Paul N. Siegel

 

Die Demütigen und die Militanten

 

Teil I: Die marxistische Kritik an der Religion

 

Kapitel 1
Der Marxismus und die Religion verglichen

 

Die Anklage, der Marxismus sei eine Religion

Eine religiöse Reaktion auf dem Marxismus ist die Behauptung, der Marxismus selbst sei eine Religion. Wenn sie das sagen, versuchen die Religionisten [Gläubigen], den Angriff des Marxismus auf der Religion mit dem Argument abzustumpfen: „Das gilt auch für dich“: Wenn der religiöse Glaube intellektuell verwerflich ist, dann bist du auch ein Sünder! Diese Anklage wird auch von säkularen Liberalen erhoben, die den Marxismus abtun wollen, Weil er für einen gebildeten Menschen ebenso überholt sei wie die Religion.

Diese Beschreibung des Marxismus ist aber weit davon entfernt, ein anspruchsvolles modernes Verständnis zu sein, sondern ist bloß eine Aktualisierung der Bemerkung über den Atheismus, die von den preußischen Intellektuellen der 1840er Jahre gemacht wurden, die laut Engels „sich einen Menschen ohne Religion nur als Unmenschen vorstellen konnten und uns sagten: Donc l’atheisms c’est votre religion! [Naja, der Atheismus ist eure Religion!]“ (On Religion, S.239) Die Behauptung, der Atheismus sei eine Religion, ist bloß ein Wortspiel. Im Sinnes des allgemein akzeptierten Gebrauchs des Worts „Religion“ als Glauben an einem Gott oder Göttern – oder nach der breiteren Definition der Religion vom Anthropologen Tylor, die Religion sei „ein Glauben an Geistern“ – ist der Atheismus selbstverständlich eine Ablehnung der Religion. Man schafft das Paradox, indem man auf eine andere Definition der Religion andeutet, wie „kohärente [schlüssige/zusammenhängende] Weltanschauung“. Aber das zu tun, bedeutet die atheistische Behauptung zu ignorieren, die Religion sei eine Weltanschauung, die Phantasie benutze.

Auf etwas anderes deuten diejenigen an, die sagen, der Marxismus sei tatsächlich eine Religion: der Marxismus sei, wie er über die Religion anklagt, eine Selbsttäuschung und ein Dogma, die man aus Glauben oder von einer Autorität akzeptiere. Obwohl die Akzeptanz der Autorität als Beweis ohne Bestätigung besonders charakteristisch von der Religion ist und am weitesten praktiziert wird, wo die Religion das Denken der Zeit beherrscht, ist sie sicherlich nicht auf der Religion beschränkt. Die klassische Autorität von Galen wurde z.B. von der mittelalterlichen Religion akzeptiert ohne den Versuch, seine Äußerungen durch das Experimentieren zu beweisen oder zu widerlegen. Es ist deshalb ratsam die Anklage, der Marxismus sei eine Religion, näher zu untersuchen, besonders weil sie von der stalinistischen Perversion des Marxismus ausgeschmückt wird. Wir können das günstig machen, indem wir die Bemerkungen Niebuhrs, eines der Hauptvertreter dieser Ansicht über den Marxismus, in seiner Einleitung zum Buch Marx and Engels on Religion untersuchen. [1]

Als Beweis für seine Behauptung, Marx habe sich in seiner Inbrunst und seinem Dogmatismus unbewußt von „einem empirischen Beobachter zu einem religiösen Propheten“ umgewandelt, zitiert Niebuhr aus dem Jugendbuch von Marx, Die Heilige Familie:

Es braucht keinen großen Scharfsinn, um von der Lehre des Materialismus über die ursprüngliche Güte und die gleiche intellektuelle Begabung, über die Allmacht der Gewohnheit und der Bildung, über den Einfluß der Umwelt auf den Menschen, über die große Bedeutung der Industrie, über die Rechtfertigung des Vergnügens usw. zu sehen, wie notwendigerweise der Materialismus mit dem Kommunismus und dem Sozialismus verbunden ist.

„Marx ... tut so, als ob er selbstverständliche Schlußfolgerungen zieht“, bemerkt Niebuhr:

aus der bloßen Voraussetzung des metaphysischen Materialismus ... Man kann nur diese Passage und ähnliche Passagen als die Leiter betrachten, auf denen der empirische Kritiker des Status quo in den Himmel und den Zufluchtsort einer neuen Weltreligion hinaufstieg ... Marx als Empiriker wäre bloß ein anderer Gelehrter. Als apokalyptischer Dogmatiker wurde er zum Gründer einer neuen Religion, dessen Schriften man als Teile eines neuen heiligen Kanons zitieren würde.

Die Niebuhrsche Bemerkung beruht sich auf einem ausgemachten falschen Verständnis des Texts. Dem Marx geht es nicht darum, „all die Sätze“ darzulegen, „die einem revolutionären und apokalyptischen Idealisten teuer sind“ (S.xi), als ob sie „selbstverständliche Schlußfolgerungen aus seiner materialistischen Philosophie“ seien „und deshalb keinen Beweis brauchten“. Er legt die von den französischen materialistischen Gesellschaftsphilosophen wie Condillac und Helvetius gehaltenen Sätze dar und behauptet, sie führten historisch zum utopischen Sozialismus von Robert Owen u.a. Er führt die von Niebuhr zitierte Passage mit der Erklärung ein, „die andere Branche des französischen Materialismus [die Branche von Condillac und Helvetius, die ihren Ursprung in Locke hatte, im Gegensatz zur Branche, die ihren Ursprung in Descartes hatte und zur Naturwissenschaft führte] führt direkt zum Sozialismus und zum Kommunismus“, [2] und erklärt gerade nach der in Frage stehenden Passage: „Diese und ähnliche Sätze findet man fast wörtlich sogar in den ältesten französischen Materialisten. Dieser ist nicht der Ort, sie zu beurteilen.“ (On Religion, S.x-xi)

Es ist offensichtlich aus der Erklärung: „Dieser ist nicht der Ort, sie zu beurteilen“, daß Marx nicht diese Sätze als die eigenen vorstellt und nicht notwendigerweise mit ihnen einverstanden ist. Eigentlich mach Marx in seinen Thesen über Feuerbach, die im von Niebuhr eingeführten Buch enthalten sind, seine Differenzen mit ihnen deutlich:

Die materialistische Lehre, daß Menschen die Produkte der Umstände und der Erziehung sind und deshalb veränderte Menschen die Produkte anderer Umstände und veränderter Erziehung sind, vergißt, daß die Menschen die Umstände ändern und der Erzieher erzogen werden muß. Also kommt diese Lehre notwendigerweise zur Teilung der Gesellschaft in zwei Teile, von denen einer der Gesellschaft überlegen ist (z.B. in Robert Owen). Das Zusammentreffen der Änderung der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann man sich nur vorstellen und rational verstehen als die revolutionierende Praxis. (S.70)

Kurz gesagt, betrachtete der ältere nichtdialektische Materialismus nicht den historischen Prozeß, worin die Menschen versuchen, soziale Fragen kollektiv zu beantworten, nur wenn sie aufgedrängt worden sind. In diesem historischen Prozeß ist die menschliche Tätigkeit das Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung sowie eine Ursache gesellschaftlicher Entwicklung. Indem sie ihre soziale Umwelt umwandelt, wandelt die Menschheit sich um, aber die Umwandlung der Gesellschaft ist durch historische Umstände begrenzt, an erster Stelle das Niveau und die Kraft der Produktivkräfte. Überlegene Individuen können sich nicht so hoch über ihre Gesellschaft heben, daß sie sie dazu zwingen können, einen von ihnen ausgedachten Plan zu verwirklichen.

Genau wie Niebuhr falsch läuft, wenn er die Glauben der französischen Materialisten Marx zuschreibt, läuft er auch falsch, wenn er ihn als Empiriker beschreibt, der seinen Empirizismus aufgab, um ein religiöses Dogma aufzubauen. Der Empirizismus als philosophische Auffassung setzt sich dem Rationalismus entgegen, indem er die Erfahrung gegen die Vernunft als Quelle des Wissens aufstellt. Die Erfahrung, dachten Marx und Engels, ist die Probe des Wissens, aber sie ist nicht die einzige Quelle des Wissens. Die „empirische, induktive Methode, die die bloße Erfahrung preist“, sagt Engels, noch einmal in einer ausgewählten Schrift im von Niebuhr eingeführten Buch, „behandelt das Denken mit tiefster Verachtung und ist wirklich zum weitesten Extrem der Leere des Denkens gegangen.“ „Es ist nicht das ausgefallene Theoretisieren der Naturphilosophie“, das „der sicherste Weg von der Naturwissenschaft zum Mystizismus“ sei, sondern „der oberflächlichste Empirizismus, der alle Theorie verschmäht und alles Denken mißtraut“. (S.186)

Wie George Novack es formuliert:

Die marxistische Erkenntnistheorie akzeptierte ... die empirische Behauptung, daß alle Inhalte des Wissens aus der Erfahrung der Sinne stammt, und die rationalistische Gegenbehauptung, daß seine Formen vom verstand geliefert werden ... Die zwei Faktoren, von denen je die Grundlage einer unabhängigen und feindseligen Philosophie gewesen war, wurden in zusammenhängende Aspekte eines einzigen Prozesses verwandelt ... Die Erfahrung ließ die Betrachtung [Überlegung] aufkommen, deren Ergebnisse weitere Erfahrung befruchteten und richteten. Diese begrifflich bereicherte Erfahrung korrigierte, prüfte und verstärkte der Reihe nach die Ergebnisse des logischen Denkens – und so weiter, in einer unendlichen Spirale. [3]

Die Erfahrung und die Vernunft, die Induktion und die Deduktion beteiligen sich an einer ständigen Wechselwirkung, die die Dialektik des menschlichen Denkens erzeugt, die die Dialektik der Natur und der Gesellschaft widerspiegelt.

Niebuhr betrachtet Marx nicht nur als Empiriker, der unbewußt vom Empirizismus abgegangen sei; er betrachtet ihn auch als Anti-Hegelianer, der unbewußt in der Hegelschen dialektischen Denkweise eingefesselt sei: „der anti-hegelsche Materialist spricht mit den Worten der Hegelschen Dialektik, um eine materialistische Version einer noch traditionelleren religiösen Apokalypse zu vermitteln.“ (S.xiii) Aber Marx war darüber bewußt, wieviel er Hegel zu verdanken hatte, und „bekannte sich offen“ als „Schüler des mächtigen Denkers“. Gleichzeitig unterschied er seine Dialektik von der Hegelschen:

Meine dialektische Methode ist nicht nur von der Hegelschen unterschiedlich, sondern ist ihr direkter Gegensatz. Für Hegel ... ist die wirkliche Welt nur die äußere Erscheinungsform „der Idee“. Für mich, im Gegenteil, ist das Ideell nichts anders als die materielle Welt, vom Menschlichen Geist widerspiegelt und in Gedankenformen übersetzt ... Die Mystifizierung, die die Dialektik unter den Händen Hegels leidet, verhindert ihn überhaupt nicht daran, den ersten zu sein, der ihre allgemeine Funktionierensform in einer ausführlichen und bewußten Weise vorstellt. Mit ihm steht sie auf dem Kopf. Man muß sie wieder auf die Füße stellen, wen man den rationalen Kern in der mystischen Hülle entdecken will. (Reader, S.98-9)

Trotz Marx’ Behauptung, daß er den rationalen Kern in der Hülle des Hegelschen Mystizismus gefunden und gerettet habe, ist seine Dialektik oft als reines Hegelsches Kauderwelsch aufgegriffen worden. Dühring, der Zeitgenosse von Marx und Engels, dessen Name nur weiter lebt, weil Engels ein Buch der Antwort auf ihn widmete, sagte über Marx’ Diskussion der Faktoren, die zur Zerstörung des Kapitalismus führen: „Hegels erste Negation ist die Vorstellung des Sündenfalls, die aus dem Katechismus genommen wird, und seine zweite ist die Vorstellung der höheren Einheit, die zur Erlösung führt. Die Logik der Tatsachen kann sich kaum auf diese aus dem religiösen Bereich geborgten unsinnigen Analogie beruhen.“

Darauf antwortete Engels: „Es ist eine reine Verdrehung der Tatsachen seitens des Herrn Dühring, wenn er erklärt, man wolle, daß jemand es erlaube, sich von der Notwendigkeit des gemeinsamen Eigentums des Landes und des Kapitals zu überzeugen ... auf der Basis der Negation der Negation.“ [4] Die Passage, deren Hegelsche Terminologie Dühring gekränkt hatte, war bloß die Zusammenfassung der vorherigen genauen Marxschen Analyse des Ursprungs und der Entwicklung des Kapitalismus und der innewohnenden Kräfte, die ihn zerstören werden, wie der Kapitalismus die feudalistische Produktionsweise zerstört hatte. Es liegt jemandem ob, der nicht mit Marx einverstanden ist, diese Analyse zu widerlegen und nicht ihre Zusammenfassung abzutun mit der Erklärung, sie „beruht“ auf eine „aus dem religiösen Bereich geborgten Analogie“, eine Analogie, die der Kritiker selbst hervorgezaubert hat.

Die Dialektik ist kein magischer Zauberspruch, der man bloß äußern muß, um eine unbestreitbare Wahrheit zu erzeugen. Wenn man etliche von Marx verächtlich benannten „hölzerne Trichotomien“ [5] benutzt, kann man „alles“ – d.h. nichts – beweisen und bei jeder beliebigen Synthese ankommen, indem man die richtige „These“ und „Antithese“ wählt. Aber das gleiche gilt für den Syllogismus. Zum Beispiel, im Syllogismus: „Alle Geistlichen sind Personen des höchsten Intellekts; der Pfarrer Blödmann ist Geistlicher; deshalb ist der Pfarrer Blödmann eine Person des höchsten Intellekts“, folgt die Schlußfolgerung aus den Prämissen, aber das macht sie nicht richtig. Die Gesetze der Logik, der aristotelischen sowie der dialektischen, nützen wenig, wenn man die konkrete Realität ignoriert. Trotzdem, obwohl keine Systeme der Logik narrensicher sind, ist eine Ausbildung in der dialektischen Logik, wie eine Ausbildung in der aristotelischen Logik, worüber erstere ein großer Fortschritt ist, etwas wert. Die aristotelische Logik denkt in festen Kategorien: Wenn alle A B sind und alle B C sind, sind alle A C. Aber die Dialektik beobachtet A, B und C im Prozeß der Änderung, so daß es aufhören könnte, wahr zu sein, daß alle A B sind oder alle B C.

Aus diesem Grund braucht das dialektische Denken ein hohes Maß an Konkretheit und kommt näher daran, die Wirklichkeit anzugehen, die in einem ständigen Zustand des Flusses ist. Obwohl das bewußte Studium wert ist, kann das dialektische Denken, wie auch vom aristotelischen Denken wahr ist, von denen verwendet werden, die es nicht studiert haben: jeder Koch weiß, der Zusatz von Salz über einen gewissen Punkt hinaus macht einen deutlichen qualitativen Unterschied. Wie Engels es vorstellte: „Menschen dachten dialektisch, lange bevor sie wußten, was die Dialektik sei, genau wie sie Prosa sprachen, lange bevor der Begriff Prosa existierte.“ (Reader, S.137)

Weit davon entfernt, bloß Kauderwelsch zu sein, hat der dialektische Materialismus, sagt der Wissenschaftshistoriker Loren R. Graham, unter den Naturwissenschaftlern in der Sowjetunion eine Wissenschaftsphilosophie [Philosophie der Wissenschaft] produziert, die „eine beeindruckende Errungenschaft“ ist und „keine Konkurrenten unter der modernen Systemen des Denkens [Gedankensystemen]“ hat. Sie haben diese Errungenschaft produzieren können, sagt er, weil „im scharfen Gegensatz zu anderen sowjetischen intellektuellen Anstrengungen“ das repressive Regime aus eigenen Gründen seine Kontrollen über die Naturwissenschaft nach der Einmischung unter Stalin lockern mußte, was dazu führte, daß die besten Geister in die naturwissenschaftlichen Bereiche eingingen, und weil der esoterische Charakter ihrer Diskussion, als sie versuchten, mit den Implikationen der neuen naturwissenschaftlichen Theorien wie der Quantentheorie oder der Relativitätstheorie herumzuschlagen, weiter als Schutz vor der Zensur diente. Obwohl der dialektische Materialismus „nie das Ergebnis eines Experiments Vorhersagen würde“, ist Graham davon überzeugt, daß „in bestimmten Fällen“ der dialektische Materialismus den Wissenschaftlern half, „auf Ansichten zu kommen, die ihnen unter den ausländischen Kollegen internationale Anerkennung gewannen“. [6] Er half ihnen dabei, auf diese Ansichten zu kommen, durch die Orientierung, die er ihnen gab.

Die Theorien, zu denen diese Naturwissenschaftler gekommen sind, kann man nicht dadurch widerlegen, daß man diese Naturwissenschaftler als Dogmatiker in der Weise beschreibt, wie Niebuhr Marx beschreibt. Man kann sie nur widerlegen, wenn man ihre naturwissenschaftliche Argumentation untersucht und beobachtet, wie gut sie die Probe der Erfahrung überstehen. So auch mit Marx’ Theorie der proletarischen Revolution. Kritiker wie Niebuhr haben abschätzig davon als apokalyptisches Dogma gesprochen. aber ist das 20. Jahrhundert nicht tatsächlich die Epoche der Kriege und Revolutionen, wie Lenin es beschrieb? Am Anfang des Jahrhunderts waren bürgerliche Intellektuelle mit der Vorstellung des ununterbrochenen Fortschritts innerhalb des bestehenden gesellschaftlichen Systems durchdrungen. Revolutionäre Marxisten warnten vor bevorstehenden Katastrophen. Wer hatte recht? Könnte jemand umwälzendere [verheerendere] Vorfälle vorstellen als das enorme Blutvergießen von zwei Weltkriegen, die Zerstörung der Großen Depression [Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, das Ausrottungsprogramm des Faschismus, die Bedrohung der atomaren Auslöschung?

Aber, sagen die Niebuhrs, Marx sprach von der Unvermeidlichkeit des Sozialismus. Der Sozialismus hat nicht in den fortgeschrittenen Ländern gesiegt, wie er vorhersagte. Sind die Marxisten nicht wie die Christen, die seit zwei Jahrtausenden auf der Wiederkunft des Herrn warten? Wenn die Christen auf Godot warten, warten nicht die Marxisten auf Lefty? [1*]

Als Antwort kann man sagen, „Lefty“ (die soziale Revolution) kam, in Rußland, China, Kuba, Jugoslawien und anderen Ländern. [2*] Die Tatsache, daß die Revolution in den fortgeschrittenen Ländern verschoben wurde und zuerst zu rückständigen Ländern kam, schuf unvorhergesehene Probleme. Aber der Marxismus, weit davon entfernt, ein „unveränderliches Dogma“ zu sein, wie Niebuhr behauptet (S.viii), begreift mehr als jede andere Doktrin [Lehre] daß die Theorie ständig korrigiert werden muß, um eine sich verändernde Realität in Betracht zu ziehen. „Wir betrachten keineswegs“, sagte Lenin, „die marx’sche Theorie als etwas endgültiges und unantastbares, wir sind im Gegenteil davon überzeugt, sie hat nur die Ecksteine der Wissenschaft gelegt, die Sozialisten weiter in alle Richtungen treiben müssen, wenn sie nicht wollen, vom Leben liegengelassen zu werden.“ [7]

So auch schrieb Trotzki zum 90. Jahrestag des Kommunistischen Manifestes, daß, obwohl kein anderes Buch „sogar weitläufig mit dem Kommunistischen Manifest zu vergleichen ist“, das

deutet nicht an, daß nach neunzig Jahren der beispiellosen Entwicklung der Produktivkräfte und der gewaltigen gesellschaftlichen Kämpfe das Manifest weder Berichtigung noch Zusätze braucht ... Das revolutionäre Denken hat nichts mit der Verehrung von Idolen gemein. Programme und Prognosen werden im Lichte der Erfahrung geprüft und korrigiert, die das höchste Kriterium der Vernunft ist, Aber wie durch die historische Erfahrung selbst bewiesen wird, können diese Berichtigungen und Zusätze nur erfolgreich gemacht werden, wenn man in Übereinstimmung mit der Methode vorgeht, die die Grundlage des Manifestes selbst bildet. [8]

„Das revolutionäre Denken hat nichts mit der Verehrung von Idolen gemein.“ Der Marxismus hat keine heiligen Schriften, die man nachliest, wie man Nostradamus oder die Bibel für Vorhersagen über die Zukunft nachliest.

Die Prognose skizziert nur die bestimmten und feststellbaren Tendenzen der Entwicklung. aber neben diesen Tendenzen funktioniert eine andere Ordnung [Art] von Kräften und Tendenzen, die zu einer bestimmten Zeit anfangen, überwiegend zu werden. All diejenigen, die genaue Vorhersagen konkreter Ereignisse suchen, sollen Astrologen befragen. Die marxistische Prognose hilft nur bei der Orientierung. [9]

Indem sie beobachtet haben, wann eine dialektische Wandlung, „eine andere Ordnung [Art] von Kräften und Tendenzen“, sich Manifestiert, haben die großen marxistischen Theoretiker die marxistische Methode verwendet, um die marxistische Lehre [Doktrin] zu entwickeln: so Lenins Theorie des Imperialismus und Trotzkis Theorie der permanenten Revolution. Das Ergebnis ist, daß, obwohl Marxisten viele Fehler gemacht haben, die besten von ihnen viel besser als bürgerliche Beobachter orientiert gewesen sind, die in „guten Zeiten“, den Marxismus verächtlich abgetan haben, als sie erklärt haben, der Kapitalismus hätte seine Probleme gelöst, und in „schlechten Zeiten“ vor den Gefahren des Marxismus gewarnt haben.

Man kann auch sagen, revolutionäre Marxisten warten nicht auf „Lefty“. Sie glauben, wie Marx sagte, die Befreiung des Proletariats sei die Aufgabe des Proletariats selbst, und nicht die eines Messias, der zu irgendwelchem Datum in der Zukunft erscheinen werde. Sie versuchen, der Arbeiterklasse im Laufe ihres Kampfes über die Notwendigkeit einer neuen gesellschaftlichen Ordnung zu lehren, die von ihr aufgrund ihrer Position im Kapitalismus aufgebaut wird. Als Marx von der Unvermeidlichkeit des Sozialismus sprach, meinte er nicht, er werde als Geschenk von oben kommen, sondern weil die Anschauung auf das leben von den materiellen Bedingungen gestaltet werde, daß die Arbeiterklasse schließlich durch die Bedingungen des niedergehenden Kapitalismus dazu gezwungen werde, den Weise zu suchen und zu finden, eine neue Gesellschaft durch seine Abschaffung aufzubauen. Auch wenn man keine genauen Vorhersagen konkreter Ereignisse machen kann, gibt es jeden Grund, an diese langfristige Perspektive zu halten, die die Richtlinien für eine strategische Orientierung liefert. Dennoch muß man hinzufügen, Engels sprach davon, daß die Wahl vor der Menschheit „Sozialismus oder Barbarei“ sei. Man muß zugeben, daß die immense Zerstörung, die bestehende Kernwaffen herbeiführen können, die Möglichkeit der Barbarei weit wirklicher macht als zur Zeit von Engels, wenn die dringenden Probleme der menschlichen Gesellschaft nicht bald gelöst werden. Diejenigen, die die Worte von Engels als ein „apokalyptisches Dogma“ ablehnen, machen sich für die Realität blind.

 

 

Der Marxismus kontra die stalinistische Scholastik

Niebuhr ist vollkommen falsch, wenn er behauptet, die „dogmatische Atrophie“ des Marxismus sei „nicht eine Korrumpierung“ davon. Er hat aber recht, wenn er davon spricht, wie die Schriften von Marx, Engels und Lenin in einen „heiligen Kanon“ durch die „Priesterkönige“ der Sowjetunion und der Volksrepublik China gemacht worden sind. Aber das ist eine Perversion des Marxismus und nicht seine Fortführung. Genau wie es dem Geist des Marxismus, der das ganze Universum in einem Prozeß der Umwandlung betrachtet, fremd ist, sich als „unveränderliches Dogma“ zu betrachten, so ist es auch ihm fremd, sich am scholastischen Zitieren der Autoritäten zu beteiligen.

Lenin beschrieb, wie Marx von den Sozialdemokraten heiliggesprochen worden war, die dadurch ihm seines revolutionären Wesens beraubten. Nach dem Tode großer Revolutionäre, schrieb er,

werden Versuche gemacht, sie in harmlose Ikone umzuwandeln, sie heiligzusprechen, sozusagen, und ihre Namen mit einem bestimmten Heiligenschein umzuzingeln „zum Trost“ der unterdrückten Klassen, und um letztere zu betrügen, während gleichzeitig das Wesen der revolutionären Lehre entkräftet wird, indem man sie der revolutionären Wirkung beraubt und sie vulgarisiert. [10]

Ironischerweise ist das Lenin selbst von seiten der konservativen stalinistischen Bürokratie geschehen. Lenin, schrieb Trotzki, „war ‚bloß‘ ein genialer Mensch und nichts menschliches war ihm fremd, darin eingeschlossen die Fähigkeit, Fehler zu machen“. [11] Stalin stellte ihn aber als Gott hin, so daß er selbst zum Sohn Gottes erklärt werden konnte.

Diese Perversion des Marxismus läßt sich durch die Anwendung der marxistischen Methode selbst erklären. „Genau wie das Urchristentum, als es sich in die heidnischen Länder ausdehnte“, sagt Isaac Deutscher, Stalins marxistischer Biograph,

Elemente der heidnischen Glauben und Riten in sich aufnahm und sie mit den eigenen Vorstellungen vermischte, so jetzt nahm der Marxismus, das Produkt des westeuropäischen Denkens, Elemente der byzantinischen Tradition, die so tief in Rußland eingefleischt war, und des griechisch-orthodoxen Stils auf ... Die abstrakten Lehrsätze des Marxismus könnten in ihrer Reinheit in den Köpfen der intellektuellen Revolutionäre existieren, besonders derjenigen, die als Exilen in Westeuropa gewohnt hatten. Jetzt, nachdem die Doktrin wirklich nach Rußland verpflanzt worden war und mittlerweile die Anschauung einer großen Nation beherrschte, konnte sie nichts anders machen als seiner Reihe nach sich zum geistigen Klima dieser Nation, zu seinen Traditionen, Sitten und Gewohnheiten anzupassen. [12]

Die Reaktion auf der Revolution, die durch das Scheitern der anderen Revolutionen in Europa und den Druck des Weltimperialismus auf ein rückständiges Land entstand, erzeugte ein besonders privilegierte Bürokratie, die die von der Revolution unterdrückten „Traditionen, Sitten und Gewohnheiten“ wiederaufleben ließ. die „Vergötterung Stalins“, wie Trotzki sagte, drückte das Bedürfnis dieser Bürokratie für „einen unantastbaren Schiedsrichter, einen ersten Konsul, wenn nicht einen Kaiser“ aus. [13] Dieser Reaktion half die physische Vernichtung während der 1930er Jahre von großen Zahlen Revolutionären, in deren Köpfen die Lehrsätze des Marxismus existiert hatten.

Der Leninismus wurde so durch den Stalinismus ersetzt.

Es war vielleicht natürlich, daß der Triumvir [Stalin], der seine entscheidende Jahre in einem griechisch-orthodoxen Priesterseminar verbracht hatte, der führende Agent dieser Wandlung wurde ... Er stellt Lenins Lehre, die wesentlich soziologisch und experimentell war, als Reihe von sturen Kanonen und eintönigen strategischen und taktischen Rezepten für die Rettung der Menschheit dar ... Er unterstützte jede seiner Behauptungen mit einem Zitat von Lenin, manchmal nebensächlich und manchmal aus dem Zusammenhang ausgerissen, genau wie der mittelalterliche Scholastiker Zustimmung für seine Spekulationen in der Heiligen Schrift suchte. [14]

In China, wo die Kommunistische Partei im Stalinismus geschult wurde, fand eine ähnliche Vergötterung von Mao statt. Die Massen von China wurden von Lin Biao, Maos designiertem Nachfolger, in seiner Einführung zum Buch Zitate des Vorsitzenden Mao Tse-tung, dem berühmten „roten Büchlein“, darauf gedrängt, „die Schritten des Vorsitzenden Maos zu studieren, seinen Lehren zu folgen, nach seinen Anweisungen zu handeln und seine guten Kämpfer zu sein“ [15], wie die Massen von Paulus gedrängt worden waren, den lehren Christi zu folgen und seine Soldaten im guten Kampf zu sein. „Um das Denken des Mao Tse-tung zu meistern“, fügte Lin hinzu, „ist es notwendig, viele von den Grundbegriffen des Vorsitzenden Mao immer und immer wieder zu studieren und es ist am besten, sich wichtige Äußerungen einzuprägen und sie wiederholt zu studieren und anzuwenden. Die Zeitungen sollen regelmäßig Zitate vom Vorsitzenden Mao bringen, die den aktuellen Fragen entsprechen, so daß die Leser sie studieren und anwenden können.“ Lin selbst prägte aber offenbar nicht Maos Denken genügend und gewissenhaft ein – oder vielleicht meisterte er Maos Denken allzu gut –, weil das Regime behauptet, er sei in einem Flugzeugunfall während eines Fluchtversuchs aus China getötet worden, nachdem er einen erfolglosen Kampf gegen den Vorsitzenden geführt habe.

Es lohnt sich, die Anordnung von Lin über die aufwendige Einprägung von Mao mit denen von Lenin über das Lernen über den Kommunismus. Wenn das Studium des Kommunismus, sagte Lenin in einer Rede zu einem Kongreß des Russischen Verbandes der Jungkommunisten in 1920,

darin bestünde, das in sich aufzunehmen, was in kommunistischen Büchern und Broschüren steht, könnten wir allzu leicht Textenjongleure oder Prahler erhalten, und das würde uns sehr oft verletzen und schaden, weil solche Leute, nachdem sie die Inhalte von kommunistischen Büchern und Broschüren auswendig gelernt hätten, nicht fähig wären, solches Wissen zusammenzufassen, und nicht so handeln könnten, wie der Kommunismus wirklich verlangt ... Es wäre ein Fehler zu denken, es genüge, kommunistische Parolen, die Schlußfolgerungen der kommunistischen Wissenschaft in sich aufzunehmen, ohne daß man die Gesamtsumme des Wissens erhielte, wovon der Kommunismus selbst ein Ergebnis ist. Man kann nur zum Kommunisten werden, wenn man den Geist mit dem wissen über all die von der Menschheit geschaffenen Schätze bereichert ... Man muß dieses Wissen nicht nur aufnehmen, sondern kritisch aufnehmen. (Reader, S.42-4)

Paulus drängte auf das Studium der Sprüche und der Parabeln Christi und lehnte das Studium der heidnischen Philosophen einschließlich der Platoniker und der Stoiker, den das Frühchristentum zu verdanken hatten; die Maoisten drängten auf das Studium des „roten Büchleins“, während sie das Studium von Shakespeare, den Marx jedes Jahr las, und von Puschkin, der Lenins Lieblingsautor war, verboten. Nicht so Lenin.

Die Nachfolger von Stalin und Mao, die fest entschlossen waren, ihre Länder weiter zu modernisieren, fanden heraus, daß die primitive Verehrung von Stalin und Mao nicht ihren Zwecken paßte. Die sturen Dogmen waren eine zu schwere Bürde in der Kampagne dafür, die neuen Bedürfnisse ihrer Gesellschaften zu erfüllen. Wie Deutscher vom widersprüchlichen Prozeß sagte, der in der Sowjetunion nach dem Tode Stalins stattfand: „Durch die Zwangsmodernisierung der Struktur der Gesellschaft hatte der Stalinismus auf das eigene Verderben hin gearbeitet und hatte den Boden für die Wiederkehr des klassischen Marxismus vorbereitet.“ [16] eine stockende und zögernde Reformation ist stattgefunden. Wenn aber der „Personenkult“ verurteilt worden ist und die Ära der unfehlbaren Päpste vorbei ist, bleibt ein Bistum an der Macht mit der eigenen Art des modifizierten Autoritarismus und des Dogmatismus, die zu stürzen ist.

 

 

Der Geist des Marxismus und der des Urchristentums

Obwohl der Dogmatismus der Religion und ihre Ehrfurcht für die Autorität dem Marxismus fremd ist, gibt es, wie Engels bemerkte, eine bedeutende Ähnlichkeit zwischen dem Geist, der revolutionäre Marxisten anregt, und dem, der die Urchristen anregte.

Die Geschichte des Urchristentums hat bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit der modernen Arbeiterbewegung ... Die beiden werden verfolgt und gequält, ihre Anhänger werden verachtet und zum Ziel von ausschließenden Gesetzen gemacht, erstere als Menschenfeinde, letztere als Staatsfeinde, Religionsfeinde, Feinde der Familie und der gesellschaftlichen Ordnung. Und trotz aller Verfolgung, nein, sogar von ihr angespornt, machen sie erfolgreich und unwiderstehlich Fortschritte. (On Religion, S.316)

Dieser Geist ist weit vom vorherrschenden Geist des modernen Christentums entfernt. Vor mehr als 125 Jahren beklagte Thomas Carlyle über die Gefühlsleere seines Alters. Aber, bemerkte Engels, „diese Leere und Oberflächlichkeit, diese ‚Mangel an Seele‘, diese Irreligion und dieser ‚Atheismus‘ haben ihre Basis in der Religion selbst.“ „Solange ... der Glaube an diesem entfernten Phantom [Gott] stark und lebend ist, solange kommt der Mensch auf seinen Umwegen bei einer Art Zufriedenheit an.“ Aber nachdem der religiöse Glaube verschwunden hat, sind „die Hohlheit und Mangel an Inhalt“ weit verbreitet geworden und es „wird so weitergehen, solange die Menschheit nicht versteht, daß das Wesen, das sie als Gott geehrt hat, das eigene noch nicht verstandene Wesen war“. (Reader, S.234-5) Das hat sich als völlig wahr bewiesen.

Im Dienst der Menschheit zeigen Marxisten die gleiche Inbrunst und Selbstaufopferung, die die Urchristen im Dienst Gottes zeigten. Obwohl die Menschheit ein Produkt der Natur ist, ist die Menschheit für sich der höchste Wert. Wie Marx sagte: „Die Kritik der Religion endet bei der Lehre, der Mensch ist das höchste Wesen für den Menschen, d.h. sie endet mit dem kategorischen Imperativ, die Umstände zu stürzen, worin der Mensch ein erniedrigtes, verlassenes, verächtliches Wesen ist, das in die Knechtschaft gezwungen wird.“ [17]

So auch schrieb der 21jährige Trotzki am Anfang des 20. Jahrhunderts: „Wenn ich einer der himmlischen Körper wäre, würde ich mit absolutem Abstand auf diese elende Staub- und Schmutzkugel schauen ... Aber ich bin ein Mensch. Die Weltgeschichte, die Ihnen, dem objektiven Wissenschaftsfresser, Ihnen, dem Buchhalter der Ewigkeit, bloß ein unwesentliches Moment in der Waagschale der Zeit ist, ist mir alles! Solange ich noch atme, werde ich für die Zukunft kämpfen.“ Der Kämpfer für die Zukunft, führte er weiter, findet oft, er wird einem „kollektiven Torquemada“, einer Heiligen Inquisition unterzogen, die fest entschlossen ist, den heiligen Status quo zu verteidigen. Aber obwohl er für einen Augenblick niedergeschlagen werden kann, steht er wieder auf und „ebenso leidenschaftlich, ebenso voll Glauben und ebenso militant wie immer klopft er selbstsicher auf dem Tor der Geschichte“. [18]

Das Wort „Glaube“ hier soll uns nicht irreführen; er ist nicht dem religiösen glauben gleich. Der religiöse Glaube hat den Sinn von einer der Definitionen des Worts „Glaube“ im Webster’s Third New International Dictionary: „feste oder bedingungslose Überzeugung von etwas, wo es keinen Beweis gibt“. Der Glaube, wovon Trotzki spricht, hat den Sinn einer anderen Definition des Wortes im Webster: „etwas, auf dem man steht oder an dem man festhält, besonders mit fester Gesinnung“. Der Religionist sagt: „Ich glaube, weil ich die Heiligkeit eines Buches oder die Maßgeblichkeit [Autorität/Zuverlässigkeit] einer Kirche akzeptiere“; der Marxist sagt: „Ich glaube an dieser Lebensanschauung und akzeptiere sie, weil ich rationell von ihr überzeugt bin.“ Der revolutionäre Marxist glaubt aber zwar mit der gleichen Stärke der Gefühle und Bereitschaft zur Selbstaufopferung wie die Urchristen.

Fast vierzig Jahre nachdem der jugendliche Trotzki seine Begrüßung des 20. Jahrhunderts schrieb, schrieb der Trotzki, der gigantische Ereignisse erfahren hatte, der zu einem von den meisten Ländern der Welt abgelehnten Ausgestoßenen mit wenigen Anhängern geworden war, nachdem er der Führer einer großen Nation gewesen war, und der erlebt hatte, wie seine Kinder vor ihm gestorben waren, die Opfer direkt oder indirekt der gegen ihn gerichteten Schläge, während er einer Kampagne der in ihrem Maße beispiellosen Verunglimpfung ausgesetzt worden war, sein Testament im Glauben, daß er bald sterben könnte. Darin spricht er von seinem „Glück“ darüber, daß er „ein Kämpfer für die Sache des Sozialismus“ gewesen war, von dem er zwei Jahre früher gesagt hatte: „Sich in dieser Bewegung mit offenen Augen und intensivem Willen zu beteiligen – nur das kann einem denkenden Menschen die größte moralische Zufriedenheit geben.“ [19]

Wenn ich noch einmal von Anfang an beginnen würde, würde ich ... versuchen, diesen oder jenen Fehler zu vermeiden, aber der Hauptkurs meines Lebens würde unverändert bleiben. Ich werde als proletarischer Revolutionär, Marxist, dialektischer Materialist und folglich als unvereinbarer Atheist sterben. Mein Glaube an der kommunistischen Zukunft der Menschheit ist nicht weniger leidenschaftlich, er ist in der Tat fester heute, als er in den Tagen meiner Jugend war. Dieser Glaube am Menschen und seiner Zukunft gibt mir auch jetzt so eine Widerstandskraft, wie sie von jeder Religion gegeben werden kann. [20]

Trotzki war sicherlich eine Person der außerordentlichen Charakterstärke. Aber es bleibt wahr, daß die erklärtesten Christen heute nicht die innere Stärke haben, die den revolutionären Marxisten kennzeichnet. Wie Trotzki selbst über die Bolschewiki vor dem Krieg schrieb und sie dabei unausgesprochen mit den Urchristen verglich, die den Märtyrertod erlitten, wie ihr Meister ihn bei Golgatha erlitten hatte:

Wer einer Organisation beitrat, wußte, daß das Gefängnis gefolgt vom Exil ihn innerhalb der nächsten wenigen Monaten erwartete ... Die Berufsrevolutionäre glaubten das, was sie lehrten. Sie hätten keinen anderen Anreiz dafür haben können, den Weg nach Golgatha zu nehmen. Die Solidarität unter der Verfolgung war kein hohles Wort und sie wurde von der Verachtung der Feigheit und der Fahnenflucht vergrößert ... Die jungen Männer und jungen Frauen, die sich völlig der revolutionären Bewegung widmeten, ohne daß sie irgend etwas als Gegenleistung verlangten, waren nicht die schlechtesten Vertreter ihrer Generation. Der Orden der „Berufsrevolutionäre“ könnte nicht unter dem Vergleich mit jeder anderen gesellschaftlichen Gruppe leiden. [21]

Zu glauben, was man lehrt, und folglich trotz persönlichen Entbehrungen zu handeln – das ist eine Quelle der großen Stärke. Es ist eine Eigenschaft, die vielen heute so seltsam scheint, daß sie ihre Besitzer als religiöse Fanatiker betrachten. aber es macht nicht aus dem Marxismus eine Religion.

 

 

Anmerkungen

1. Für eine verheerende Kritik eines vor kurzem erschienenen Buchs, Fire in the Minds of Men: Origins of Revolutionary Faith von James H. Billington, das behauptet zu beweisen, daß der Marxismus eine Religion sei, s. Peter Singer, Revolution and Religion, New York Review of Books, 6. November 1981, S.51-4.

2. Als er es 1844 schreibt, spricht Marx von einem Kommunismus, der dem wissenschaftlichen Sozialismus vorgeht, den er kurz danach im Kommunistischen Manifest artikulieren wird. So schreibt Engels: „Für unsere drei Sozialreformer [‚die drei großen Utopisten‘: St. Simon, Fourier und Owen, ‚der seine Vorschläge ausarbeitete ... im Verhältnis zum französischen Materialismus‘] ist die bürgerliche Welt, die sich auf die Prinzipien dieser [französischen materialistischen] Philosophie beruht, ebenso irrational und ungerecht und deshalb findet ihren Weg zum Staubloch ebenso leicht wie der Feudalismus und alle früheren Phasen der Gesellschaft.“ (Basic Writings on Politics and Philosophy, S.70-1)

3. George Novack, Empiricism and Its Evolution: A Marxist View, Pathfinder Press, New York 1973, S.83-4.

4. zit. von Engels im Buch Herr Eugen Dühring’s Revolution in Science, International Publishers, New York 1939, S.142.

5. Karl Marx, Selected Works, International Publishers, New York ohne Datum, Bd.I, S.28

6. Loren R. Graham, Science and Philosophy in the Soviet Union, Knopf, New York 1972, S.430, 6.

7. zit. im Vorwort zu Marx, Selected Works, Bd.I, S.xviii.

8. Isaac Deutscher (Hrsg.), The Age of Permanent Revolution: A Trotsky Anthology, Dell, New York 1964, S.290.

9. Leon Trotsky, In Defense of Marxism, Pioneer Publishers, New York 1942, S.175.

10. V.I. Lenin, The State and Revolution, Foreign Languages Publishing House, Moskau ohne Datum, S.9-10.

11. Leon Trotsky, The History of the Russian Revolution, Simon and Schuster, New York 1937, Bd.III, S.355.

12. Isaac Deutscher, Stalin: A Political Biography, Oxford University Press, New York 1949, S.269.

13. Leon Trotsky, The Revolution Betrayed, Doubleday, Garden City (NY) 1937, S.277.

14. Deutscher, Stalin, S.271-2.

15. Quotations from Chairman Mao Tse-tung, Foreign Languages Press, Peking 1966.

16. Isaac Deutscher, The Prophet Outcast: Trotsky 1929–40, Random House, New York 1963, S.521.

17. zit. von George Novack, Humanism and Socialism, Pathfinder Press, New York 1973, S.136.

18. Isaac Deutscher: The Prophet Armed: Trotsky 1879–1921, Random House, New York 1965, S.54.

19. Leon Trotsky, Their Morals and Ours, Merit Publishers, New York 1969, S.39. [Leo Trotzki, Ihre Moral und unsere]

20.Deutscher, The Prophet Outcast, S.479–80.

21.Leon Trotsky, Stalin: An Appraisal of the Man and His Influence, Stein and Day, New York 1967, S.54.

 

Anmerkungen des Übersetzers

1*. Ein Wortspiel auf den Titeln von zwei berühmten Schriftstücke, dem Schauspiel Warten auf Godot vom irischen Schriftsteller Samuel Beckett und dem Roman Waiting for Lefty (auf Deutsch: Warten auf Lefty) vom amerikanischen linken Schriftsteller Dalton Trumbo. Der Name Godot wird oft interpretiert als Wortspiel auf God (Gott). Lefty ist ein Spitzname, der oft Linkshänder gegeben wird, oder auch eine Bezeichnung für einen Linken im politischen Sinne.

2*. Der Autor ist orthodoxer Trotzkist, der glaubt, die Ostblockländer seien Arbeiterstaaten, d.h. nichtkapitalistisch gewesen. Trotzdem gilt die allgemeine Argumentation, besonders für Rußland, wo eine soziale Revolution (1917) von einer bürokratischen Konterrevolution (1928-29) besiegt wurde.

 


Zuletzt aktualisiert am 5.10.2001