Tony Cliff

 

Lenin 1

 

16. Lenin schließt die Linksradikalen aus

Lenin hatte Schwierigkeiten zu bewältigen innerhalb der bolschewistischen Gruppe selbst. Die Frage des Boykotts wurde nicht zu den Akten gelegt auch nach den Wahlen zur zweiten Duma, an denen die SDAPR sich völlig beteiligte. Die Wahlen führten zu einem beträchtlichen Erfolg für die Partei: 65 sozialdemokratische Abgeordnete wurden gewählt, einschließlich 18 Anhängern der Bolschewiki. [1]

Am 3. Juni 1907 löste jedoch der Ministerpräsident Stolypin die Zweite Duma auf und gab einen neuen und hoch unrepräsentativen Wahlerlaß aus, der die Regierung von der oppositionellen Mehrheit befreien sollte. Die neuen Regelungen gaben der Kurie der Großgrundbesitzer das Recht , einen Wahlmann zu wählen für jede 230 Personen, der ersten städtischen Kurie einen für jede 1.000, der zweiten städtischen Kurie einen für jede 15.000, der Bauernkurie einen für 60.000 und der Arbeiterkurie einen für jede 125.000. Die Großgrundbesitzer und die Bourgeois wählten 65 Prozent der Wahlmänner, die Bauern 22 Prozent (statt der früheren 42 Prozent) und die Arbeiter 2 Prozent (in Gegensatz zu 4 Prozent früher). Das Gesetz entzog das Wahlrecht der einheimischen Bevölkerung asiatischen Rußlands und der türkischen Völker in den gubernia von Astrachan und Stawropol und halbierte verhältnismäßig die Vertretung der Bevölkerung Polens und des Kaukasus. Allen Nichtrussischsprachigen wurden das Wahlrecht entzogen. Das Ergebnis davon war, daß verhältnismäßig die Zahl der Duma-Mitglieder, die die Großgrundbesitzer und die Handels- und industrielle Bourgeoisie vertraten, stieg, während verhältnismäßig die Zahl der Bauern.- und Arbeiterabgeordneten, die schon klein war, scharf reduziert wurde.

Die Boykottfrage, die erst so neulich gelöst wurde, wurde sofort wiederbelebt. Lokale bolschewistische Organisationen stimmte überwältigend Feuer die Wiederaufnahme des Boykotts der Duma ab. Bei der Parteikonferenz, die Juli 1907 in Finnland gehalten wurde, stimmten acht der neun bolschewistischen Delegierten geführt von Bogdanow dafür, zurück zur Politik eines Boykotts zurückzukehren. Lenin stimmte mit den Menschewiki, den polnischen Sozialdemokraten und den Bundisten, um den Boykott abzulehnen.

Als die Wahlen unter dem neuen Gesetz im Herbst 1907 gehalten wurden, konnten die Sozialdemokraten neunzehn Mandate gewinnen.

Ein teil der Bolschewiki bildeten sich nach dem 1907er Parteitag zu einer Gruppe, die als die Otzowisten (auf russisch: otzowisty – Abberrufer). 1908 sammelten sie organisatorische Stärke und wurden zu einer ernsthaften Herausforderung gegen Lenins Position unter den Bolschewiki. Wettkämpfe wurden zwischen Leninisten und Otzowisten für die Unterstützung der lokalen Organisationen durchgeführt. Lenin behielt die Kontrolle über die Moskauer Organisation nur sehr knapp. Mai 1908 hatten bei einer allgemeinen Stadtkonferenz in Moskau die Otzowisten 14 Stimmen, während Lenins Anhänger 19 Stimmen hatten. [2] Das Regionalbüro der Zentralen Industrieregion war getreu unter der Kontrolle der Otzowisten. [3]

Eine weniger extreme Form der Opposition, die als „Ultimatismus“ bekannt war, herrschte in St. Petersburg. Seine Anhänger forderten, daß der sozialdemokratischen Delegation in der Duma ein Ultimatum gestellt werden sollte, die forderte, daß sie sich kompromißloser radikal verhalten sollte. die Ultimatisten blieben am Steuer der bolschewistischen Organisation in St. Petersburg bis September 1909. [4]

Obwohl die Hauptfrage, die Lenin und die Boykottisten trennte, darin bestand, ob die Bolschewiki sich an den Dumawahlen beteiligen und Vertreter in der Duma haben sollte, wollten letztere auch die legalen Gewerkschaften boykottieren. Falls die Gewerkschaften sich mit der Polizei anmeldeten und nur legale Aktivitäten durchführten, dann betrachteten die Boykottisten sie als wertlos für die Sache der Revolution. [5]

Die Führer der Otzowisten schloß einige sehr bekannte Menschen ein. Diese waren Bogdanow (Maximow), jahrelang stellvertretender Führer der Bolschewiki; Krassin, der führende Organisator der Bolschewiki; die Propagandisten und Schriftsteller, Lunatscharsky, Gorki und Basarow; der Historiker M.N. Pokrowski und der Führer der bolschewistischen Fraktion in der Duma, Alexinski. Sie beschuldigten Lenin, daß er „auf den menschewistischen Standpunkt des Menschewismus um jeden Preis übergeht“. [6] Bei der Allrussischen Konferenz im Dezember 1908 erklärte der Menschewik Dann: „Wer weiß den nicht, daß Lenin jetzt von den Bolschewiki des Verrats am Bolschewismus bezichtigt wird“. [7]

Der Zusammenbruch der revolutionären Bewegung schuf die Bedingungen, wo der Bazillus des Linksradikalismus sich vervielfachen könnte. Die Ähnlichkeit zwischen der Psychologie der Revolutionäre nach 1905 und nach der 1848er Revolution ist fast unheimlich [verblüffend]. Um Marx’ Worte über Willich und Schapper, die Bogdanows seiner Zeit, zu zitieren:

Der gewaltsame Niederschlag einer Revolution läßt in den Köpfen ihrer Mitspieler, namentlich der vom heimischen Schauplatz ins Exil geschleuderten, eine Erschütterung zurück, welche selbst tüchtige Persönlichkeiten für kürzere oder längere Zeit sozusagen unzurechnungsfähig macht. Sie können sich nicht in den Gang der Geschichte finden, sie wollen nicht einsehen, daß sich die Form der Bewegung verändert hat. Daher Konspirations- und Revolutionsspielerei, gleich kompromittierlich für sie selbst und die Sache, in deren Dienst sie stehen; daher die Fehlgriffe Schappers und Willichs. [8]

Nach der Niederschlagung einer Revolution, was könnte psychologisch mehr befriedigen, als daß man als unmittelbare Aufgabe die Vorbereitung eines neuen bewaffneten Aufstands auf die Tagesordnung setze, wie Bogdanow gemacht hat?

Die schreckliche Periode der Reaktion führte viele Revolutionäre, besonders diejenigen im Exil, deren Gelegenheiten für konkrete Aktion nicht sehr häufig waren, dazu, sich zur abstrakten Propaganda zu wenden, deren wörtlichen Extremismus in direktem Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Passivität stand. Ohne jede praktische revolutionäre Verantwortung wurde dieses Revoluzzertum auf Selbstverherrlichung beschränkt und wörtliche Unnachgiebigkeit wurde zur Fassade für passive Selbstgefälligkeit.

Wenn Revolutionäre von jeder wirklichen Unterstützung in der Arbeiterklasse isoliert werden, sind die Bedienungen reif für den Linksradikalismus. Je isolierter sie sind, desto weniger sind sie für die Korrektur von den kämpfenden Arbeitern offen und desto größer die Anziehungskraft der extremen Parolen wird. Da kaum jemand zuhört, warum sollte man nicht extreme revolutionäre Phrasen benutzen? In einer Leere ist der Druck, sich einer neuen Situation anzupassen, minimal.

Die Ungeduld von Bogdanow und seinen Freunden nach schnellen Ergebnissen, egal was die objektiven Umstände waren, hätte von der Partei korrigiert werden – das ist das demokratische Element im demokratischen Zentralismus. Leider aber existierte die Partei kaum und konnte nicht die Fehler ihrer Führer korrigieren. Lenin beschuldigte sie, daß sie „Kleinarbeit“ ablehnten, besonders die Nutzung der parlamentarischen Plattform. In der Praxis bestand ihre Taktik dahin, auf „große tage“ zu warten. Sie „verhindern die Sache, die am wichtigsten und am dringendsten ist, nämlich, die Arbeiter in großen richtig funktionierenden Organisationen zu vereinigen, die fähig dazu sind, unter allen Umständen gut zu funktionieren, die vom Geist des Klassenkampfs durchdrungen sind, die deutlich ihre Ziele begreifen und in der wahren marxistischen Weltanschauung trainiert sind“. [9]

Neue Zeiten fordern neue Taktiken, argumentierte Lenin.

Wir haben es während der Revolution gelernt, „französisch zu reden“, d.h. der Bewegung ein Maximum von vorantreibenden Losungen zu verleihen, die Energie und den Schwung des unmittelbaren Kampfes der Massen zu steigern. Wir müssen es jetzt, in der Zeit der Stagnation, der Reaktion, des Zerfalls lernen, „deutsch zu reden“, d.h. langsam zu handeln (anders geht es nicht, solange kein neuer Aufschwung eintritt), systematisch und beharrlich, schrittweise vorzugehen und Zoll um Zoll zu erobern. Wer sich bei dieser Arbeit langweilt, wer die Notwendigkeit nicht versteht, die revolutionären Grundlagen der sozialdemokratischen Taktik auch auf diesem Wege, auf dieser Wegkreuzung zu bewahren und weiterzuentwickeln, der verdient den Namen eines Marxisten nicht. [10]

Die Revolutionäre, sagte er,

... werden auch in der schwierigsten, langsamsten, nüchternen Alltagsarbeit ihre Pflicht zu erfüllen wissen, falls nach dem Kampf, nach Erschöpfung aller vorhandenen revolutionären Möglichkeiten die Geschichte uns zwingen sollte, uns auf dem Wege der „absolutistischen Verfassung“ fortzuschleppen ... Um diese Verpflichtung vor dem Proletariat zu erfüllen, galt es, unablässig all jene umzumodeln und umzuerziehen, die in den Tagen der Freiheit zur Sozialdemokratie gestoßen waren (– es bildete sich sogar ein besonderer Typ von „Sozialdemokraten der Tage der Freiheit“ heraus –), die hauptsächlich von der Entschiedenheit, dem revolutionären Geist, der „Prägnanz“ der Losungen mitgerissen wurden, denen es aber an Ausdauer fehlte, nicht allein an den revolutionären Feiertagen, sondern auch an den konterrevolutionären Werktagen zu kämpfen. Ein Teil dieser Elemente ist nach und nach in die proletarische Arbeit einbezogen worden und hat sich die marxistische Weltanschauung angeeignet. ein anderer Teil hat bloß ein paar Parolen gelernt, ohne sie sich zu eigen zu machen, wiederholt die alten Schlagworte und versteht es nicht, die alten Prinzipien der revolutionären sozialdemokratischen Taktik auf die veränderten Bedingungen anzuwenden. [11]

Es gibt keine Zweifel, daß während der langen Periode der Reaktion und des langsamen darauffolgenden Aufstiegs der Bolschewismus gestorben wäre, wenn die linksradikalen Politiken von Bogdanow und seinen Verbündeten nicht über Bord geworfen worden wären. Im nachhinein konnte Lenin Jahre später in seinem Buch Der Linksradikalismus, Kinderkrankheit des Kommunismus (1920) schreiben:

... der Bolschewismus hat sich entwickelt, formiert und gestählt im langjährigen Kampf gegen den kleinbürgerlichen Revolutionismus, der dem Anarchismus ähnelt oder manches von ihm entlehnt und der in allem, aber auch allem Wesentlichen von den Bedingungen und Erfordernissen des konsequenten Klassenkampfes abweicht ... Der durch die Schrecken des Kapitalismus „wild gewordene“ Kleinbürger ist eine soziale Erscheinung, die ebenso wie der Anarchismus allen kapitalistischen Ländern eigen ist. Die Unbeständigkeit dieses Revolutionarismus, seine Unfruchtbarkeit, seine Eigenschaft, schnell in Unterwürfigkeit, Apathie und Phantasterei umzuschlagen, ja sich von dieser oder jener bürgerlichen „Mode“strömung bis zur „Tollheit“ fortreißen zu lassen – all das ist allgemein bekannt. [12]

Er wußte, daß um für die kommenden großen revolutionären Schlachten [Kämpfen] vorzubereiten, eine revolutionäre Partei lernen müßte, wie sie durch die Periode der Reaktion zusammen mit den Massen, in ihren vordersten Reihen, ohne sich in sie aufzulösen, aber auch ohne sich von ihnen abzulösen, durchgehen könnte. Diese ist auch die Periode, in der man harte Kader schulen und härten kann. Diese Schulung läßt sich aber nicht in einer Leere, isoliert vom Kampf, durchführen, auch wenn sein Ausmaß und seine Tiefe wirklich sehr beschränkt sind.

 

 

Bogdanow ausgeschlossen

Zwischen dem 8. und dem 17. Juni 1909 berief Lenin eine Tagung der ausgedehnten Redaktion der bolschewistischen Zeitschrift Proletarij in seiner Wohnung in Paris ein. Auf Lenins Betreiben hob diese Tagung das alte beim Londoner Parteitag 1907 gewählte bolschewistische Zentrum auf und nahm die Ernennungs-, Entfernungs- und Entscheidungsmacht an. Sie beschloß: „Es gibt zwischen dem Bolschewismus als bestimmter Tendenz in der SDAPR und dem Otzowismus bzw. Ultimatismus keine Gemeinsamkeit“ und schloß Bogdanow (Maximow), den führenden Kopf des Otzowismus, aus den Reihen des Bolschewismus aus. Vergeblich stellte Bogdanow in Frage das Recht einer neuen Redaktionstagung, Menschen zu entfernen, die vom vorherigen Parteitag ernannt worden waren. Sein Aufruf nach einem neuen Parteitag der Bolschewiki wurde ignoriert.

Lenin erkannte die formelle Gerechtigkeit der Sache Bogdanows an: „Von der formalen Seite her ist die Entfernung Maximows ‚unrechtmäßig’ – sagen uns die Entfernten –, und ‚wir erkennen diese Entfernung nicht an‘, denn Maximow ‚ist vom bolschewistischen Parteitag, d.h. vom bolschewistischen Teil des Parteitags gewählt worden‘!“ [13] Aber wissend, daß die bolschewistische Fraktion bloß ein Schatten ihres früheren Selbsts war und aus Angst davor, daß Bogdanow wahrscheinlich die Mehrheit eines neuen Parteitags hätte überzeugen können, kämpfte Lenin heftig gegen die Einberufung eines bolschewistischen Parteitags. Er stellte erfolgreich einen Antrag, daß da

... die Einberufung besonderer bolschewistischer Konferenzen und Parteitage würde unvermeidlich zur Spaltung der Partei von oben bis unten führen und der Fraktion, die die Initiative für eine solche endgültige Spaltung der SDAPR ergriff, einen nicht wiedergutzumachenden Schlag versetzen; in Erwägung ... dessen beschließt die erweiterte Redaktion des Proletarij: alle ihre Gleichgesinnten zu warnen vor der Agitation für einen besonderen bolschewistischen Parteitag als einer Agitation, die objektiv zur Spaltung der Partei führt und die Position, die die revolutionäre Sozialdemokratie in der Partei bereits errungen hat, einen schweren Schlag versetzen kann ... [14]

Der Kampf gegen Bogdanow innerhalb der bolschewistischen Fraktion bewies sich als sehr schwierig. Linksradikale sind formalistisch, steril und von der Realität losgelöst – aber wie kann man dies ohne Massenaktion beweisen? Lenin konnte sich nicht zu aktiven Arbeitern, zu der lebendigen Bewegung wenden, um Unterstützung für seinen Widerstand gegen Bogdanow zu bekommen, und daher wurde er gezwungen, jede vorhandene Alternative zu benutzen – in diesem Fall die künstliche, nicht demokratisch gewählte Versammlung einer verbreiteten Redaktion.

Unter Lenins Anhänger gab es viele, die die anscheinend willkürlichen Maßnahmen gegen Bogdanow nicht mochten. Auch Stalin, ein äußerst treuer Anhänger Lenins zu jenem Zeitpunkt, rügte ihn wegen dieser selbstherrlichen Maßnahme und wegen der Spaltung der Bolschewiki. Während er seine politische Solidarität mit Lenin über die Haltung zu den Dumawahlen verkündete, schrieb er in einem Kommentar in der Bakinski Proletari vom 27. August 1909:

angesichts der Tatsache, daß, diese obenerwähnten Uneinigkeiten ungeachtet, beide Teile der Redaktion über Fragen von größerer Wichtigkeit für die Gruppe (Bewertung der aktuellen Lage, Rolle des Proletariats und der anderen Klassen in der Revolution usw.) einverstanden sind, glaubt das Bakuer Komitee, daß die Einheit der Gruppe und daher Zusammenarbeit zwischen beiden Teilen der Redaktion möglich und notwendig sind.

Deswegen stimmt das Bakuer Komitee nicht mit der organisatorischen Politik der Mehrheit der Redaktion überein und protestiert gegen jeden „Ausschluß aus unseren Reihen“ von Anhängern der Minderheit der Redaktion. Das Bakuer Komitee protestiert auch gegen das Verhalten des Genossen Maximow, der erklärte, er würde sich nicht den Entscheidungen der Redaktion unterordnen, und daher Gründe für neue und größere Reibung schuf. [15]

 

 

Ein philosophischer Schlagstock gegen Bogdanow

Eine Waffe, die Lenin gegen Bogdanow benutzte, war die Philosophie. Seine Verbindung mit Bogdanow war von langer Dauer gewesen. Letzterer war Arzt und ein Schriftsteller über Ökonomie, Soziologie, die Naturwissenschaften und Philosophie mit einem beträchtlichen Ruf. Lenin hatte ihn vom Ruf her seit 1898, als ein Exemplar von Bogdanows Buch Kurzer Lehrgang der ökonomischen Wissenschaft ihn in Sibirien erreicht. Er fand das Buch so gut, daß er einen Vorschlag von einem Verleger ablehnte, ein Handbuch der politischen Ökonomie zu schreiben, weil „es schwer ist mit Bogdanow zu konkurrieren ...“ [16]

Als Bogdanow den Bolschewiki 1905 beitrat, schickte er Lenin den ersten Band seines philosophischen Werks Empiriomonismus (der zweite Band wurde 1905 veröffentlicht und der dritte 1906). Gerade dieses Werk, das stark von den philosophischen Schriften der Neukantianer Ernst Mach und Richard Avenarius beeinflußt wurde, wurde zur Hauptzielscheibe von Lenins philosophischem Angriff in 1909.

Plechanow, der Hauptsprecher der orthodox-marxistischen Philosophie und jetzt ein Menschewik, verspottete Lenin wegen seiner Verbindung mit Bogdanow. Lenin antwortete auf dem dritten Parteitag in 1905:

[Plechanow hält] eben Mach und Avenarius [her]. Es ist mir absolut unerfindlich, was diese Schriftsteller, für die ich nicht die geringste Sympathie hege, mit der Frage der sozialen Revolution zu tun haben sollen. Sie schrieben über individuelle und soziale Organisation der Erfahrung, oder irgend etwas Ähnliches, machten sich aber wahrhaftig keine Gedanken über die demokratische Diktatur. [17]

Lenin war nicht mit Bogdanows philosophischen Ansichten einverstanden. In einem Brief an Gorki schrieb er, daß er Bogdanows ersten band sofort gelesen habe, nachdem er es bekommen habe, nicht mit ihm einverstanden gewesen sei und einen langen Brief zur Kritik an seinen Autor geschrieben habe. Als der dritte Band von Empiriomonismus 1906 erschien, schickte Bogdanow Lenin ein Dedikationsexemplar und Lenin schrieb sofort eine weitere „Liebeserklärung, einen kleinen Brief über Philosophie, der drei Notizbücher füllte“! Aber das hielt Lenin nicht davon auf, politisch mit Bogdanow weiterzuarbeiten, noch deutete er darauf hin, daß es überhaupt ein Bedürfnis gebe, die Verbindung aus philosophischen Gründen abzubrechen oder daß Philosophie irgendein unmittelbares und notwendiges Verhältnis mit der politischen Taktik habe.

Februar 1908 schrieb er:

... die Redaktion des Proletari als ideologische Vertreterin der bolschewistischen Strömung hält es für notwendig, folgendes zu erklären: Dieser philosophische Streit ist in Wirklichkeit nicht fraktioneller Natur und darf es nach Ansicht der Redaktion auch nicht sein; jeder Versuch, diese Meinungsverschiedenheiten als Merkmale der Fraktionen hinzustellen, ist grundverkehrt. In der einen wie in der anderen Fraktion gibt es Anhänger beider philosophischen Richtungen. [18]

In einem Brief an Gorki am 25. Februar 1908 schrieb er:

Im Sommer und im Herbst 1904 sind wir uns mit Bogdanow als Bolschewiki endgültig einig geworden und haben jenen stillschweigenden und die Philosophie als neutrales Gebiet stillschweigend ausschließenden Block gebildet, der die Revolution hindurch fortbestanden und es uns ermöglicht hat, in der Revolution gemeinsam jene Taktik der revolutionären Sozialdemokratie (= Bolschewismus) zu verfolgen, die meiner tiefsten Überzeugung nach die einzig richtige gewesen ist. [19]

... der Proletari muß gegenüber allen unseren Meinungsverschiedenheiten in der Philosophie absolut neutral bleiben und darf den Lesern nicht den geringsten Anlaß geben, die Bolschewiki als Richtung, als taktische Linie des revolutionären Flügels der russischen Sozialdemokraten, mit dem Empiriokritizismus oder mit dem Empiriomonismus in Verbindung zu bringen. [20]

Am 16. April schrieb er wieder an Gorki: „Man muß die Philosophie von den Partei-(Fraktions-)Angelegenheiten trennen: hierzu verpflichtet auch den Beschluß des Bolschewistischen Zentrums.“ [21]

Als jedoch 1908 es schließlich klar wurde, daß eine revolutionäre Wende nicht bevorstand, wurden die Unterschiede zwischen Lenin und Bogdanow über solche Fragen wie den Boykott eher wichtiger als kleiner. Im Schlepptau der allgemeinen ideologischen Reaktion nahmen auch philosophische Meinungsverschiedenheiten größere Bedeutung an. Bogdanow, Basarow und Lunatscharsky wählten diesen Augenblick, um sich den Menschewiki, Juschkewitsch und Walentin, und anderen Schriftstellern anzuschließen, um ein Symposion über Philosophie mit dem Titel Umrisse der Philosophie des Marxismus zu veröffentlichen.

Es wäre falsch, anzunehmen, daß Lenin sich an der Philosophie einzig deswegen interessierte, weil sie eine Waffe im Fraktionskampf gegen Bogdanow lieferte, obwohl dieses Element bei ihm ein großes Gewicht hatte. Die Philosophie kam unvermeidlich in den Vordergrund des marxistischen Denkens zu jener Zeit. Vor der 1905er Revolution war die ökonomische Lehre von Karl Marx das wichtigste Thema der Diskussion unter Sozialisten. Während der Revolution trat die marxistische Politik an ihre Stelle. In der Periode der Reaktion nach der Revolution kam die marxistische Philosophie unvermeidlich nach vorne. Wie Lenin es ausdrückte:

Pessimismus, Verzicht auf Widerstand, Appellation an einen „Geist“ ist eine Ideologie, die unvermeidlich in einer Epoche auftaucht, wo die ganze alte Ordnung „umgekrempelt worden ist“ und wo die in dieser alten Ordnung erzogene Masse, die die Grundsätze, Gewohnheiten, Traditionen, Glaubenssatz dieser Ordnung mit der Muttermilch eingesogen hat, nicht sieht und nicht sehen kann, wie die „Gestalt gewinnende“ neue Ordnung beschaffen ist, welche gesellschaftliche Kräfte sie „gestalten“ und wie das vor sich geht, welche gesellschaftlichen Kräfte befähigt sind, Erlösung zu bringen von den unzähligen, besonders stark spürbaren Nöten, wie sie Epochen des „Umbruchs“ mit sich bringen. [22]

Da die Politik anscheinend die Greuel des zaristischen Regimes nicht überwinden konnte, wurde die Flucht in den Bereich der philosophischen Spekulation zur Mode. Und mit dem ausbleiben jedes Kontakts mit einer wirklichen Massenbewegung mußte man beim Beweis aller Sachen bei Null anfangen – nichts in den Traditionen der Bewegung, keiner ihrer Grundsätze blieb vor der ständigen Infragestellung geschützt.

Das Jahr 1904 war der 110. Todestag des Philosophen Immanuel Kant. Während der nächsten wenigen Jahre diskutierten Marxisten intensiv die Kantsche Ethik und die „neu-Kantsche“ Erkenntnistheorie, wie sie im modernen naturwissenschaftlichen Denken erschien. In dieser Diskussion versuchten Bogdanow, Lunatscharsky, Basarow und andere, den Marxismus mit der neukantschen Erkenntnistheorie zu vereinigen, wie sie von Ernst Mach und Richard Avenarius vorgestellt wurde. Lunatscharsky ging so weit, sich offen für den Fideismus auszusprechen. [1*] Lunatscharski benutzte religiöse Metapher, indem er sprach von „Gottsuche“ und „Gottbildung“. Gorki wurde von Bogdanow und Lunatscharsky beeinflußt und Die Beichte, ein Roman, den er zu dieser Zeit schrieb, erreicht in der folgenden Passage seinen Höhepunkt:

... ich rief die Menschheit zur neuen Religion ... die Menschen, sie sind die Schöpfer ... in ihnen wohnt [weilt] Gott ... ich sah hier [die Erde, T.C.] – meine Mutter – im Raum zwischen den Sternen ... und ich sah ihren Meister, das allmächtige und unsterbliche Volk ... Dann fing ich mein Gebet an: „Du bist mein Gott, souveränes Volk, und Schöpfer aller Götter, die Du aus den Schönheiten Deines Geistes in der Mühsal und im Qual deiner Suche gebildet hast. Und die Welt sollte keine anderen Götter haben als Dich, denn du bist der einzige Gott, der Wunder wirkt.“ [24]

Lenins Reaktion war wirklich sehr scharf. Er schrieb an Gorki: „Ein katholischer Pfaffe, der Mädchen schändet ..., ist gerade für die ‚Demokratie‘ weit weniger gefährlich als ein Waffe ohne Priesterrock, ein Pfaffe ohne grobschlächtige Religion, ein von Ideen erfüllter und demokratischer Waffe, der die Erzeugung und Erschaffung eines Gottes predigt.“ [25]

Er benutzte den „philosophischen Stock“ gegen Bogdanow und seine Freunde nicht nur wegen der fraktionellen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen über die Teilnahme an den Dumawahlen, Tätigkeit in den Gewerkschaften usw., sondern auch deswegen, weil er im neukantschen philosophischen Idealismus eine gefährliche Bedrohung gegen das Überleben des Marxismus während der Periode der Reaktion sah. Gesellschaftlich-religiöser Mystizismus und politischer und sozialer Pessimismus gingen Hand in Hand und bedrohten die Überbleibsel der revolutionären Bewegung.

Lenins eigens Werk, Materialismus und Empiriokritizismus litt jedoch auch unter der Mangel an wirklichem Kontakt mit einer lebendigen Bewegung. (Man braucht nur es mit den herrlichen, dialektisch kurz und bündigen und lebendigen Philosophischen Notizbüchern, Band 38 der Leninschen Werke, zu vergleichen.) Es ist bedeutend, daß er nie seine Argumente in späteren Broschüren und Artikeln wiederholte, wie er es immer mit seinen anderen Schriften machte. Keine besonderen Artikel in der Presse arbeiteten die Thesen dieses Buches aus. Noch bezieht Lenin sich in irgendwelchen seiner Schriften, einschließlich seiner riesigen Korrespondenz, nach dem Jahre 1909.

Bis 1909 war der Kampf gegen die religiösen, mystischen seelensuchenden antimaterialistischen Stimmungen der Periode der Reaktion fast vorbei – die Morgendämmerung eines neuen Aufstiegs der Massenbewegung war nicht weit entfernt.

 

 

Die Bogdanowisten kämpfen weiter

Nach der Spaltung, die Lenin im Juni 1909 erzwang, wurden Bogdanow und seine Anhänger zu einer unabhängigen Fraktion in der SDAPR. Sie erklärten sich zu den einzigen „wahren Bolschewiki“. Im Dezember veröffentlichten sie ihre eigene Zeitschrift, die den Namen der ersten bolschewistischen Zeitung trug, die Lenin und Bogdanow Ende 1904 gründeten – Wperjod (Vorwärts). Während der nächsten wenigen Jahre wurden sie als die wperjodistischen Bolschewiki bekannt.

Eine Zeitlang gediehen sie ziemlich gut im Vergleich mit den Leninisten. Lenin schrieb Dezember 1910: „Die Wperjod-Leute haben sich ... als eine Fraktion mit Literaturversand und eigner Agentur gefestigt und sind nach dem Januarplenum 1910 um ein vielfaches erstarkt.“ [26]

Um ihre Ideen zu fördern, organisierten Bogdanow, Lunatscharsky und Alexinski mit der Hilfe von Maxim Gorki eine Parteischule in Capri (Italien) im Jahre 1909, die etwa vier Monate dauerte. Eine zweite Schule wurde in Bologna Ende 1910 und Anfang 1911 organisiert.

... die Schüler der Parteischule auf Capri forderten Lenin auf, dorthin zu kommen, um Vorlesungen zu halten. Lenin weigerte Schi kategorisch, der Aufforderung Folge zu leisten; er erklärte den Schülern den fraktionellen Charakter der Schule und rief sie nach Paris. Innerhalb der Schule entbrannte ein Fraktionskampf. Anfang November hatte fünf Schüler (insgesamt hatte die Schule zwölf), darunter Wilonow, der Organisator der Schule, bereits als entschiedene Lenin-Anhänger erklärt und waren aus diesem Grunde aus der Schule ausgeschlossen worden. Diese Tatsache bildete den besten Beweis dafür, wie recht Lenin hatte, als er auf das fraktionelle Wesen der Schule hinwies. Die ausgeschlossenen Schüler kamen nach Paris ...

Zusammen mit Michail kamen noch fünf Schüler aus Capri an ... Lenin unterrichtete diese Genossen sehr eifrig. die Schüler kehrten später nach Rußland zurück, außer Michail. Dieser hatte Tuberkulose ... Ende Dezember kamen nach Absolvierung der Schule auch die anderen Hörer aus Capri nach Paris. Lenin unterrichtete auch sie. Er sprach mit ihnen über die gegenwärtige Lage, über die Stolypinsche [Agrar-]Reform ... [27]

Diese waren Tage von sehr kleinen Taten: eine winzige Parteischule im Ausland war eine Errungenschaft. Im Grunde existierte die Partei kaum. Die Spaltung mit Bogdanow und seinen Verbündeten schien den Faß zum Überlaufen zu bringen.

Für die Teilnehmer Hand den Streiten unter den Bolschewiki und auch zu den Beobachtern schien es, als ob Lenins Partei am Ende sei. Die Anzahl der Mitglieder ging auf ein sehr niedriges Niveau zurück, von über 40.000 in 1907 bis auf wenige Hunderte in 1910. Sie waren in kleinen Gruppen zersplittert und wurden sehr stark von der Geheimpolizei unterwandert. Die Gruppen hatten kaum Kontakt miteinander oder mit der Führung im Ausland. Lenin verlor auch die besten Schriftsteller, die er mit sich bislang gehabt hatte – Bogdanow, Lunatscharsky, Pokrowski, Roshkow und Gorki. Die Menschewiki freuten sich hämisch über die intellektuelle Armut der Bolschewiki. Daher fühlte Martow einige Jahre nach dem Ausschluß von Bogdanow und den anderen, daß er die bolschewistische Führung abschreiben könnte:

eine Handvoll von Menschen buchstäblich ohne Namen oder mit Namen, die einen zwielichtigen [zweifelhaften] Klang hatten, eine Gruppe, die dem intellektuellen Lumpenproletariat angehörte, eher als der Intelligenz. Nachdem sie den Stab in ihre Hände genommen hatten, wurden sie zu Korporälen, die den Namen eines einzigen intellektuellen – Lenin – als ihre ideologische Fahne trugen. [28]

Aber dies war eine menschewistische Illusion. Das Talent der Parteikader für Führung ließ sich nicht mit dem einzigen Maßstab der literarischen Fähigkeit messen. Und Lenin behielt Hunderte seiner Kader während der Periode der Reaktion, gewann einige Hundert mehr und bildete sie aus – immer in Vorbereitung auf die Zukunft.

 

 

Fußnote

1*. Der „Fideismus“ wir von Lenin definiert als „eine Lehre, die den Glauben an die Stelle des Wissens setzt oder überhaupt dem Glauben eine gewisse Bedeutung beilegt“. [23]

 

Anmerkungen

1. A. Levin, The Second Duma, Newhaven 1940, S.70.

2. Lenin, Werke, Bd.15, S.461.

3. ebenda, Bd.16, S.30.

4. ebenda, S.54–60.

5. T. Hammond, Lenin on Trade Unions and Revolution 1893-1917, New York 1957, S.56-7.

6. Lenin, Werke, Bd.16, S.56-7.

7. ebenda, S.37.

8. Marx u. Engels, Werke, Bd.8, S.574-5.

9. Lenin, Works, Bd.16, S.349.

10. Lenin, Werke, Bd.15, S.462.

11. ebenda, S.460-1.

12. ebenda, Bd.31, S.16-7.

13. ebenda, Bd.16, S.40.

14. ebenda, Bd.15, S.452-3.

15. Stalin, Works, Bd.2, S.172.

16. Lenin, Werke, Bd.37, S.92; ebenda, S.205.

17. ebenda, Bd.8, S.385.

18. ebenda, Bd.13, S.453.

19. ebenda, S.457.

20. ebenda, S.459.

21. ebenda, Bd.34, S.382.

22. ebenda, Bd.17, S.35.

23. ebenda, Bd.14, S.9.

24. M. Gorky, The Confession, London 1910, S.309 u. S.319-20.

25. Lenin, Werke, Bd.35, S.99.

26. ebenda, Bd.16, S.373.

27. Krupskaja, a.a.O. S.226-8.

28. Nascha Sarija, Nr.3, 1914, zit. in Getzler, a.a.O., S.137.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.6.2001