John Molyneux

 

Marxismus und die Partei

 

3. Lenin: Vom russischen Bolschewismus zur
Kommunistischen Internationale

(Teil 2)

 

5. Die Partei in der Revolution

Die folgenschweren Ereignisse der Russischen Revolution bestätigten Lenins Theorie der Partei auf zwei grundsätzlichen Weisen. Erstens zeigte sie, daß eine ursprünglich winzige Organisation in der Hitze des Kampfes äußerst schnell wachsen könnte und, noch wichtiger, die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Arbeiterklasse gewinnen. Im Januar 1917 stand die Mitgliedschaft der Bolschewistischen Partei bei 26.000. Bis ende April war sie auf 79.204 und in August wurde sie auf etwa 200.000 geschätzt. [76] Vermutlich war sie bis Oktober größer. Gemessen gegen die russische Bevölkerung als Ganzes blieb 200.000 eine fast unbedeutende Anzahl, aber die bolschewistische Mitgliedschaft war in der kleinen, aber politisch entscheidenden Arbeiterklasse konzentriert. Leonard Schapiro hat berichtet: „Eine Auswahl der Antworten von Organisationen in 25 Städten zeigt, daß der Prozentsatz der organisierten Bolschewiki unter der Fabrikarbeitern in den Städten zu diesem Datum (August 1917) von 1 Prozent bis 12 Prozent reichte – der Durchschnitt für die 25 Städte war 5,4 Prozent.“ [77] Für eine disziplinierte aktivistische Partei war das ein sehr hoher Anteil. Sie bedeutete, daß in den wichtigsten Industriezentren, besonders in Petrograd, die Bolschewiki die vollständige Führung des Proletariats hatten. So war die erste Körperschaft von Vertretern, die eine bolschewistische Mehrheit ergab, eine Konferenz der Petrograder Fabrikdelegierten am Ende Mai, und als der Vorstand der Sowjets, der von den Menschewiki und den Sozialistischen Revolutionären dominiert wurde, zu einer Massendemonstration in Petrograd am 18. Juni aufrief, marschierten etwa 400.000 und 90 Prozent der Transparenten trugen bolschewistische Parolen. Was Oktober betrifft, schrieb Lenins alter Gegner, Martow: „Versteht, bitte, was wir vor uns haben ist ein siegreicher Aufstand des Proletariats – fast das gesamte Proletariat unterstützt Lenin und erwartet aus dem Aufstand seine soziale Befreiung.“ [78] In neun Monaten stiegen die Bolschewiki von einer anscheinend unbedeutenden Splittergruppe zur mächtigsten politischen Kraft in Rußland auf.

Zweitens zeigte die Revolution die Unentbehrlichkeit einer zentralisierten revolutionären Partei für die Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse. Die Februarrevolution, die den Zarismus stürzte und die Sowjets erzeugte, wurde natürlich nicht von den Bolschewiki oder überhaupt von einer politischen Partei geführt. Wie E.H. Carr bemerkt:

Die Februarrevolution ... war der spontane Ausbruch einer Menschenmenge, die durch die Entbehrungen des Krieges und die offenkundige Ungleichheit in der Aufteilung der Belastungen verärgert war ... Die revolutionären Parteien spielten keine direkte Rolle in der Durchführung der Revolution. Sie erwarteten sie nicht und wurden am Anfang etwas von ihr verblüfft. Die Schaffung des Petrograder Sowjets der Arbeiterdeputierten im Moment der Revolution war eine spontane Tat der Arbeiter ohne zentrale Leitung. [79]

Aber gerade deswegen setzte die siegreiche Revolution, die von Arbeitern und Soldaten (Bauern in Uniform) durchgeführt wurde, die Macht nicht in den Händen der Arbeiterklasse. Ganz im Gegenteil, sie übergab die macht freiwillig der Bourgeoisie in der Form der Provisorischen Regierung. Den Arbeitern und Bauern gefiel das sicherlich nicht. „... die Meetings der Soldaten und Arbeiter [begannen] schon seit dem 3. März zu fordern, unverzüglich die Provisorische Regierung der liberalen Bourgeoisie zu beseitigen und die Macht selbst in die Hände zu nehmen.“ [80] Aber mangels Organisation und politischer Führung waren sie dazu unfähig, ihren Willen aufzuzwingen. Nur mit dem Wachstum der Bolschewiki zur Massenpartei und mit dem hervortreten einer bolschewistischen Mehrheit in den Sowjets konnte diese Embryonen der Staatsmacht der Arbeiterklasse ihr Potential erfüllen. Nur durch eine Partei ließ sich ein deutliches und knappes politischen Programm – „Brot, Land und Friede“, „Alle Macht den Sowjets“ – formulieren, das dazu fähig war, die Gefühle der Massen zu konkretisieren und die verschiedenen Stränge der Revolution, die Arbeiter, die Bauern und die Soldaten, zu vereinigen.

Die Partei war auch äußerst wichtig für die Durchführung und den Erfolg des tatsächlichen Aufstands. Erstens konnte sie durch ihre Fähigkeit, die Situation in Rußland als Ganzes zu schätzen, ihre Disziplin und ihre moralische Autorität bei den Arbeitern einen verfrühten Aufstand in „den Julitagen“ verhindern, der die ungeduldigen Arbeiter und Soldaten in Petrograd vom übrigen Land hätte isolieren können. Wären die Bolschewiki weniger diszipliniert und weniger gut verankert gewesen, hätten sie vielleicht durch die Ereignisse aufgehen und zu einem hoffnungslosen Aufstand gedrängt werden, der das Schicksal der Pariser Kommune oder der Deutschen Revolution von 1919 erlitten hätte. [81] Dann, als nach der Niederschlagung des Kornilowschen Komplotts die Stimmung des Landes, nicht bloß Petrograds, sich zu ihrem Gunsten verschoben hatte und es klar wurde, daß die Bolschewiki eine Mehrheit beim Zweiten Kongreß der Sowjets haben würde, konnte die Partei den kritischen Augenblick ergreifen, wo die Macht rasch und reibungslos gewonnen werden konnte. Carr schreibt: „Für die Organisation des fast unblutigen Sieges vom 25. Oktober-7. November war der Petrograder Sowjet und sein kriegsrevolutionäres Komitee verantwortlich.“ [82] Aber der Sowjet hatte eine bolschewistische Mehrheit und das kriegsrevolutionäre Komitee enthielt bloß einen Nichtbolschewik (ein junges Mitglied der Sozialistisch-Revolutionären Partei). Außerdem wurde die ursprüngliche Entscheidung, den Aufstand durchzuführen, die sie umsetzen, nicht vom Sowjet getroffen, sondern vom Zentralkomitee der Partei in geheimer Sitzung getroffen. [83] Noch konnte es anders sein, denn zeitliche Abstimmung und Geheimhaltung waren von entscheidender Bedeutung. Eine öffentliche Debatte im Sowjet hätte die Provisorische Regierung gewarnt und ihr die Möglichkeit gegeben, Präventativmaßnahmen zu unternehmen [im Vorfeld zu handeln]. Von ihrer Natur her waren die Sowjets heterogen. Nur eine disziplinierte und politische vereinigte Körperschaft, die Partei, konnte die taktischen Für und Wider des Aufstands diskutieren und ihre Durchführung planen. Und sofort nach der Eroberung der Macht besaß nur die Bolschewistische Partei die Einheit des Willens und der Entschlossenheit, um eine Regierung zu bilden, die dazu fähig war, mit der äußerst schwierigen und chaotischen Situation zurecht zu kommen, die vor der Revolution stand.

Die herausragende Rolle der Bolschewistischen Partei im Oktoberaufstand in Verbindung mit der verhältnismäßig kleinen Anzahl von Teilnehmern am Kämpfen und die Kürze des Vorgangs (mindestens in der Hauptstadt) haben viele Kommentatoren dazu geführt, die Revolution als im wesentlichen einen Putsch [Staatsstreich] durch eine winzige, aber entschlossene Minderheit darzustellen, die ganz unabhängig von der Klasse handelte, die sie zu vertreten behauptete. [84] Diese Ansicht scheint verstärkt zu sein durch Lenins wiederholtes Bestehen darauf, daß es notwendig sei, „die konstitutionellen Illusionen und die Hoffnungen auf den Sowjetkongreß zu bekämpfen, die vorgefaßte Meinung, der Sowjetkongreß müsse unbedingt ‚abgewartet’ werden, aufzugeben“. [85] Verstieß der tatsächliche Verlauf des Aufstandes nicht völlig gegen die Unterscheidung zwischen Partei und Staat, die wir früher diskutierten, und hieß das nicht, daß in der Praxis die leninistische Vorstellung der Partei als Avantgarde, die eine Minderheit ist, notwendigerweise zur Ergreifung der Macht durch diese Minderheit führt? Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, nicht bloß auf die Periode zu schauen, wo das ganze Schicksal der Revolution von einigen Tagen des Kämpfens abhing, sondern auf die ganze Entwicklung der Leninschen Politik durch das ganze Jahr 1917. Lenin setzte die Bolschewiki auf den Kurs zur Eroberung der Macht mit seinen „Aprilthesen“, aber von Anfang an grenzte er sich „von jedem blanquistischen Abenteurer „. [86] „Ich habe IN den Thesen“, schrieb Lenin, „mit größter Bestimmtheit den Kampf um den Einfluß innerhalb der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten in den Mittelpunkt gestellt. Um auch nicht den leisesten Zweifel in dieser Beziehung aufkommen zu lassen, habe ich in den Thesen zweimal die Notwendigkeit der geduldigen, beharrlichen, ‚den praktischen Bedürfnissen der Massen angepaßten’ ‚Aufklärungs’arbeit betont.“ [87] „Geduldige Aufklärung“ blieb die Linie Lenins und der Bolschewiki während des Frühjahrs und des Sommers von 1917 und immer wurde der Kampf um die Macht mit der Überzeugung der Sowjets verbunden. Auch als Juli Lenin der Meinung war, daß die Sowjets sich entscheidend in den antirevolutionären Lager bewegt hätte, und deshalb die Parole: „Alle Macht den Sowjets“, zurückziehen wollte, war er immer noch vorsichtig, davor zu warnen, daß „der Entscheidungskampf nur möglich ist bei einem neuen Aufschwung der Revolution, der breiteste Massen ergreift“. [88] Noch hat er dann die Vorstellung des Sowjets aufgegeben. „Sowjets können und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung treten, aber nicht die jetzigen Sowjets, nicht Organe des Paktierens mit der Bourgeoisie, sondern Organe des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie. Daß wir auch dann für den Aufbau des ganzen Staates nach dem Typ der Sowjets eintreten werden, das stimmt.“ [89] Erst als die Bolschewiki eine Mehrheit in den Sowjets errungen hatten, stellte Lenin den Aufstand auf die Tagesordnung.

Die Tatsache, daß es vorrangig die Partei war, indem sie durch den Petrograder Sowjet handelte, die den Aufstand durchführte, widerspricht nicht diese Perspektive, da er hauptsächlich ein Vernichtungsvorgang war. Die neue Struktur der Staatsmacht bestand schon und wurde als höchste Autorität sowohl von den Arbeitern als auch von der Armee anerkannt. Die Aktion in der Nacht des 24./25. Oktober beseitigte einfach die Provisorische Regierung und ließ die Sowjets als einzige Macht. Ferner stützten die Bolschewiki ihren Anspruch, die Regierung zu bilden, auf ihrer Sowjetmehrheit und nicht auf ihrem Recht als bewaffnete Eroberer. Am 5. November schrieb Lenin:

In Rußland darf es keine andere Regierung geben als die Sowjetregierung. In Rußland ist die Sowjetmacht erkämpft worden, und es ist gewährleistet, daß die Regierung aus den Händen der einen Sowjetpartei in die Hände einer anderen ohne eine Revolution, durch einfachen Beschluß des Sowjets, durch einfache Neuwahlen der Sowjetdeputierten übergehen kann. Der Zweite Gesamtrussische Sowjetkongreß hat der Partei der Bolschewiki die Mehrheit gebracht. Nur eine von dieser Partei gebildete Regierung ist deshalb eine Sowjetregierung. [90]

So hat im allgemeinen die praktische Probe [Prüfung] der Russischen Revolution Lenins Theorie der Partei glänzend bestätigt. Sie rechtfertigte völlig seine Überzeugung, daß eine von Prinzipien geleitete und disziplinierte Avantgarde eine entscheidende Rolle beim Erringen der sozialistischen Revolution spielen würde. Aber hier muß man eine Warnung aussprechen, denn der Prozeß, durch den die Bolschewistische Partei in Wirklichkeit dazu kam, diese Rolle zu spielen, war keineswegs automatisch.

Vor Lenins Wiederkehr nach Rußland, hatte die bolschewistische Führung verfiel in eine Position der bedingten Unterstützung für die Provisorische Regierung und auch für den Krieg. All Lenin zum ersten Mal erklärte, daß er für den Sturz der Provisorischen Regierung und für „alle Macht den Sowjets“ war, fand er keine Unterstützung in den führenden Kreisen der Partei. Letztere, die sich auf der langjährigen bolschewistischen Formel „der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ stützten, prangerten Lenins Position in der Prawda als „unannehmbar“ an. Auch die am sorgfältigsten vorbereitete revolutionäre Partei konnte nicht alle konkreten Merkmale der Revolution voraussehen und mußte deshalb von der Realität und von den Arbeitern lernen. Innerhalb der Parteiführung war Lenin der Agent dieses Lernprozesses. „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens ewiger Baum“, [91] schrieb Lenin, als er „jene ‚alten Bolschewiki’ [verurteilte], die schon mehr als einmal eine traurige Rolle in der Geschichte unserer Partei gespielt haben, indem sie sinnlos eine auswendig gelernte Formel wiederholten, anstatt die Eigenart der neuen, der lebendigen Wirklichkeit zu studieren“. [92] Die Tatsache, daß, obwohl er von einer Position der anscheinenden Isolation anfing, Lenin so rasch die Partei von seiner Position überzeugte, war zum Teil seiner großen persönlichen Prestige zu verdanken, aber auch der Tatsache, daß er die Ansichten der fortgeschrittenen Arbeiter theoretisch artikulierte, die in die Partei strömten. Lenins Tiraden gegen die „Alt-Bolschewiki“ paßte mit dem Druck zusammen, der aus den Fabrikgebieten [Industriegebieten] hochkam. Wiederholt während des ganzen Jahres 1917 bemerkte Lenin, daß die Partei links von ihrem Zentralkomitee stand, und die Massen links von der Partei.

Auch nachdem Lenin den Sieg prinzipiell bei der Aprilkonferenz gewonnen hatte, schwankten Teile der Partei immer noch weiter und das war am deutlichsten in der Frage des Aufstands. Kamenew, Sinowjew, Nogin, Miljutin und Rykow bildeten eine Gruppe innerhalb der Führung, die absolut gegen die Durchführung eines Aufstands waren. [93] Kamenew und Sinowjew standen neben Lenin als die autoritativsten Führer der Partei und trotzdem schwankten sie im entscheidenden Moment. Es brauchte einen Monat der Bombardierung durch Lenin, einschließlich Drohungen, daß er zurücktreten und unter der Basis eine Kampagne führen würde, [94] um diese Opposition zu überwinden und das Zentralkomitee aus ihrer Trägheit zu rütteln. Als direkt nach der Machtergreifung die Sinowjew-Kamenew-Gruppe forderte, daß die Bolschewiki einer Koalition mit den Menschewiki und den Sozialistischen Revolutionären beitreten sollten, drohte Lenin noch einmal ein Spaltung (“eine ehrliche und offene Spaltung ist jetzt unvergleichlich besser als Sabotage innerhalb der Partei, als die Hintertreibung der eigenen Entscheidungen, als Desorganisation und Entkräftung“ [95]) und erklärte, daß, wenn die Opposition eine Mehrheit in der Partei hätte, sie ihre Koalitionsregierung bilden sollte und daß er „zu den Matrosen gehen“ würde.

Die Tatsache, daß Teile der Bolschewistischen Partei, und gelegentlich die Partei als Ganzes, in dieser Weise wankte, widerlegt natürlich nicht die Prinzipien, auf denen sie aufgebaut wurde. Weder vorher noch seitdem hat irgendeine Arbeiterpartei sich besser ihre Sache unter den Bedingungen einer revolutionären Erhebung gemacht. Aber es heißt eigentlich, daß die Organisation der Partei nach dem leninistischen Muster nicht an sich eine Garantie des Erfolgs ist. Sie ist nicht ein organisatorischer Schlüssel, die alle Türe [Tore] der Geschichte eröffnet. Die revolutionäre Partei ist unentbehrlich, aber auch der revolutionärste Partei neigt zu einer gewissen konservativen routinemäßigen Arbeitsweise einfach deswegen, weil sie eine permanente stabile Organisation sein muß. Ebenso führt die Gründung einer Partei als getrennte Körperschaft selbst zum Risiko, daß die Partei sich von der Partei abtrennt. Der Vorteil der leninistischen Partei bestand darin, daß, obwohl sie diese Gefahren nicht ausschließen konnte, sie sie auf ein Minimum reduzierte. Die Größe Lenins in der Russischen Revolution bestand darin, daß er – der Parteimann par excellence – letzten Endes über seine Partei hinausgehen konnte. Er konnte sozusagen über den Kopf der Partei hinaus zur Masse der russischen Arbeiter und Soldaten hinausreichen, nicht sosehr um sie anzusprechen, als auf sie zu reagieren, und konnte dadurch die Partei dazu zwingen, auch auf sie zu reagieren. Wenn man diese Idee als theoretische Verallgemeinerung ausdrückt, kann man sagen, daß für Lenin, obwohl die Partei oft einen hohen Ausmaß an Autonomie gegenüber der Arbeiterklasse bewahren müßte, und obwohl die Ansprüche der Partei auf Disziplin stark seien, die Partei letzten Endes der Klasse unterworfen und von ihr abhängig bleibe. Die leninistische Theorie der Partei impliziert keineswegs die Fetischisierung der Parteiloyalität, die die Sozialdemokratie kennzeichnete, und die später die groteskesten Formen und Dimensionen in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und den anderen offiziellen kommunistischen Parteien der Welt annehmen sollte.

 

 

6. Die einzelne Weltpartei

Lenins Theorie der Partei war, so haben wir argumentiert, in allen wesentlichen Bestandteilen bis Anfang 1917 vollgeformt. Jetzt, wo die Theorie durch die Oktoberrevolution bestätigt worden war, besaß Lenin die politische Autorität und Einfluß, um die logische Schlußfolgerung jener Theorie ins Leben zu rufen, nämlich die Kommunistische Internationale. Der erst Kongreß der Kommunistischen Internationale eröffnete in Moskau am 2. März 1919, aber in Wirklichkeit war er nicht viel mehr als das Hochheben einer Fahne und eine Absichtserklärung. Nur 35 Delegierte waren anwesend und die meisten von ihnen kamen von den kleinen Nationen, die früher Teil des Zarenreichs waren. Erst beim zweiten Kongreß im Juli 1920, an dem sich 217 Delegierte beteiligten, nahm die Internationale bestimmte Gestalt als kämpfende Massenorganisation an. Die Führung der Internationale war selbstverständlich die Arbeit vieler Hände und Lenin trat oft in den Hintergrund. Sinowjew war ihr Präsident und viele ihrer wichtigsten Manifesten wurden von Trotzki geschrieben. Nichtsdestotrotz ist es ganz legitim, die Arbeit der Kommunistischen Internationale in einer Studie über Lenins Theorie der Partei in Betracht zu ziehen, da er sowohl ihr Initiator als auch ihr begeistertester Verfechter war (manchmal auch gegen seine eigenen Anhänger) und sicherlich alle ihrer wichtigsten strategischen Entscheidungen entweder inspirierte oder billigte. [96] Die Diskussion hier wird äußerst kurz und unzulänglich sein. Es gibt zwei Gründe dafür; erstens würde eine zulängliche Behandlung aller Fragen der Parteistrategie, -taktik und -organisation, mit denen die Internationale sich besonders in den ersten Jahren beschäftigte, würde mindestens ein eigenes Buch benötigen; [97] zweitens haben wir uns hauptsächlich mit der Entwicklung der Leninschen Theorie der Partei beschäftigt und die Arbeit der Internationale ging hauptsächlich um die Anwendung von Ideen, die wir schon diskutiert haben. Folglich werden nur auf die Hauptumrisse hier angedeutet, mit der Hauptbetonung auf den Aspekten der Komintern, die in irgendeiner Weise neue Ansätze waren.

Der am unmittelbarsten treffende Unterschied zwischen der Zweiten und der Dritten Internationale als Organisationen lag in der Tatsache, daß die erste eine lose Föderation von unabhängigen Nationalparteien war, während die letzte streng zentralisiert sein sollte. Wie die Satzung, die beim zweiten Kongreß angenommen wurde, es formulierte: „Die Kommunistische Internationale muß tatsächlich und in der Tat eine einzelne kommunistische Partei der ganzen Welt sein. Die Parteien in den verschiedenen Ländern sind bloß ihre getrennten Sektionen.“ [98] Die höchste Autorität wurde dem Weltkongreß verliehen, der regelmäßig einmal im Jahr treffen sollte, aber zwischen den Kongressen sollte die Internationale von ihrem Exekutivkomitee geleitet werden, dem breite Befugnisse gegeben wurden.

Das Exekutivkomitee führt die ganze Arbeit der Kommunistischen Internationale von einem Kongreß bis zum nächsten ... und gibt Anleitungen aus, die für alle Parteien und Organisationen verbindlich sind, die der Kommunistischen Internationale angehören. Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale wird Gruppen bzw. Personen ausschließen, die gegen internationale Disziplin verstoßen, und hat auch das Recht, diejenigen Parteien aus der Kommunistischen Internationale auszuschließen, die gegen die Entscheidungen des Weltkongresses verstoßen. [99]

Diese Vorstellung der Internationale als zentralisierte Weltpartei war ein größerer Fortschritt. Zum Teil wurde es entworfen, um eine Wiederholung der nationalistischen Zersplitterung zu verhindern, die 1914 die Zweite Internationale zerstört hatte. Positiver bestand ihr Ziel darin, einen vereinigten Generalstab von der angeblich bevorstehenden Weltrevolution zu schaffen. Trotzki hat geschickt [prägnant] das Denken zusammengefaßt, die hinter dieser Organisationsform lag.

Lenins Internationalismus ist nicht eine Formel zur Harmonisierung von nationalen und internationalen Interessen durch leeres Geschwätz. Er ist eine Richtlinie für revolutionäre Aktion, die alle Nationen umfaßt. Unser Planet, der von der sogenannten zivilisierten Menschheit bewohnt wird, wird als ein einziges Schlachtfeld betrachtet, wo verschiedene Nationen und gesellschaftliche Klassen kämpfen. [100]

Ein Schlachtfeld benötigte eine Armee und eine Obere Heeresleitung. Die Kommunistische Internationale sollte, wie Lukacs es darstellte, „die Bolschewistische Partei – Lenins Vorstellung der Partei – im weltweiten Ausmaß“ sein. [101]

Um dieses Ziel zu verwirklichen, war es notwendig, das rasche Wachstum echter revolutionärer Parteien in allen wichtigsten kapitalistischen Ländern zu fördern. Dabei arbeitete die Komintern, um existierende kommunistische Gruppen und Tendenzen zusammenzuziehen und sie in stabile Parteien zu vereinigen, sowie um den größtmöglichen Anteil der Basis der sozialistischen Partei Europas (vor allem der USPD, der Sozialistischen Partei Italiens (PSI) und der Sozialistischen Partei Frankreichs) zu überzeugen und zu gewinnen. In diesem Prozeß war der Hauptfeind der „Zentrismus“; [102] dabei mußte man die zentristischen Führen in Mißkredit bringen, um ihre Anhänger zu gewinnen, und man mußte die zentristischen Führer daran verhindern, der Internationale beizutreten und sie anzustecken. Es war gerade der Druck von der Basis, der Reformisten in Richtung der Komintern zog und diese letzte Gefahr schuf. Beim zweiten Kongreß warnte Lenin davor: „Die Kommunistische Internationale wird im gewissen Grade zur Mode ... [und] unter Umständen kann der Kommunistischen Internationale die Gefahr drohen, durch wankelmütige und halbschlächtige Gruppen verwässert zu werden, die sich von der Ideologie der zweiten Internationale noch nicht frei gemacht haben.“ [103] Ebenso wie in 1903 Lenin auf Paragraph 1 der Parteisatzung als Waffe gegen den Opportunismus bestand, entwarf er jetzt 21 Bedingungen für den Zutritt zur Kommunistischen Internationale. Diese waren äußerst streng. Bedingung 2 forderte: „Jede Organisation, die der Kommunistischen Internationale angehören will, muß die Reformisten und ‚Zentristen’ von allen irgendwie verantwortlichen Positionen in der Arbeiterbewegung ... planmäßig und systematisch entfernen.“ [104] Bedingung 4 bestand auf „systematisch[er] Propaganda und Agitation ... in der Armee“. [105] Bedingung 14 erforderte: „Kommunistische Parteien derjenigen Länder, in denen die Kommunisten legal arbeiten, müssen periodisch Reinigungen (Umregistrierungen) der Mitgliederbestandes der Parteiorganisationen vornehmen, um die Partei systematisch von kleinbürgerlichen Elementen zu säubern, die sich unweigerlich an sie schmieren.“ [106] Als er die 21 Bedingungen zusammenfaßte, erklärte Sinowjew: „Ebenso wie es nicht leicht ist, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, so wird es, hoffe ich, nicht leicht, daß die Anhänger des Zentrums durch die 21 Bedingungen durchschlüpfen.“ [107] Prominente Führer des Zentrums, Crispien und Dittmann von der USPD und Serrati von der PSI, waren beim Kongreß anwesend, aber ihre Einwände wurden eindringlich von Lenin widerlegt als „durch und durch kautskyanisch ... [und] ganz und gar durchdrungen mit einem bürgerlichen Geist“. [108]

Parallel zum Kampf gegen den Zentrismus gab es eine Debatte mit verschiedenen revolutionären, aber linksradikalen bzw. syndikalistischen Tendenzen. diese wurde viel freundlicher durchgeführt. Die Fehler der „Linke“ wurden hauptsächlich ihrer „Jugend“ und ihrem Mangel an Erfahrung zugeschrieben. Einige der „Linken“, besonders Pestaña von den spanischen Syndikalisten und Tanner von der britischen Shop-Stewards-Bewegung [1*], waren über den Opportunismus der sozialdemokratischen Parteien so empört, daß sie die Notwendigkeit einer proletarischen Partei überhaupt ablehnten. Als Antwort darauf legten Lenin, Trotzki und Sinowjew geduldig das Abc der leninistischen Theorie der Partei dar und betonten den Gegensatz zwischen einer sozialdemokratischen und einer kommunistischen Partei. [109] Es ist bemerkenswert, daß es keine Tiraden gegen den „Ökonomismus“ und keine Erwähnung der „Einführung des Sozialismus in die Arbeiterklasse von außen“ gab. Die angenommenen Thesen erklärten: „Die revolutionären Syndikalisten sprechen oft von der großen Rolle, die von einer entschlossenen revolutionären Minderheit gespielt werden kann. Eine wirklich entschlossene Minderheit der Arbeiterklasse, eine Minderheit, die kommunistisch ist, die handeln will, die ein Programm hat, die vor hat, den Kampf der Massen zu organisieren – das ist es gerade, was eine kommunistische Partei ist.“ [110]

Schwieriger und lehrreicher war das Argument mit denjenigen, die die Notwendigkeit einer revolutionären Partei akzeptierten, die aber eine absolute reine Politik mit keinerlei Kompromissen, keinerlei Manövern und keinerlei Beteiligung an bürgerlichen Parlament bzw. reaktionären Gewerkschaften verfolgen wollten – das war die Linie der KAPD (die vor kurzem von der KPD abgespalten war), von Bordiga in Italien, von Gorter und Pannekoek in den Niederlanden, von Gallacher und Sylvia Pankhurst in Großbritannien. Für Lenin war das alle „ein alter, längst bekannter Plunder“, [111] aber seine Antwort, Der „linke“ Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus, die speziell für den zweiten Kongreß geschrieben wurde, war eine seiner gründlichsten und verständlichsten Darlegungen der Strategie und Taktik der revolutionären Partei. Indem er einige der weniger bekannten Episoden in der Geschichte des Bolschewismus erzählte, argumentierte Lenin, daß es notwendig sei, in den Gewerkschaften zu bleiben und „in ihnen um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten“ [112], und daß „solange ihr nicht stark genug seid, das bürgerliche Parlament und alle sonstigen reaktionären Institutionen auseinanderzujagen, ihr verpflichtet seid, gerade innerhalb dieser Institutionen zu arbeiten“. [113] „Die ganze Aufgabe der Kommunisten besteht darin“, schrieb er, „daß sie es verstehen, die Rückständigen zu überzeugen, unter ihnen zu arbeiten, und sich nicht durch ausgeklügelte, kindische „linke“ Losungen von ihnen absondern.“ [114] Lenin kümmerte sich darum, daß Kommunisten nicht „das, was für uns erledigt ist, nicht als erledigt für die Klasse, nicht als erledigt für die Massen betrachten“ sollten. [115]

Die Vorstellung der Partei, die von Lenin im „Linken“ Radikalismus dargestellt wird, ist nicht die einer Bande von bornierten Dogmatisten, die nur inne eine Richtung – geradeaus– marschieren, sondern einer hoch bewußten und politisch geschickten Körperschaft, die fähig dazu ist, zu manövrieren, gelegentlich Kompromisse einzugehen, so daß sie nie Kontakt mit der Klasse verliert, die sie führen will, und trotzdem dazu fähig ist, „durch alle Zwischenstationen und Kompromisse, die nicht von ihnen, sondern von der geschichtlichen Entwicklung geschaffen werden, das Endziel klar hindurchzusehn und zu verfolgen“. [116]Natürlich würde es nicht immer leicht sein, zwischen Kompromissen, die notwendig sein, und denen, die tückisch sind“ zu unterscheiden, aber „ein Rezept oder eine allgemeine Regel, brauchbar für alle Fälle (“keinerlei Kompromisse“!), fabrizieren zu wollen wäre Unsinn“. [117] Was benötigt werde, argumentierte Lenin, sei eine Analyse der konkreten Situation.

Gerade darin besteht unter anderem die Bedeutung der Parteiorganisation und der Parteiführer, die diesen Namen verdienen, daß man durch langwierige, hartnäckige, mannigfaltige, allseitige Arbeit aller denkenden Vertreter der gegebenen Klasse die notwendigen Kenntnisse, die notwendigen Erfahrungen, das – neben Wissen und Erfahrung – notwendige politische Fingerspitzengefühl erwirbt, um komplizierte politische Fragen schnell und richtig zu lösen. [118]

Während der Jahre 1919 und 1920 wurde die Hauptbetonung innerhalb der Komintern auf den Kampf gegen den Opportunismus gelegt, wobei der Linksradikalismus als eine viel weniger ernsthafte Abweichung betrachtet wurde, aber 1921 änderte sich das. Überall in Europa war die Arbeiterbewegung gespalten worden und die Opportunisten und Zentristen waren aus der Internationale ausgeschlossen worden – jetzt verschob sich die Betonung auf den Kampf gegen den „Linksradikalismus“. Der grundsätzliche Grund dafür war die Änderung in der objektiven Lage. Die Periode unmittelbar nach dem Krieg hatte eine internationale Welle von direkten revolutionären Kämpfen gezeugt und die Bourgeoisie war in Panik geraten. Die Perspektive der Internationale war eine unmittelbare Weltrevolution. Aber in einem Land nach dem anderen war die Arbeiter zurückgeschlagen worden und die Bourgeoisie hatte wieder ihr Selbstvertrauen zurückgewonnen. In allen Fällen hatten die neuen kommunistischen Parteien auffallend daran gescheitert, die Unterstützung der Mehrheit der Arbeiterklasse zu gewinnen.

Der unmittelbare Auslöser der Neuorientierung der Strategie der Komintern war die katastrophale Märzaktion der KPD am Anfang 1921. In einer Überreaktion [übertriebene Reaktion] auf der bewußt provokativen Besetzung der Mansfelder Kohlenbergwerke durch die Polizei, versuchten die Führer der KPD ohne Vorbereitung und ohne die Unterstützung der Mehrheit, einen Generalstreik aufzurufen und ihn in einen Aufstand zu verwandeln. Als die Arbeiter nicht reagierten, wurden Parteimitglieder dazu befohlen, sie auf die Straßen zu zwingen, und die Arbeitslosen, unter denen die Partei eine starke Basis hatte, wurden benutzt, um die Betriebe gegen den Willen der Arbeiter zu besetzen. Das Ergebnis war schwere Kämpfe zwischen kommunistischen und nichtkommunistischen Arbeitern, die vernichtende Niederlage der Kommunisten und die Dezimierung der Partei (die Mitgliederzahl fiel um fast zwei Drittel). [119] Nicht damit zufrieden versuchte die „linke“ Führung der KPD, ihre haarsträubende [lächerliche] Abenteuerpolitik in ein System zu verallgemeinern, das unter dem Namen „Theorie der Offensive“ bekannt war.

Offensichtlich war es Zeit, haltzumachen. Lenin erklärte: wenn die „Theoretiker der Offensive“ eine gewisse Richtung bilden sollten, „dann ist ein rücksichtsloser Kampf gegen diese Richtung notwendig, denn andernfalls gäbe es keinen Kommunismus und keine Kommunistische Internationale“. [120] Der dritte Kongreß der Internationale in Juni–Juli 1921 nahm die Parole: „An die Massen“, an und erklärte: „die wichtigste Frage vor der Kommunistischen Internationale heute besteht darin, den vorherrschenden Einfluß über die Mehrheit der Arbeiterklasse zu gewinnen.“ [121] Besondere Aufmerksamkeit wurde jetzt „Teilkämpfen und Teilforderungen“ geschenkt. „Die Aufgabe der kommunistischen Partei besteht darin, den Kampf um konkrete Forderungen auszudehnen, zu vertiefen und zu vereinigen ... Diese Teilforderungen, die in den Bedürfnissen der breitesten Massen verankert sind, müssen von den kommunistischen Parteien in einer Weise aufgestellt, die nicht nur die Massen dazu bringt, zu kämpfen, sondern gerade durch ihr Wesen sie organisiert.“ [122] Die logische Konsequenz dieser neuen Linie war die Einheitsfrontpolitik, die Dezember 1921 vom Exekutivkomitee der Internationale verkündet und 1922 vom vierten Kongreß bestätigt wurde. Die Idee der Einheitsfront bestehe darin, daß man öffentliche Annäherungsversuche bei den Führern der sozialdemokratischen Parteien machen und gemeinsame Aktion auf einem gemeinsamen Programm von grundsätzlichen ökonomischen und politischen Forderungen vorschlagen sollte, das aus den unmittelbaren Bedürfnissen der Arbeiterklasse entstehe. Wenn die Sozialdemokraten sich einverstanden erklärten, dann würden die kommunistischen Parteien die Möglichkeit haben, in der Praxis ihre Überlegenheit als Verteidiger des Proletariats zu beweisen. Wenn die Sozialdemokraten die Vorschläge ablehnten, dann würde die Schuld für jeden Mangel an Einheit [jede Uneinigkeit] auf sie fallen. Aber die Einheitsfront war nicht bloß eine indirekte Waffe gegen die Sozialdemokraten; sie wurde auch dazu entworfen, die Existenz der getrennten kommunistischen Parteien mit dem Bedürfnis der Arbeiterklasse für Einheit im alltäglichen Kampf gegen die Industriellen und den Staat in Einklang zu bringen. [123]

So daß die Parteien der Internationale diese tagtägliche Agitation effektiver [wirksamer] durchführen, ihr einen revolutionären Charakter verleihen und besser für zukünftige revolutionäre Gelegenheiten [Möglichkeiten] vorbereitet werden könnte, hielt man es für notwendig, daß sie sich nicht nur ihre Ideologie, Strategie und Taktik „bolschewisieren“ sollten, sondern auch die Details ihrer Organisation und ihrer Arbeitsmethoden. Wir diskutierten früher die Unterschiede zwischen der Organisation der Bolschewistischen Partei vor der Revolution und die aktuelle Organisation der europäischen sozialdemokratischen Parteien. 1921 arbeiteten viele kommunistische Parteien im Westen immer noch nach dem sozialdemokratischen Muster. Um das zu berichtigen nahm der dritte Kongreß Thesen über „Die Organisierung und Aufbau von Kommunistischen Parteien“, die von jeder nationalen Sektion umgesetzt werden sollten. Außer allgemeinen Bemerkungen über den demokratischen Zentralismus betonten die Thesen die Verpflichtung aller Mitglieder zur Arbeit, die Schlüsselrolle der Betriebs- und Gewerkschaftszellen, die Wichtigkeit der Berichterstattung über allen Aktivitäten und die Notwendigkeit eines illegalen Kommunikationsnetzes und gaben Hinweise darüber, wie man für Veranstaltungen und für die Arbeit in den Gewerkschaftsverbänden vorbereiten sollte.

Indem sie Millionen Arbeiter in einer einzelnen Weltpartei organisierte, stellt die Kommunistische Internationale während ihrer ersten Jahren in vielen Hinsichten den Höhepunkt dar, der bislang von der marxistischen Bewegung erreicht worden ist. Aber sie ist auch gescheitert; nicht bloß im Sinne, daß sie keine unmittelbare Weltrevolution verursachte, sondern auch im Sinne, daß innerhalb weniger Jahre sie aufhörte, überhaupt eine revolutionäre Kraft zu sein, und zum unterwürfigen Instrument [Werkzeug] der russischen Außenpolitik wurde. Die russische Vorherrschaft war die Klippe, an der die Kommunistische Internationale scheiterte. Es war natürlich unvermeidlich, daß die Führer der ersten erfolgreichen Arbeiterrevolution in der Welt mit Respekt angehört werden sollten. Außerdem war das am Anfang ein positiver Faktor, da die russischen Führer, besonders Lenin und Trotzki, offensichtlich in der Theorie und in der praktischen Erfahrung allen in den neuen europäischen Parteien überlegen waren. Lenin erkannte offen die Tatsache der russischen Führung, nahm aber an, daß sie nur eine vorläufige Sache sein würde. „ Zeitweilig – selbstverständlich nur für kurze Zeit – ist die Hegemonie in der revolutionären proletarischen Internationale an die Russen übergangen, wie sie in verschiedenen Perioden des 19. Jahrhunderts die Engländer, dann die Franzosen und dann die Deutschen innegehabt haben.“ [124] Solange die Russische Revolution ihr Schicksal mit dem Erfolg der Revolution auf internationaler Ebene, [125] half die Vorrangstellung der russischen Führer der Internationale, aber sobald diese Orientierung aufgegeben wurde, wurde die Internationale zunichte gemacht.

Zwei Faktoren erklären die Fortsetzung der passiven Unterwerfung der ausländischen kommunistischen Parteien unter die russische Leitung. Der erste war die Reihe von Niederlagen, die der internationalen Arbeiterbewegung versetzt wurden. Die Russen allein behielten die Prestige des Erfolgs und, da die anderen Parteien nichts außer Rückschlägen erfuhren, entwickelte keine von ihnen das Selbstvertrauen bzw. die Autorität, um sie herauszufordern. Der zweite war das Versäumnis der Bolschewiki, zu kommunizieren, oder, umgekehrt ausgedrückt, das Versäumnis der ausländischen Parteien, zu lernen. Die Kommunisten von Deutschland, Italien, Frankreich usw. erfuhren, daß sie ständig kritisiert und korrigiert wurden, zuerst von links und dann von rechts. Dabei scheinen sie nicht die leninistische Methode als Ganzes, auf der die Korrekturen sich stützten, in sich aufgenommen zu haben, sondern nur die Vorstellung, daß Moskau immer recht habe. Folglich entwickelten sie nie die Fähigkeit zur unabhängigen konkreten Analyse, die laut Lenin immer von der Partei in ihre Führung eingedrungen werden sollte. In seiner letzten Rede zur Kommunistischen Internationale im November 1922 war Lenin anscheinend dabei, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen, obwohl er nicht die Chance hatte, seine Ideen zu entwickeln.

Auf dem III. Kongreß 1921 haben wir einen Resolution angenommen über den organisatorische Aufbau der kommunistischen Parteien und über die Methoden und den Inhalt ihrer Arbeit. Diese Resolution ist ausgezeichnet, aber sie ist fast ausgesprochen russisch, d.h., es ist alles den russischen Verhältnissen entnommen. Das ist das Gute an der Resolution, aber das ist auch das Schlechte. Das Schlechte deshalb, weil ich überzeugt bin, daß fast kein Ausländer sie lesen kann ... und ..., wenn ein Ausländer sie auch ausnahmsweise versteht, so kann er sie nicht durchführen ... wir haben nicht verstanden, wie wir mit unserer russischen Erfahrung an die Ausländer heranzugehen haben ... für uns alle, sowohl für russischen als auch für die ausländischen Genossen, ist das wichtigste, daß wir jetzt ... lernen müssen ... Wir lernen im allgemeinen Sinne, Sie dagegen müssen im speziellen Sinne lernen, um die Organisation, den Aufbau, die Methode und den Inhalt der revolutionären Arbeit wirklich zu verstehen. [126]

Das Scheitern der Internationale und ihre Verwandlung in ein Werkzeug der entstehenden russischen Staatsbürokratie bringen die Vorstellung einer zentralisierten Weltpartei nicht in Mißkredit, denn die Vorstellung die Widerspiegelung des internationalen Wesens des Klassenkampfs war. Aber sie zeigen, daß die Schaffung einer Internationale nicht nur die Vorteile verstärkt, sondern auch die Gefahren, die in der Schaffung einer Partei überhaupt innewohnen. Ein gesunde Internationale wäre ein mächtiges Gegengewicht gegen die Prozesse des Verfalls, die in Rußland am Werk waren. Wie die Dinge lagen, bewies sich die Internationale als zuverlässige Stütze und Unterstützung für die stalinistische Bürokratie. Was von den frühen Jahren der Kommunistischen Internationale übrigblieb, war, mit Trotzkis Worten, „eine unschätzbare programmatische Erbe“. [127] Dazu kann man hinzufügen, daß ihre Dokumente, ihre Thesen, ihre Debatten und in einigen Hinsichten ihre Praxis uns das vollständigste Bild der Anwendung der voll entwickelten leninistischen Theorie der Partei liefern.

 

 

7. Das Wesen der Theorie Lenins

Aus der vorhergehenden Darlegung ist deutlich, daß Lenins Theorie der Partei eine hoch komplexe [komplizierte] vielseitige Lehre ist. Wir haben argumentiert, daß, um diese Theorie völlig zu verstehen, es notwendig ist, ihre Evolution zu verfolgen und jeden Schritt in ihrer Entwicklung auf die praktischen und theoretischen Probleme zu beziehen, die sie erzeugten. Das zu machen, haben wir versucht und auf dieser Basis ist es möglich, eine kurze Zusammenfassung des Wesens der Theorie zu wagen.

Es gibt zwei Grundthemen in Lenins Theorie der Partei: Erstens die absolut unabhängige Organisation der fortgeschrittenen Arbeiter, die die allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse und aller Ausgebeuteten sowie das Endziel der internationalen sozialistischen Revolution aufrechterhält; zweitens das möglichst enge [engstmögliche] Verhältnis mit der Masse der Arbeiter, die dadurch bewahrt wird, daß man praktische Führung in jedem Kampf liefert, in den die Arbeiter eingezogen werden bzw. der sich auf ihre Interessen auswirkt. Das erste bedeutet strenges Festhalten an Prinzipien, eine Bereitschaft, vorläufig die Position einer winzigen und offenbar isolierten Minderheit anzunehmen, und die Führung eines unerbittlichen Kampfes gegen alle Zeichen des Opportunismus. Das letzte bedeutet äußerste [extreme] taktische Flexibilität und die Fähigkeit, jeden Weg auszubeuten, um Kontakt mit den Massen zu bewahren.

Diese beiden Elemente sind nicht getrennt, sondern dialektisch miteinander verbunden und gegenseitig voneinander abhängig. Ohne feste Prinzipien und disziplinierte Organisation wird die Partei entweder dazu unfähig sein, die notwendigen abrupten taktischen Wendungen durchzuführen, oder von ihnen entgleist werden. Ohne tiefe Beteiligung an den Kämpfen der Arbeiterklasse wird die Partei dazu unfähig sein, ihre Disziplin zu schmieden und zu bewahren und wird den Druck fremder Klassen unterworfen. Wenn der tagtägliche Kampf der Arbeiterklasse nicht mit dem Endziel des Sturz es des Kapitalismus verbunden wird, wird sie bei ihrem Zweck scheitern. Wenn die Partei nicht das Endziel mit unmittelbaren Kämpfen verbinden kann, wird sie zu einer nutzlosen Sekte verfallen. Je entwickelter die spontaner Aktivität der Arbeiter, desto mehr fordert sie bewußte revolutionäre Organisation unter Androhung der katastrophalen Niederlage. Aber revolutionäre Organisation läßt sich nicht bewahren und erneuern, wenn sie nicht frisches Blut aus der spontanen Revolte der Massen bekommt.

Alle organisatorischen Formen, die den Bolschewismus kennzeichnen – die strenge Überwachung der Grenzen der Partei, die Verpflichtung aller Mitglieder zur Aktivität, die vollständige innerparteiliche Demokratie, die vorrangige Rolle der Betriebszelle, die Kombinierung der legalen und der illegalen Arbeit –, entstehen aus der Notwendigkeit, diese beiden Elementen zu kombinieren. Die leninistische Partei ist ein Ausdruck der marxistischen Synthese des Determinismus und des Voluntarismus in der revolutionären Praxis.

Während der ganzen revolutionäre Karriere Lenins waren die beiden hier skizzierten Aspekte ständig anwesend, aber zu verschiedenen Zeiten überwog der eine Aspekt gegenüber dem anderen in seinen Angelegenheiten [Interessen]. 1903 und 1914 sowie bei den ersten zwei Kongressen der Kommunistischen Internationale war es die Unabhängigkeit der Partei, die vorherrschte. 1905 und beim dritten und beim vierten Kongreß der Internationale war es das Verhältnis mit den Massen. Oktober 1917 waren die beiden untrennbar ineinander verflochten [miteinander verschmolzen] gerade deswegen, weil die Revolution in der Arbeiterklasse die Verschmelzung ihrer unmittelbaren Forderungen und ihren historischen Interessen kennzeichnete. Teil des einzigartigen Geistes [der einzigartigen Genialität] Lenins bestand in seiner Fähigkeit, zu beurteilen, welchen Aspekt zu betonen sei, in welche Richtung man zu einer bestimmten Zeit „den Bogen überspannen“ sollte.

„Revolutionär und Befürworter des Sozialismus im allgemeinen zu sein“, schrieb er, „reicht nicht aus. Man muß jeden Augenblick wissen, wie man das bestimmte Bindeglied in der Kette finden kann, das man mit aller Kraft greifen muß, um die ganze Kette in ihrer Stelle zu halten und darauf vorzubereiten, sich entschlossen zum nächsten Bindeglied weiter zu bewegen.“ [128]

Von allen Marxisten machte Lenin ohne Frage den größten und bedeutendsten Beitrag zur Entwicklung der der Theorie der Partei. Seine Ideen verwandelten die Organisation, Strategie und Taktik zuerst der russischen und dann der weltweiten Arbeiterbewegung. Sie sind die Kriterien, gegen die, sowie der Rahmen, in dem alle anderen Beiträge zur Theorie der Partei, einschließlich dem von Marx, bewertet werden müssen.

 

 

Anmerkungen

76. Die Zahl für August war eine Schätzung des Parteisekretärs Swerdlow. Die Zahlen für Januar und April waren offizielle Zahlen der Partei, sind aber auch nur Schätzungen.

77. Leonard Schapiro, a.a.O., S.173.

78. Martow an Axelrod, 19. November 1917, zit. in I. Getzler, Martov, Cambridge 1967, S.172.

79. E.H. Carr, a.a.O., Bd.1, S.81.

80. Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Bd.1, Frankfurt/M 1973, S.190

81. Trotzki schreibt: „Die Spartakuswoche im Januar 1919 in Berlin gehört zum gleichen Typ zwischenstuflicher Halbrevolutionen wie die Julitage in Petrograd ... Was fehlte, war eine bolschewistische Partei.“ ebenda, Bd.2.1, S.472.

82. E.H. Carr, a.a.O., Bd.1, S.109.

83. Die Entscheidung wurde durch eine Abstimmung 10 zu 2 für einen Beschluß angenommen, der von Lenin am 10. Oktober gestellt wurde. Für die Diskussion s. The Bolsheviks and the October Revolution, London 1974, S.85–9. Dieses Buch enthält die Protokolle des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (Bolschewiki) von August 1917 bis Februar 1918.

84. So schreibt Leonard Schapiro: „Diese ist die Geschichte darüber, wie eine Gruppe von entschlossenen Männern die Macht für sich in Rußland in 1917 ergriffen und andere daran hinderte, sich daran zu beteiligen.“ The Origin of the Communist Autocracy, London 1966, S.v.

85. Lenin, Werke, Bd.26, S.129.

86. ebenda, Bd.24, S.31.

87. ebenda, S.31.

88. ebenda, Bd.25, S.187.

89. ebenda, S.188.

90. ebenda, Bd.26, S.298.

91. ebenda, Bd.24, S.28.

92. ebenda, S.26.

93. Für die Argumente [Argumentation] dieser Gruppe s. das Dokument von Kamenew und Sinowjew über die aktuelle Lage, The Current Situation, in The Bolsheviks and the October Revolution, S.89-95.

94. s. Lenin, Werke, Bd.26, S.67.

95. ebenda, S.275–6.

96. Wir beziehen uns hier selbstverständlich auf die frühen Jahre der Komintern, spezifisch auf die Periode der ersten vier Kongressen.

97. Eine solche Studie findet man in Duncan Hallas, Der rote Flut, Frankfurt/Main 1997. (Anm. d. Übersetzers)

98. Jane Degras (Hrsg.), The Communist International 1919-1943. Documents, London 19??, Bd.1, S.164.

99. ebenda, S.165.

100. Trotsky, On Lenin, London 1971, S.143.

101. Lukacs, a.a.O., S.59.

102. Zentrismus – der leninistische Begriff für das kautskyanische „Zentrum“ der SPD und ähnliche Tendenzen in anderen Ländern, z.B. Martow in Rußland, Serrati in Italien und MacDonald in England.

103. Lenin, Werke, Bd.31, S.193-4.

104. ebenda, S.194-5.

105. ebenda, S.195.

106. ebenda, S.197.

107. Degras (Hrsg.), a.a.O., Bd.1, S.131.

108. Lenin, Werke, Bd.31, S.238-9.

109. Für Lenins Rede über die Frage s. ebenda, Bd.31, S.223-7. Für Trotzkis Rede s. The First Five Years of the Communist International, Bd.1, New York 1973, S.97-101.

110. Degras (Hrsg.), a.a.O., Bd.1, S.131.

111. Lenin, Der „linke“ Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in Lenin, Ausgewählte Werke, Moskau 1982, S.581.

112. ebenda, S.594.

113. ebenda, S.597.

114. ebenda, S.593.

115. ebenda, S.597.

116. Engels, Programm der blanquistischen Kommuneflüchtlinge, zit. ebenda, S.604.

117. ebenda, S.606.

118. ebenda.

119. Für eine detailliertere Darstellung der Katastrophe der „Märzaktion“ s. Franz Borkenau, World Communism, Ann Arbor 1971, S.214–20. [s. auch Duncan Hallas, Die rote Flut, Frankfurt/Main 1997, S.51-3, und Chris Harman, Die verlorene Revolution: Deutschland 1918-1923, Frankfurt 1998, S.239-274. – Anm. d. Übersetzers]

120. Lenin, Werke, Bd.32, S.492.

121. Degras (Hrsg.), a.a.O., Bd.1, S.243.

122. ebenda, S.259.

123. Für eine weitere Diskussion über die Einheitsfront s. Kap. 5 unten.

124. Lenin, Werke, Bd.29, S.299.

125. Der vierte Kongreß war über diesen Punkt ganz explizit. Ein einstimmig angenommener Beschluß enthielt die Erklärung: „Der vierte Weltkongreß erinnert das Proletariat aller Länder daran, daß die proletarische Revolution nie vollständig in einem Land triumphieren kann, vielmehr muß sie international als die Weltrevolution triumphieren.“ Degras (Hrsg.), a.a.O., Bd.1, S.444. Diese Frage wird auch in Kap. 5 ausführlicher diskutiert werden.

126. Lenin, Werke, Bd.33, S.416-8.

127. Trotsky, First Five Years, Bd.1, S.v.

128. Lenin, Collected Works, Bd.22, S.286.

 

 

Fußnote

1*. Shop stewards sind Vertreter der Gewerkschaften, die direkt an der Basis in den Betrieben gewählt werden. Die Shop-Stewards-Bewegung spielte während des Ersten Weltkriegs eine Rolle, die der Rolle der Berliner Revolutionären Obleute ähnlich war. (Anm. d. Übersetzers)

 


Zuletzt aktualisiert am 6.2.2002