Tony Cliff

 

Lenin 1

 

15. Halbeinheit mit den Menschewiki

Während der stürmischen Monate der 1905er Revolution war die Menschewistische Partei durcheinander und im Fluß. Sie bestand hauptsächlich aus zentristischen Elementen, durch die Ereignisse berauscht bewegte sich im großen und ganzen sehr viel nach links, gab ihre Loyalität gegenüber den Liberalen auf und machte gemeinsame Sache mit den Bolschewiki:

Viele Menschewiki fingen an, Glauben an der bürgerlichen Revolution zu verlieren. Sie taten die Bourgeoisie ab entweder als heimtückisch und konterrevolutionär oder als fast nicht existent, und wie die Bolschewiki bereiteten sich auf einer Machteroberung und der Gründung einer revolutionären provisorischen Regierung vor. Wie Dann an Kautsky schrieb: „Man lebt hier wie im Taumel, die revolutionäre Luft wirkt wie Wein.“ [1]

Die Herausgeber der menschewistischen Zeitung Natschalo waren Trotzki und Parvus. Verhältnisse zwischen der Zeitung und der bolschewistischen Zeitung Nowaja Schisn waren laut Trotzki „die allerfreundlichsten“.

Es gab zwischen ihnen keine Polemik. „Die erste Nummer des Natschalo ist erschienen“, schrieb die bolschewistische Nowaja Schisn. „Wir begrüßen den Kampfgenossen. In der ersten fällt die glänzende Schilderung des Novemberstreiks auf, die vom genossen Trotzki stammt.“ So schreibt man nicht über jemanden, gegen den man im Kampfe steht. Es gab auch keinen Kampf. Im Gegenteil, die Zeitungen verteidigten einander gegen die bürgerliche Kritik. Nachdem Lenin bereits angekommen war, ergriff die Nowaja Schisn das Wort zur Rechtfertigung meiner Artikel über die permanente Revolution: Die Zeitungen hielten, wie beide Fraktionen, den Kurs auf eine Verschmelzung. Das Zentralkomitee der Bolschewiki nahm unter Lenins Mitwirkung einstimmig eine Resolution in dem Sinne an, daß die Spaltung überhaupt nur eine Folgeerscheinung der Verhältnisse in der Emigration sei und daß die Ereignisse der Revolution dem fraktionellen Kampfe jeglichen Boden entzogen hätten. Die gleiche Linie verteidigte ich, bei passivem Widerstand von Martow, im Natschalo. [2]

Jahre später konnte Lenin immer noch schreiben: „Denkt an das Natschalo ... Denkt an die Artikel mit dem Tenor ‚Witte ist ein Agent der Börse, Struve ist ein Agent Wittes‘. Das waren gute Artikel! Das war eine schöne Zeit ... damals trennte uns nichts von den Menschewiki in der Einschätzung der Kadetten.“ [3] Der rechte Menschewik Tscherewanin erinnerte sich reuevoll an 1905-06: „Stellen wir uns vor, die Menschewiki ... wären nicht unter dem Einfluß des revolutionären Taumels zu Bolschewiki geworden, als sie an dem Novemberstreik in Petersburg, an der Einführung des Achtstundentages auf revolutionärem Wege, an dem Boykott der ersten Duma teilnahmen.“ [4]

 

 

Aktuelle Lage und mögliche Zukunft

In Moskau standen die Menschewiki sehr im Vordergrund des revolutionären Arbeiterkampfs. Bei einem treffen des Moskauer Sowjets am 6. Dezember unterstützten sie begeistert einen Beschluß für einen Generalstreik und einen bewaffneten Aufstand. [5] Einige tage später gaben sie Flugblätter zur Unterstützung des bewaffneten Aufstands heraus. [6] Folgendes ist die Weise, wie ein menschewistischer Führer Martynow ihr Verhalten während 1905 zusammenfaßte: „Wir sagten uns damals: Le vin est tiré, il faut le boire – Da der Wein ausgeschenkt ist, wird man ihn trinken müssen. Zu entscheidenden Momenten ist man dazu gezwungen, energisch zu handeln, mit keiner Zeit zur Analyse.“ Aber die Menschewiki wurden eher von den Ereignissen beeinflußt, sie versuchten nicht, sie zu leiten. „Der Unterschied bestand jedoch darin, setzte dieser menschewistische Führer fort, „daß wir unsere Lage als etwas betrachteten, das auf uns gezwungen wurde, während die Bolschewiki danach strebten und sie als natürlich betrachteten.“ [7] Einige Monate später widerrief Martynow öffentlich den „Wahnsinn“ vom Jahre 1905! Martows Reaktion war charakteristisch. Februar 1906 beschwerte er in einem Brief an Axelrod: „Es sind nun zwei Monate ... ich konnte kein einziges, begonnenes Werk zu Ende führen ... Ist es Neurasthenie oder physische Müdigkeit – aber ich kann mit keinem einzigen Gedanken fertig werden.“ „Martow wußte nicht [1906], wie er seine Krankheit bezeichnen sollte“, schrieb Trotzki 1917, als dieser Brief öffentlich bekannt wurde. „Sie hatte aber einen ganz ausgesprochenen Namen: Menschewismus.“, und er fügt hinzu: „In der Epoche der Revolution bedeutet Opportunismus vor allem Geistesverwirrung und Unfähigkeit, ‚mit den Gedanken fertig zu werden‘.“ [8]

Lenin hoffte, daß der Druck der revolutionären Ereignisse die Menschewiki immer weiter nach links drängen würde. ab Februar 1905 rief er zur Einheit zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki auf. November sagte er:

Es ist für niemanden ein Geheimnis, daß die übergroße Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiter mit der Parteispaltung höchst unzufrieden ist und die Vereinigung fordert. Es ist auch für niemanden ein Geheimnis, daß die Spaltung bei den sozialdemokratischen Arbeitern (oder bei denen, die Sozialdemokraten werden wollen) eine gewisse Abkühlung gegenüber der Sozialdemokratischen Partei hervorgerufen hat.

Die Hoffnung, daß sich die „Spitzen“ der Partei von selbst vereinigen werden, haben die Arbeiter fast aufgegeben. Die Notwendigkeit der Vereinigung wurde sowohl vom III. Parteitag der SDAPR als auch von der Konferenz der Menschewiki im Mai dieses Jahr offiziell anerkannt. Seitdem ist ein halbes Jahr verflossen, aber die Vereinigung ist kaum einen Schritt vorwärtsgekommen. Kein Wunder, daß die Arbeiter anfingen, ungeduldig zu werden. [9]

In Wirklichkeit hatte sich bolschewistische und menschewistische Gruppen überall in Rußland sich ganz unabhängig von der Politik des Zentrums und auf eigener Initiative zusammengeschlossen. Im Sommer 1905 gab es eine Serie von Fusionen zwischen Komitees der Bolschewiki und Komitees der Menschewiki. So erinnert sich Pjatnitski daran, wie die Einheit zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki in Odessa November 1905 zustandekam, etwa sechs Monate vor der offiziellen Vereinigung der beiden Parteien auf nationaler Ebene.

Etwa um diese Zeit kam der Bolschewik Lewa (Wladimirow), ein Agent des Zentralkomitees, aus Petersburg mit dem Vorschlag, mit den Menschewiki um jeden Preis zu vereinigen, ohne auf die Vereinigung der beiden Zentralen oben zu warten. Er wurde vom Bolschewik Baron (Eduard Essen) unterstützt, der in Odessa vor dem Pogrom angekommen war. Ihr Vorschlag traf auf einer warmen Reaktion unter der Mitgliedern der Partei, Menschewiki wie Bolschewiki. Das war leicht zu verstehen: daß unsere wenigen verfügbaren Kräfte schwach und zerstreut seien, war jedem Mitglied der Partei während des Pogroms offensichtlich geworden. Bei der Vollversammlung der Mitglieder der Odessaer Organisation, wo Genosse Gussew einen Bericht über die Form las, die unsere Organisation nach der Vereinigung nach dem Manifest vom 17. Oktober nehmen sollte, sprachen Genossen Lewa und Baron für die sofortige Vereinigung mit den Menschewiki. Das Komitee hatte nicht gegen die Vereinigung, war aber fest gegen die Methode der Vereinigung von unten. Das Odessaer Komitee sei Teil der Bolschewistischen Partei, an deren Spitze das Zentralkomitee und das Zentralorgan stünden, die beim dritten Parteitag gewählt wurden. Wie dann könnte Odessa mit den Menschewiki ohne das Wissen und die Zusage des Zentralkomitees unserer Partei vereinigen? Baron und Lewa andererseits befürworteten die Vereinigung ohne die Zusage des Zentralkomitees, um Druck von unten auszuüben. Es war dem Komitee offensichtlich, das die vorgeschlagene Vereinigung von einer großen Mehrheit bei den Parteiversammlungen der Bolschewiki sowie der Menschewiki, denn überall, wo die Befürworter der sofortigen Vereinigung sprachen, sie fast einstimmige Unterstützung bekamen. Deshalb wurde das bolschewistische Komitee dazu gezwungen, die Bedingungen der Vereinigung zu verhandeln, die sie selbst nicht wollten. [10]

Zwischen 23. April und 8. Mai 1906 fand ein „Vereinigungs“-Parteitag in Stockholm statt. Die „vereinigte“ Partei, die nicht nur die Bolschewiki und die Menschewiki (insgesamt etwa 70.000 Mitglieder) einschloß, sondern auch den jüdischen Bund (33.000 Mitglieder), die polnischen Sozialdemokraten unter der Führung von Rosa Luxemburg (28.000 Mitglieder) und die lettischen Sozialdemokraten (13.000 Mitglieder).

Im April 1906 argumentierte Lenin, daß die Differenzen zwischen den Menschewiki und den Bolschewiki in der Praxis immer kleiner würden und daß die Einheit zwischen ihnen notwendiger denn je sei.

In der Tat, wenn wir die Sache unter dem Gesichtspunkt der Abweichungen der Sozialdemokratie von ihrem gewöhnlichen, „normalen“ Weg betrachten, dann werden wir sehen, daß die Periode des „revolutionären Wirbelsturms“ auch in dieser Hinsicht eine im Vergleich zur vorhergegangenen Periode größere und nicht geringere Geschlossenheit und ideologische Einheitlichkeit der Sozialdemokratie aufweist. Die Taktik der Epoche des „Wirbelsturms“ hat die beiden Flügel der Sozialdemokratie nicht voneinander entfernt, sondern einander näher gebracht. Anstatt der einstigen Meinungsverschiedenheiten kam es zu einer einheitlichen Auffassung in der Frage des bewaffneten Aufstands. Sozialdemokraten beider Fraktionen arbeiteten in den Sowjets der Arbeiterdeputierten, diesen eigenartigen Organen einer embryonalen revolutionären Macht, zogen Soldaten und Bauern zu diesen Sowjets heran und gaben gemeinsam mit den kleinbürgerlichen revolutionären Parteien revolutionäre Manifeste heraus. Die einstigen Streitigkeiten der Epoche vor der Revolution wurden von der Solidarität in praktischen Fragen abgelöst. Das Ansteigen der revolutionären Welle rückte die Meinungsverschiedenheiten in den Hintergrund, erzwang die Anerkennung einer kämpferischen Taktik, schob die Frage der Duma beiseite, setzte die Frage des Aufstands auf die Tagesordnung und brachte die Sozialdemokratie und die revolutionäre bürgerliche Demokratie in der unmittelbaren nächstliegenden Arbeit näher zusammen. Im Sewerny Golos riefen die Menschewiki gemeinsam mit den Bolschewiki zum Streik und zum Aufstand auf, riefen sie die Arbeiter auf, den Kampf nicht einzustellen, solange die Macht nicht in ihren Händen sein wird. Die revolutionäre Situation selbst diktierte die praktischen Losungen. Man stritt sich lediglich um Einzelheiten in der Einschätzung der Ereignisse. Das Natschalo [Der Anfang] betrachtet zum Beispiel die Sowjets der Arbeiterdeputierten als Organe der revolutionären Selbstverwaltung, die Nowaja Schisn dagegen sah in ihnen embryonale Organe der revolutionären Macht, die das Proletariat und die revolutionäre Demokratie vereinten.

Das Natschalo neigte zur Diktatur des Proletariats. Die Nowaja Schisn setzte sich für die demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft ein. Aber zeigt uns denn nicht jede beliebige Periode in der Entwicklung jeder beliebigen europäischen sozialistischen Partei solche und ähnliche Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Sozialdemokratie? [11]

Lenin ließ sich jedoch nicht dazu täuschen, daß man sich völlig auf die Menschewiki verlassen könnte, und wollte nicht seine Fraktion in die vereinigte Partei auflösen. Am Vorabend der „Vereinigungs“tag erklärte er Lunatscharski: „Wenn wir eine Mehrheit im Zentralkomitee haben, werden wir die strengste Disziplin fordern. Wir werden darauf bestehen, daß die Menschewiki sich der Einheit der Partei unterordnen. Um so schlechter für sie, wenn ihr kleinbürgerliches Wesen ihnen nicht erlaubt, uns zuzustimmen. Laß ihnen die Verantwortung für die Spaltung der Partei übernehmen.“

„Aber wie wird es sein, wenn wir in der Minderheit bleiben?“ fragte Lunatscharski. „Werden wir dazu gezwungen werden, uns ihnen unterzuordnen?“

Lenin lächelte und antwortete: „Wir werden der Vorstellung der Einheit es nicht erlauben, eine Schlinge um unsere Hälse zu binden, und wir werden unter keinen Umständen den Menschewiki erlauben, uns mit dem Seil zu führen.“ [12]

Lenin glaubte wirklich, der Druck der Ereignisse versichern würde, daß die Menschewiki nach links gedrängt würden. Er hielt an diesem Glauben fest, auch als sie Ende 1906 einem Wahlbündnis mit den Kadetten eingingen, eine Entscheidung, die er heftig kritisierte. So schrieb er November 1906:

Erfordert nicht die Tatsache, daß Sozialdemokraten Blocks mit den Kadetten zulassen, den völligen Bruch der organisatorischen Beziehungen, d.h. die Spaltung? Wir glauben, daß ist nicht der Fall, und alle Bolschewiki denken so. Erstens sind die Menschewiki eben erst, unsicheren Schritts noch und unentschlossen, dabei, den Weg des praktischen Opportunismus en grand [im großen Maßstab] zu betreten ... Zweitens, und das ist noch viel wichtiger, ist die objektive Situation des proletarischen Kampfes in Rußland so, daß sie mit unwiderstehlicher Kraft zu bestimmten entscheidenden Schritten treibt. Ob die Revolution zu einem großen Aufschwung schreitet (wie wir angenommen haben) oder zum völligen Zusammenbruch (wie gewisse Sozialdemokraten annehmen, obwohl sie fürchten, es zu sagen), in beiden Fällen wird die Taktik des Blocks mit den Kadetten unvermeidlich, und zwar in nicht sehr ferner Zeit, Schiffbruch erleiden. Deshalb sind wir verpflichtet, und wir werden nicht in intelligenzlerische Nervosität verfallen, jetzt die Einheit der Partei zu wahren, wobei wir auf die Standhaftigkeit des revolutionären Proletariats, auf seinen gesunden Klasseninstinkt vertrauen. [13]

Er glaubte: „Die Genossen Menschewiki werden ... durch das Fegefeuer der Blocks mit den Opportunisten der Bourgeoisie hindurchgehen und zur revolutionären Sozialdemokratie zurückkehren.“ [14]

Inzwischen beschloß der Parteitag bei Tammerfors (3.-7. November 1906) unter dem Einfluß der Menschewiki, einem Wahlblock mit den Kadetten beizutreten. Lenins Reaktion bestand darin, daß die lokalen Organisationen der Partei frei sein sollten, sich in den eigenen Bezirken gegen diese Position zu stellen. „... in der gegenwärtigen Wahlkampagne sind die örtlichen Organisationen durch den Beschluß der Menschewiki und des Zentralkomitees zugunsten von Blocks praktisch nicht gebunden, der Beschluß zwingt nicht unserer Partei als Ganzem diese schmähliche Taktik der Blocks mit den Kadetten auf.“ [15]

Alle Konferenzteilnehmer stimmten darin überein, daß die Beschlüsse der Konferenz nicht bindend seien und niemand eine Verpflichtung auferlegten, weil die Konferenz eine beratende und nicht eine beschließende Körperschaft war. Die Delegierten wurden nicht auf demokratischem Wege gewählt, sondern vom Zentralkomitee in einer von ihm festgesetzten Anzahl aus von ihm bestimmten Organisationen aufgesucht. [16]

Über die Entscheidungen sagte er: „In welchen Grenzen nun sind sie in der gegebenen Frage verbindlich? Selbstverständlich in den Grenzen der Parteitagsbeschlüsse und in den Grenzen der vom Parteitag anerkannten Autonomie der örtlichen Parteiorganisationen.“ [17]

Was war mit dem demokratischen Zentralismus geschehen, der Lenin so teuer gewesen war? Seit Jahren hatte er für die Unterordnung der niederen Organe der Partei unter den Höheren und gegen eine föderative Vorstellung der Partei argumentiert. Im seinem Februar-Mai 1904 geschriebenen Buch Ein Schritt nach vorne, zwei Schritte zurück hatte er gesagt, daß „die unzweifelhafte Tendenz zur Verteidigung des Autonomismus gegen den Zentralismus ... ein prinzipielles Merkmal des Opportunismus in organisatorischen Fragen ist“. [18]

Für Lenin waren jedoch organisatorische Methoden völlig den politischen zielen untergeordnet, und er war 1906 bereit, ein Statut für die vereinigte Partei vorzuschlagen, die sich deutlich unterschied von dem, das er früher vorgeschlagen hatte. Ganz unverschämt erklärte er bald danach:

Das Statut unserer Partei sieht ganz eindeutig eine demokratische Organisation der Partei vor. Die gesamte Organisation baut sich von unten, nach dem Grundsatz der Wählbarkeit, auf. Die Lokalorganisationen gelten nach dem Parteistatut in ihrer örtlichen Tätigkeit als selbständig (autonom). Das Zentralkomitee vereinigt und leitet auf Grund des Statuts die gesamte Arbeit der Partei. Hieraus ist klar ersichtlich, daß es kein Recht hat, sich in die Zusammensetzung der Lokalorganisationen einzumischen. Wenn die Organisation sich von unten aufbaut, so würde es eine völlige Verletzung aller Grundsätze der Demokratie und des gesamten Parteistatuts, wollte man sich von oben in ihre Zusammensetzung einmischen. [19]

Er gab dem Begriff der Parteidisziplin eine neue Drehung:

Nachdem ein Beschluß der kompetenten Organe gefaßt ist, werden wir alle, die wir Parteimitglieder sind, wie ein Mann handeln. Der Bolschewik in Odessa wird einen Zettel mit dem Namen eines Kadetten in die Urne werfen, wenngleich ihm dabei auch übel werden mag. Der Menschewik in Moskau wird einen Zettel, der nur Namen von Sozialdemokraten trägt, in die Urne werfen, wenngleich seine Seele nach den Kadetten lechzen mag. [20]

Einige Monate später im Januar 1907 ging Lenin so weit, daß er für die Einführung eines Referendums von allen Parteimitgliedern über die Fragen vor der Partei argumentierte – sicherlich ein Vorschlag, der die ganze Vorstellung des demokratischen Zentralismus widersprach.

Um die Frage wirklich demokratisch zu entscheiden, genügt es nicht, gewählte Vertreter der Organisation zusammentreten zu lassen. Es ist erforderlich, daß alle Mitglieder der Organisation bei der Wahl ihrer Vertreter zugleich selbständig und jeder für sich zu der strittigen Fragen Stellung nehmen, die die gesamte Organisation interessiert. [21]

Obwohl er zugab, daß es unmöglich sein würde, alle Frage per Referendum zu entscheiden, argumentierte er: „Besonders wichtige Fragen aber, solche, die unmittelbar mit einer bestimmten Aktion der Massen selbst verbunden sind, müssen, will man tatsächlich demokratisch handeln, nicht nur durch Entsendung von Vertretern, sondern auch durch die Befragung aller Parteimitglieder entschieden werden.“ [22]

Zusammenfassend: Während des Jahres der Revolution wurden die Menschewiki zum großen Teil von der Welle der Ereignisse mitgetragen, während verschiedene Tendenzen im Menschewismus sich voneinander unterschieden. Rechts standen Leute wie Plechanow, Axelrod und Martow, die zu den Kadetten neigten und sich einer Vorstellung einer von den bürgerlichen Liberalen geführten bürgerlichen Revolution verschrieben hatten. Links standen Leute wie Trotzki und Parvus und Lenin hoffte, daß Prozesse unter den Menschewiki stattfinden würden, die denen ähnlich wären, die Jahre später die Gründung der Kommunistischen Internationale ermöglichten – die Bewegung von großen Mengen von Zentristen nach links. Er unterschied zwischen dem Zentrismus der menschewistischen Arbeiter und dem unheilbaren professionellen Zentrismus vieler Führer. Während er fest gegen die menschewistischen Rechten stand, und gegen die überzeugten Zentristen, glaubte er immer noch, daß die enge festgefügte Gruppe von kompromißlosen Bolschewiki wirksamer dabei sein würde, die zentristischen Elemente zu überzeugen, wenn sie eine Fraktion in einer vereinigten Partei bildeten, als wenn sie als völlig getrennte Gruppe existierten.

 

 

Anmerkungen

1. Getzler, a.a.O., S.110.

2. Trotzki, Mein Leben, Frankfurt/M. 1974, S.162-3.

3. Lenin, Werke, Bd.12, S.349.

4. ebenda, Bd.16, S.96.

5. M.I. Wassilew-Juschin, Moskowskij sowet rabotschich deputatow w 1905 g., Moskau 1925, S.85.

6. M.N. Pokrowski (Hrsg.), 1905, Moskau-Leningrad 1926, S.443-5.

7. B.D. Wolfe, Three Who Made a Revolution, Boston 1948, S.340.

8. Trotzki, Mein Leben, Frankfurt/M. 1974, S.163.

9. Lenin, Werke, Bd.10, S.21.

10. Pjatnitski, a.a.O., S.90-1.

11. Lenin, Werke, Bd.10, S.249-50.

12. A. Lunatscharski, Wospomonanija o Lenine, Moskau 1933, S.21.

13. Lenin, Werke, Bd.11, S.315.

14. ebenda, S.320.

15. ebenda, S.315-6.

16. ebenda, S.316.

17. ebenda.

18. ebenda, Bd.7, S.400.

19. ebenda, Bd.11, S.446.

20. ebenda, S.317.

21. ebenda, S.438.

22. ebenda, S.439.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.6.2001