kaum besser. „Die Führung war anscheinend vernichtend geschlagen worden, es gab keine Weise, sie wiederherzustellen, Provokation nagte an unseren lebenswichtigen Organen, Organisationen fielen auseinander.“ Kein einziger Parteitag fand im Ausland Statt, an dem sich nicht mindestens ein Agent der Ochrana beteiligte.

Als 1912 die legale bolschewistische Tageszeitung in Petersburg begründet wurde gab es zwei Polizeiagenten [Spitzel], Miron Tschernomasow und Roman Malinowski, in der Redaktion; erstere war ein Redakteur und Vorsitzender der Redaktion, letztere war Mitarbeiter und Kassierer. Von Malinowski bekam die Polizei eine vollständige Liste aller Leute, die der Zeitung eine Spende gaben, und eine vollständige Liste aller Abonnenten. Malinowski war auch Vorsitzender der bolschewistischen Fraktion in der Duma und Mitglied des Zentralkomitees. Lenin bewunderte ihn: „Zum erstenmal haben wir in der Duma unter den unsrigen einen hervorragenden Arbeiterführer ...“ [28] Er rief ihn regelmäßig ins Ausland für die vertraulichsten Versammlungen [Plenen] und vertraute ihn mit wichtigen Geheimnissen.

Sinowjew, der sehr eng mit Lenin arbeitete, sagte später: „Während dieser unglücklichen Periode hörte die Partei als ganze auf zu existieren.“ [29]

 

 

Das Leben im Exil ist unerträglich

Während der Periode der Reaktion wurde das leben für Revolutionäre im Ausland fast unerträglich. Während eines Spaziergangs durch die Genfer Straßen murmelte Lenin: „Ich habe das Gefühl, als ob wir hierher gekommen sind, um uns ins Grab zu legen.“ In einer Bemerkung darüber sagt Krupskaja: „... unsere zweite Emigration ... war viel schwerer als die erste.“ [30]

Lenins erster Aufenthalt im Ausland dauerte fünf Jahre, aber sie waren Jahre einer aufsteigenden Bewegung, Jahre der Hoffnung. Der zweite dauerte zehn und begann mit der Reaktion und dem Zusammenbruch der Bewegung.

Isoliert und impotent verwickelten die Emigranten sich in heftigen Streiten, denunzierten sich gegenseitig bitter, beschuldigten alle andere, Verräter zu sein, und machten sich gegenseitig für ihre schrecklichen Niederlagen verantwortlich. Lenin beschrieb den Qual:

... es gibt viel Schweres in den Emigrantenkreisen ... In diesen Kreisen gibt es mehr Elend und Not als irgendwo anders. Hier ist der Prozentsatz der Selbstmorde besonders groß, hier ist der Prozentsatz der Menschen, die nur ein einziges Bündel kranker Nerven sind, unwahrscheinlich, grauenhaft noch. Kann es anders sein inmitten solch gepeinigter Menschen? [31]

Am 14. Januar 1908 schrieb er an seine Schwester Maria: „Wir stecken jetzt schon einige Tage in diesem verfluchten Genf ... Ein elendes Nest, aber da läßt sich nichts machen. Wir werden uns daran gewöhnen.“ [32]

Etwa zehn Monate später , als er plante, nach Paris umzuziehen, schrieb er an seine Mutter: „Wir hoffen, daß die Großstadt uns alle etwas aufmuntern wird; wir haben es satt, in diesem provinziellen Krähwinkel herumzusitzen.“ [33]

Noch ein Jahr später in Februar 1910 schrieb er: „Paris ist in vieler Hinsicht ein elendes Nest ... Ganz habe ich mich bis heute (ein Jahr, nachdem ich mich hier niedergelassen habe) noch nicht an Paris gewöhnen können ...“ [34]

Im Herbst 1911, als Anna kam, um ihn in Paris zu besuchen, konnte er nicht von ihr verstecken, daß die zweite Emigration sehr schmerzlich gewesen war: „Seine Stimmung war ... spürbar weniger zuversichtlich als sonst. Einmal, während eines Spaziergangs zu zweit, sagte er mir: ‚Ob ich die nächste Revolution noch erleben werde?‘“ [35]

Am 11. April 1910 schrieb er an Gorki: „Das Emigrantendasein ist heute hundertmal drückender als vor der Revolution. Emigrantendasein und Gezänk sind untrennbar miteinander verbunden.“ [36]

Auf dem Niveau des Haushalts blieb die Armut ihnen auf den Fersen. Krupskaja erinnerte sich daran:

Viele lebten ein außerordentlich kümmerliches dasein. Die Arbeiter fanden meist irgendeinen Verdienst, aber den Intellektuellen ging es schlecht. Nicht immer stand es in ihren Kräften, sich als Arbeiter ihren Unterhalt zu verdienen. von den Mitteln der Emigrationskasse zu leben, ... an dem Mittagstisch der Emigranten zu essen war völlig unerträglich. Ich entsinne mich noch einiger besonders trauriger Fälle. Eine Genosse wurde Lackierer, aber er erfaßte diese Kunst nicht sofort und mußte oft die Stelle wechseln. Er lebte weit von dem Emigrantenzentrum entfernt in einem Arbeiterviertel. Und eines schönen Tages war er soweit, daß er vor Hunger völlig entkräftet war und nicht mehr aufstehen konnte; er schrieb einen Zettel, daß man ihm etwas Geld bringen, aber nicht zu ihm hinaufkommen, sondern esse bei der Concierge lassen sollte ...

Schwer hatte es auch Nikolai Wassiljewitsch Saposhkow (Kusnezow); er hatte mit seiner Frau Arbeit gefunden: Sie bemalten Tongeschirr. aber sie verdienten dabei so wenig, daß man deutlich beobachten konnte, wie das Gesicht dieses starken und kräftigen Menschen sich durch die Unterernährung mit Runzeln bedeckte. Doch niemals verlor er auch nur ein Wort über seine Lage. Und es gab viele solche Fälle. Am schlimmsten stand es jedoch mit dem Genossen Prigara, einem Teilnehmer am Moskauer Aufstand. Er wohnte irgendwo in einer Arbeitervorstadt, und die Genossen wußten nur wenig von ihm. Eines Tages kommt er zu uns und fängt an, überstürzt, irgend etwas Zusammenhangsloses von Wagen voller Garben, von einem schönen Mädchen, das auf dem Wagen steht, usw. usw. zu erzählen. Zweifellos war er wahnsinnig geworden. Und der erste Gedanke war: er war es vom Hungern geworden. Meine Mutter machte ihm schleunigst etwas zu essen, der ganz blaß gewordene Iljitsch blieb bei ihm sitzen, und ich selbst lief schnell zu einem bekannten Nervenarzt. Der Arzt kam, sprach mit dem Kranken und erklärte dann, daß dies eine schwere Form von Geistesgestörtheit sei, durch dauernde Unterernährung verursacht. Augenblicklich sei noch nichts zu befürchten, wenn aber die Krankheit in Verfolgungswahn überginge, so bestände Selbstmordgefahr, und man müßte ihn beobachten. Wir wußten nicht einmal, wo er wohnte. Britman wollte ihn nach hause bringen, Prigara lief ihm aber davon. Wir brachten unsere ganze Gruppe auf die Beine, konnten ihn jedoch nirgends finden. Schließlich fand man seine Leiche in der Seine, mit Steinen um den Hals und an den Füßen. Er hatte sich das Leben genommen. [37]

 

 

Schlechte Kommunikation mit Rußland

Ihre Isolation von der winzigen Bewegung, die in Rußland überlebte, fügte zur Belastung des Lebens und der Nerven von Lenin und seinen Mitarbeitern im Ausland hinzu. Kommunikation zwischen Lenin und dem Untergrund war immer dürftig, aber in der Periode der Reaktion verschlechterte sie sich noch mehr, bis sie praktisch nicht mehr existierten.

Die Mehrheit der persönlichen Kontakte, die Lenin gemacht hatte, wurden bei Versammlungen der Partei bzw. der Fraktion geknüpft. Aber diese wurden jetzt von Delegierten aus dem russischen Inland sehr schwach besucht. Die Konferenz von Dezember 1908, wie schon erwähnt, hatte bloß vier Delegierte aus Rußland. Die nächste Versammlung, „die erweiterte Redaktion des Proletarij“, die sechs Monate im Juni 1909 später stattfand, wurde von fünf delegierten aus Rußland besucht: drei aus denselben Gebieten wie zur Dezemberkonferenz und zwei die gerade aus Sibirien entkommen waren, die daher nicht auf dem laufenden waren.

Gorki, der zu jener Zeit ein politischer Gegner von Lenin war, obwohl die beiden häufig korrespondierten, hatte etwas mehr Erfolg mit seiner Schulung, die August 1909 in Capri eröffnet wurde. Trotzdem wurde auch dieses Ereignis nur von dreizehn russischen Komiteemitgliedern besucht. Es ermöglichte Lenin, seine Kontakte etwas auszudehnen, da fünf Schüler und ein Organisator im November die Schulung als „Leninisten“ verließen und kamen nach Paris, um Lenin zu treffen. Die anderen acht Schüler taten das Gleiche, als die Schule im Dezember endete.

So traf Lenin zwischen Dezember 1908 und Dezember 1909 nur 22 russische Komiteemitglieder. Während der nächsten 15 Monate bis zur Lenins eigener Schulung in Longjumeau, die im Frühjahr 1911 gehalten wurde, traf er überhaupt keine russische Komiteemitglieder. Im Dezember 1910 hatte er versucht, „das Capri-Experiment zu wiederholen“ mit den Schülern bei der Schulung, die Bogdanow und Lunatscharsky, auch zu diesem Zeitpunkt Gegner von Lenin, in Bologna organisiert hatten, aber dieses mal schlug sein Versuch völlig fehl. [38]

Korrespondenz mit Rußland war auch sehr unregelmäßig. Vor dem 1903er Parteitag schrieb Lenin etwa 300 Briefe im Monat nach Rußland, aber jetzt schrumpfte seine Korrespondenz auf fast nichts zurück. Die Werke (5. russische Ausgabe), die seine Briefe für diese Periode enthalten, geben sehr wenige Briefe nach Rußland her bzw. erwähnen nur wenige solche Briefe: 9 für das gesamte 1909, 15 für 1910, 7 für 1911 und 8 für die erste Hälfte von 1912. (Die Anzahl steigt beträchtlich danach: 31 für die zweite Hälfte von 1912, 43 für 1913, 35 für die ersten 7 Monate von 1914.) [39]

Um die Sache noch schlimmer zu machen, waren die russischen Korrespondenten oft nicht sehr hilfreich. Sie schrieben oft mit sehr schwer verständlicher Sprache entweder wirklich, so daß sie die Zensoren täuschen könnten, oder als Ausrede, als sie entweder nichts zu berichten hatten oder die wirkliche Lage verdunkeln wollten. So beschwert sich Lenin: „Nikolai hat einen Brief eingeschickt, der voll mit freudigen Ausrufen, aber völlig nutzlos ist“, und „anstatt Briefe schicken Sie uns verschiedene telegraphisch kurze Ausrufe, die völlig unverständlich sind“ und „ich habe Ihre beiden Briefe erhalten und bin von ihnen sehr überrascht. Was könnte einfacher scheinen, als uns einfach und deutlich zu schreiben, was los ist“. [40] Häufig schrieben sie überhaupt nicht und verstreut durch Lenins Briefe ab 1909 bis 1916 findet man Bemerkungen wie: „Es ist schade, daß wir früher keine Nachricht von Ihnen bekamen – wir sind hier schrecklich abgeschnitten, wir versuchten Kontakt mit Ihnen und Wjatsch aufzunehmen, hatten aber keinen Erfolg“ [41], oder „Liebe Genossen, wir haben keine Nachrichten von Ihnen seit langen erhalten“ (dies zum russischen Büro des Zentralkomitees!) [42]; diese einzelnen Bemerkungen sind im Appell zusammengefaßt: „Um Gottes willen geben Sie uns mehr Kontakte. Kontakte, Kontakte, Kontakte, das ist was uns fehlt.“ [43]

Die Schwierigkeiten wurden durch die Tatsache vergrößert, daß das Verteilungssystem für die bolschewistischen Zeitungen, die bis 1910 alle im Ausland hergestellt wurden, nach 1905 zusammenbrach und nie wieder richtig neu gebildet wurde. Man konnte kaum Exemplare ins Rußland einschmuggeln. Außerdem beschwerten sich die Komiteemitglieder oft darüber, daß die im Ausland veröffentlichten Zeitschriften so weit vom laufenden entfernt seien, daß sie fast nutzlos seien. Im Jahre 1909 schrieb Stalin:

die Organe, die im Ausland veröffentlicht werden, abgesehen davon, daß sie Rußland in äußerst beschränkten Mengen erreichen, hinken natürlich dem Verlauf des Parteilebens in Rußland hinterher, sind unfähig dazu die Fragen, die die Arbeiter aufregen, rechtzeitig zu bemerken und darüber zu kommentieren und können deshalb nicht unsere lokalen Organisationen durch permanente Verbindungen zusammenbinden. [44]

Dies ist ein gutes Beispiel von der Denkweise eines „praktischen“ Aktivisten, der stolz über die organisatorische Arbeit, die er unter schwierigen Bedingungen durchgeführt hat, und verächtlich gegenüber den Diskussionsgruppen von Emigranten ist, über die er „hinausgewachsen“ ist. Sie wurde von Pjatnitski beim Prager Parteitag 1912 wiedergegeben: „Ich griff die Redaktion gewaltig an, weil sie manchmal vergaß, daß das Zentralorgan – der Sotsial-demokrat – nicht nur für die Genossen im Ausland existierte, die mit all den Parteistreiten vertraut sind, sondern hauptsächlich für die Genossen in Rußland.“ [45]

Dr. N.A. Sematschko, selbst ein Emigrant, schrieb nach der Revolution: „Gewöhnlich wurden Streiten unter Emigranten als die Zusammenstöße von Ewiggestrigen betrachtet, die vom Leben abgeschnitten wurden. In bedeutendem Ausmaß dachte auch ich, der an diesen Streiten teilnahm, so.“ [46] Eins der Mitglieder des Zentralkomitees, Suren Spandarian, drückte beim Parteitag Januar 1912, der ihn wählte, Zweifel über die Notwendigkeit der Emigrantengruppen überhaupt aus: „Laßt diejenigen, die arbeiten wollen ..., mit mir nach Rußland fahren.“ [47]

 

 

Lenin lehrt, wie man sich zurückzieht

Eine Armee im Rückzug zu führen, ist normalerweise eine viel schwierigere Aufgabe, als eine zu führen, die auf der Offensive ist. Ohne Zweifel war einer der schwierigsten Kapitel in der Geschichte des Bolschewismus der der Jahre der Reaktion, Jahre, während deren Lenin isolierter denn je zuvor bzw. danach war. Viele Jahre später konnte er zurückblicken und beobachten [bemerken], daß revolutionäre Führer lernen müssen, wie sie zurückziehen sollten.

Die revolutionären Parteien mußten ihre Bildung vervollständigen. Sie lernten, wie man angreift. Jetzt mußten sie verstehen, daß solches Wissen mit dem Wissen darüber, wie man in guter Ordnung zurückziehen kann, ergänzt werden muß. Sie mußten verstehen – und gerade aus bitterer Erfahrung lernt die revolutionäre Klasse das zu verstehen – daß der Sieg unmöglich ist, wenn man nicht gelernt hat, wie man richtig angreift und zurückzieht.

Und mit gerechtfertigtem Stolz fuhr er fort und erzählte:

Von allen niedergeschlagenen oppositionellen und revolutionären Parteien führten die Bolschewiki den ordentlichsten Rückzug durch mit der wenigsten Verlust für ihre „Armee“, mit ihrem Kern am besten konserviert, mit den am wenigsten bedeutenden Spaltungen (was Tiefe und Unheilbarkeit betraf), mit der wenigsten Demoralisierung und im besten Zustand für die Wiederaufnahme der Arbeit im breitesten Ausmaß und in der richtigsten und energischsten Weise. Die Bolschewiki errangen dies nur deswegen, weil sie rücksichtslos die revolutionären Phrasendrescher enthüllten und ausschlossen, diejenigen, die nicht verstehen wollten, daß man zurückziehen mußte, daß man wissen mußte, wie man zurückzieht. [48]

Konkret gesagt, der Rückzug bedeutet, vom Feld des unmittelbaren, offenen, revolutionären Kampfes zurückzuziehen und statt dessen „selbst in den reaktionärsten Parlamenten, in den reaktionärsten Gewerkschaften, Genossenschaften, Versicherungskassen und ähnlichen Organisationen legal zu arbeiten“. [49]

 

 

Haltung zu den Dumawahlen

Mehrere Jahre lang (1906-10) war die Frage, welche Haltung man zur Duma haben sollte, von zentraler Bedeutung. Dieses Problem führte Lenin zu Meinungsverschiedenheiten mit der Mehrheit seiner eigenen Fraktion – der Bolschewiki – sowie, aus anderen Gründen, mit der Menschewiki.

Die Frage tauchte so früh wie Mai 1905, vor sowohl dem bolschewistischen als auch dem menschewistischen Parteitag, als angekündigt wurde, daß der Zar dem neuen Innenminister Bulygin angewiesen hatte, einen Entwurf für eine beratende Vertreterversammlung auszuarbeiten. Die Menschewiki befürworteten die Teilnahme an den Wahlen. Sie änderten nicht ihre Position, auch als am 6. August die Statuten der Duma veröffentlicht wurden, die deutlich machten, daß sie sehr beschränkte Befugnisse haben würde und aß der Wahlprozeß sehr undemokratisch sein würde. Die Wähler sollte nach sozialen „Ständen“ aufgeteilt werden, mit äußerst beschränkter Vertretung für die Arbeiter, und es sollte mehrere Etappen im Wahlprozeß geben. Die Bolschewiki entschieden sich für einen „aktiven“ Boykott der Wahlen.

Anfang September entschied eine Konferenz aller Sozialdemokraten – Bolschewiki, Menschewiki, lettischer Sozialdemokraten, polnischer Sozialdemokraten, des Jüdischen Bundes und der Revolutionären Partei der Ukraine – mit der Ausnahme der menschewistischen Vertreter, den Boykott zu unterstützen. Lenin erklärte, was er implizierte, in einem Artikel mit dem Titel „Der Boykott der Bulyginschen Duma und der Aufstand“, der August 1905 geschrieben wurde: „Im Gegensatz zur passiven Enthaltung muß der aktive Boykott eine verzehnfachte Agitation bedeuten, die Abhaltung von Versammlungen überall und allerorts, die Ausnutzung der Wahlversammlungen, sei es auch dadurch, daß man gewaltsam in sie eindringt, die Veranstaltung von Demonstrationen, politischen Streiks usw. usf.“ [50]

Am 11. Dezember wurde ein Statut mit einem neuen Wahlgesetz veröffentlicht. Dies, während es die Aufteilung der Wähler in sozialen „Stände“ und die vielen Etappen des Wahlprozesses bestätigte, machte bedeutende Zugeständnisse in Richtung der Arbeiter- und Bauernvertretung. Es erhöhte beträchtlich die Anzahl der Vertreter, die von den Arbeitern, und noch mehr von den Bauern, gewählt werden sollten, Nichtsdestotrotz waren das mehrfache Wahlrecht der reicheren teile der Gesellschaft und die indirekten Wahlen offen undemokratisch, indem sie das System gewichteten, um den Großgrundbesitzern mehr Vertretung als den Bauern zu geben; Arbeiter und Bauern sollten getrennt von den anderen Klassen der Gesellschaft ihre Stimmen abgeben.

Es sollte einen Wahlmann für jede 2.000 Wähler in der Grundbesitzerkurie geben, einen für jede 7.000 in der Städtekurie, d.h. die Stimme eines Gutsbesitzers entsprach den Stimmen von drei Angehörigen der städtischen Bourgeoisie, den Stimmen von 15 Bauern und den Stimmen von 45 Arbeitern. Die Wahlmänner aus den Arbeiterkurien bildeten nur 4 Prozent der Wahlmänner, die Abgeordnete zur Staatsduma wählten. [51]

Als Lenin für einen aktiven Boykott der Dumawahl argumentierte, machte er deutlich, daß die Taktik auf seiner Voraussetzung beruhte, daß die Revolution weiter Schwung gewinnen würde. Er schrieb: „... aktiver Boykott ... ist undenkbar ohne eine klare, genaue und direkte Losung. Diese Losung kann nur der bewaffnete Aufstand sein.“ [52] Nach der Niederschlagung des Moskauer Aufstands Dezember 1905 argumentierte er weiter für den Boykott mit der Begründung, daß die Revolution nur vorläufig aufgehalten worden sei und ein weiterer Aufstand nicht weit entfernt sei.

Schließlich boykottierten sowohl die Bolschewiki als auch die Menschewiki, die ihre Meinung geändert hatten, die Wahlen, aber einzelne Sozialdemokraten kandidierten sich den Anweisungen der Partei zum Trotz. Viele von ihnen waren ziemlich erfolgreich., was ein eiliges Eingeständnis von den Menschewiki brachte, daß sie beim Boykott der Wahlen einen Fehler begangen hätten. Als die Duma sich am 28. April 1906 versammelte war eine Anzahl Sozialdemokraten unter den Abgeordneten. Vierzehn von ihnen waren in einer getrennten sozialdemokratischen Fraktion organisiert. In späteren Wahlen gelang es den georgischen Menschewiki, weitere fünf Abgeordnete wählen zu lassen.

In Mai bemerkte Lenin über diesen Wahlsieg in einem Artikel mit dem Titel „Der sozialdemokratische Wahlsieg in Tiflis“:

Wir begrüßen den Erfolg unserer kaukasischen Genossen ... Unsere Leser wissen, daß wir für den Boykott der Duma waren ... Aber selbstverständlich werden wir alle als Mitglieder der einheitlichen Partei jetzt den Sozialdemokraten, die wirklich von der Partei nominiert worden und auf wirklich parteimäßigem Weg in die Duma gelangt sind, nach Kräften helfen, ihre schwierige Aufgabe zu erfüllen. [53]

Als der Stockholmer Parteitag der SDAPR (April/Mai 1906) Schi versammelte, schlugen die menschewistischen Delegierten aus dem Transkaukasus vor, daß die Partei ihren Boykott aufgeben und Kandidaten für die immer noch bevorstehenden Wahlen ernennen sollte. Die bolschewistische Fraktion beschuldigte den Menschewiki des Verrats. Aber zu ihrer Bestürzung fanden sie heraus, daß Lenin der einzige bolschewistische Delegierte war, der die Menschewiki unterstützte. Eigentlich ignorierte er die Disziplin der Fraktion und stimmte mit den Menschewiki.

Ende Juni 1906 schrieb er zur Rechtfertigung seiner neuen Position:

... ergibt sich aus dem Boykott die unbedingte Ablehnung der Bildung einer eigenen Parteifraktion in der Duma? Durchaus nicht, diejenigen Boykottisten, die ... dieser Meinung sind, irren sich. Wir mußten alles tun, und wir haben alles getan, um die Einberufung einer verfälschten Vertretung zu verhindern. Das stimmt. Aber wenn sie trotz aller unserer Anstrengungen einberufen wurde, dann können wir uns nicht der Aufgabe entziehen, sie auszunutzen. [54]

Am 12. August sprach er sich eindeutig für die Beendigung des Boykotts aus:

Die Sozialdemokraten des linken Flügels müssen die Frage des Boykotts der Duma von neuem überprüfen. Es sei daran erinnert, daß wir diese Frage stets konkret, in Abhängigkeit von der jeweiligen politischen Situation behandelt haben. [55]

Eben jetzt ist eine Zeit gekommen, wo die revolutionären Sozialdemokraten aufhören müssen, Boykottisten zu sein. Wir werden es nicht ablehnen, in die zweite Duma zu gehen, sobald (oder „wenn“) sie einberufen wird. Wir werden es nicht ablehnen, diese Kampfarena auszunutzen, werden aber keineswegs ihre bescheidene Bedeutung überschätzen, sondern im Gegenteil, gestützt auf die geschichtlichen Erfahrungen, völlig einem anderen Kampf unterzuordnen – dem Kampf vermittels des Streiks, des Aufstands usw. [56]

Nachdem er diese Änderung seiner Linie machte, find Lenin sich von den anderen Bolschewiki isoliert. Bei der dritten Konferenz der SDAPR in Kotka (Finnland) am 21.-23. Juli 1907 schlug er einen Beschluß gegen den Boykott vor (der offizielle Sprecher der Bolschewiki –Bogdanow – stellte einen Beschluß für den Boykott). Kein einziger bolschewistischer Delegierter unterstützte Lenin. Statt dessen beschuldigten sie ihn, daß er den Bolschewismus verraten habe.

Lenins Beschlußentwurf hieß:

In der Erwägung,

1. daß der aktive Boykott, wie die Erfahrungen der russischen Revolution gezeigt haben, nur dann die richtige Taktik der Sozialdemokratie ist, wenn ein umfassender, allgemeiner, rascher, in den Bewaffneten Aufstand übergehender revolutionärer Aufschwung zu verzeichnen ist, und nur im Zusammenhang mit den ideologischen Aufgaben des Kampfes gegen die konstitutionellen Illusionen bei der Einberufung der ersten Vertretungskörperschaft durch die alte Macht;

2. daß die richtige Taktik der revolutionären Sozialdemokratie, wenn diese Bedingungen nicht gegeben sind, selbst beim Vorhandensein sämtlicher Bedingungen einer revolutionären Epoche, die Beteiligung an den Wahlen erfordert, wie das auch bei der II. Duma der Fall war ... [57]

Lenin war nicht über die Tatsache besorgt, daß er die Schlußfolgerung, daß es notwendig sei, den Boykott der Dumawahlen aufzugeben, später als die Menschewiki gezogen hatte. Im Gegenteil, ein „Fehler“ dieser Art sei überhaupt kein Fehler. „Die revolutionäre Sozialdemokratie muß als erste den Weg des entschlossensten und unmittelbarsten Kampfes betreten und als letzte zu Methoden greifen, die mehr mittelbar den Zwecken des Kampfes dienen.“ [58]

Er verstand auch sehr wohl, daß die Bolschewiki, die für eine Fortsetzung des Boykotts argumentierten, einige der besten revolutionären Kämpfer einschlossen, und daß sie so aus den besten Absichten argumentierten.

Gewiß, die Sympathien für den Boykott werden bei vielen gerade durch dieses durchaus achtenswerte Bestreben der Revolutionäre geweckt, die Tradition der besten revolutionären Vergangenheit aufrechtzuerhalten, den trostlosen Sumpf des jetzigen grauen Alltags zu beleben durch einen Funken mutigen, offenen, entschlossenen Kampfes. Aber gerade weil uns eine sorgfältige Behandlung der revolutionären Traditionen am Herzen liegt, müssen wir entschieden gegen die Auffassung protestieren, man könnte durch Verwendung einer Losung einer speziellen historischen Epoche zum Wiedererstehen der wesentlichen Bedingungen dieser Epoche beitragen. Die Wahrung der Traditionen der Revolution, die Fähigkeit, sie auszunutzen für eine ständige Propaganda und Agitation, für die Aufklärung der Massen über die Bedingungen des unmittelbaren und offensiven Kampfes gegen die alte Gesellschaft, ist etwas ganz anderes als die Wiederholung irgendeiner Losung, losgelöst von der Gesamtheit der Bedingungen, unter denen sie entstanden war und Erfolg hatte, als die Anwendung dieser Losung auf wesentlich andere Verhältnisse. [59]

Lenin forderte von den Bolschewiki eine Bereitschaft, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen: „Wenn die verdammte Konterrevolution uns in diesen verfluchten Saustall getrieben hat, dann werden wir eben auch hier zu Nutz und Frommen der Revolution arbeiten, ohne zu jammern, aber auch ohne zu prahlen.“ [60]

Viele Jahre später sagte er als er darauf zurückblickte:

... einer kämpfenden Partei werden oft Kompromisse unvermeidlich durch die Verhältnisse aufgedrängt ... Die Aufgabe einer wahrhaft revolutionären Partei besteht nicht darin, den unmöglichen Verzicht auf jegliche Kompromisse zu proklamieren, sondern darin, durch alle Kompromisse hindurch, so weit sie unvermeidlich sind, zu verstehen, ihren Prinzipien, ihrer Klasse, ihrer revolutionären Aufgabe – Vorbereitung der Revolution, Befähigung der Volksmassen zum Sieg in der Revolution – treu zu bleiben.

... Die Teilnahme an der III. und IV. Duma war ein Kompromiß, ein vorübergehender Verzicht auf revolutionäre Forderungen. Doch es war ein ganz und gar erzwungener Kompromiß, denn das Kräfteverhältnis hinderte uns eine gewisse Zeit lang, den revolutionären Massenkampf zu führen, und bei der langwierigen Vorbereitung dieses Kampfes mußte man es verstehen, auch innerhalb eines solchen „Saustalls“ zu arbeiten. Daß diese Auffassung der Bolschewiki als Partei vollkommen richtig war, hat die Geschichte bewiesen. [61]

 

 

Anmerkungen

1. Lenin, Werke, Bd.10, S.126.

2. KPSS w Resoljtsijach usw., Bd.1, S.100-1.

3. Lenin, Werke, Bd.10, S.145.

4. ebenda, Bd.11, S.3.

5. ebenda, S.117.

6. ebenda, S.349.

7. ebenda, Bd.12, S.134.

8. Trotzki, Mein Leben, Frankfurt/M. 1974, S.197.

9. Trotsky, Stalin, S.126-7.

10. Lenin, Werke, Bd.16, S.403-4.

11. Lenin, Works, Bd.16, S.395.

12. Lenin, Werke, Bd.16, S.414.

13. Pokrovsky, a.a.O., Bd.2, S.284.

14. Lenin, Werke, Bd.15, S.3.

15. ebenda, S.344.

16. Krupskaja, a.a.O. S.216-7.

17. Stalin, a.a.O., Bd.2, S.150-1.

18. Lane, a.a.O., S.104.

19. Martow, Geschichte der russischen Sozialdemokratie, S.195. (aus dem Englischen übersetzt)

20. Trotsky, Stalin, S.95.

21. Lenin, Werke, Bd.15, S.4.

22. ebenda, S.344 u. S.347.

23. Lenin, Works, Bd.34, S.411.

24. Lenin, Werke, Bd.16, S.293.

25. ebenda, Bd.17, S.1.

26. ebenda, S.188.

27. ebenda, S.585.

28. ebenda, Bd.36, S.186.

29. Zinoviev, a.a.O., S.241.

30. Krupskaja, a.a.O., S.183.

31. Lenin, Werke, Bd.18, S.311.

32. ebenda, Bd.37, S.312.

33. ebenda, S.335–6.

34. ebenda, S.390.

35. ebenda, S.XLIII.

36. ebenda, Bd.34, S.415.

37. Krupskaja, a.a.O., S.240-1.

38. Krupskaya, Memories of Lenin, London 1970, S.218.

39. D.A. Longley, „Central Party Control in the Bolshevik Party 1909-1917“, Mimeograph 1973.

40. Lenin, Sotschinenija, 5. russische Ausgabe, Bd.48, S.54-5.

41. ebenda, Bd.47, S.223.

42. ebenda, Bd.48, S.267.

43. ebenda.

44. Stalin, a.a.O., Bd.2, S.159.

45. Piatnitsky, a.a.O., S.162.

46. Proletarskaja rewoljutsija, Nr.2 (14) 1923, S.452.

47. Istorija KPSS, Moskau 1966, S.369.

48. Lenin, WO??

49. Lenin, Werke, Bd.31, S.13.

50. ebenda, Bd.9, S.175.

51. Lenin, Works, Bd.12, S.513-4.

52. Lenin, Werke, Bd.9, S.176.

53. ebenda, Bd.10, S.427-8.

54. ebenda, Bd.11, S.67.

55. ebenda, S.127.

56. ebenda, S.131.

57. ebenda, Bd.13, S.50.

58. ebenda, Bd.11, S.270-1.

59. ebenda, Bd.13, S.26-7.

60. ebenda, S.29.

61. ebenda, Bd.25, S.312-4.

 


Zuletzt aktualisiert am 20.6.2001