Ingo Singe

 

Oktoberrevolution 1917: Putsch oder Massenbewegung?

(1992)


aus: Klassenkampf 110, November 1992.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für REDS – Die Roten.


Vor einigen Monaten veröffentlichte die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung eine Karikatur. Sie zeigte, wie das Boot des Sozialismus in einem imaginären Meer vor dem Hintergrund des Kreml versank. Stalin ging als erster unter, aber er zog Lenin und Marx mit in die Fluten. Die Botschaft ist klar – der Sozialismus ist gescheitert, es hat keinen Sinn, für eine andere Gesellschaftsordnung zu kämpfen, immer wieder wird doch nur ein neuer Stalin sein Haupt erheben.

Aber das Vertrauen der Herrschenden, daß mit dem Stalinismus auch die sozialistische Perspektive für immer versunken sei, scheint nicht besonders ausgeprägt. Immer wieder dreschen sie auf die vermeintliche Leiche ein, als müßten sie sich versichern, daß sie auch wirklich tot ist.

Beliebtestes Übungsfeld stellt dabei die Russische Revolution dar, die sich dieses Jahr zum fünfundsiebzigsten Mal jährt.

Besonders an den Universitäten kursieren Theorien, die die Revolution nicht als Massenerhebung anerkennen wollen, sondern als eine vom Pragmatiker Lenin initiierte Machtübernahme „seiner“ Partei, der Bolschewiki bezeichnen. Lenin wird als verschwörerischer Abenteurer hingestellt, der in völlig unmarxistischer Weise ein sozialistisches Projekt in einem wirtschaftlich vergleichsweise rückständigen Land durchführen wollte.

Eine nähere Betrachtung der Revolution macht dagegen klar, warum noch immer soviel bürgerliche Tinte auf Angriffe gegen die Revolution verwandt wird – noch immer nämlich ist die Tradition des Sozialismus von unten eine Inspiration für alle Unterdrückten und Ausgebeuteten und eine Tradition, auf die der Stalinismus keinerlei Ansprüche anmelden kann.

Im Jahre 1917 war das zaristische Rußland ein ökonomisch rückständiges Land. Das Volkseinkommen betrug nur ungefähr ein Zehntel dessen der USA. Weite Teile des Landes waren durch die Landwirtschaft geprägt, die für das 17. Jahrhundert charakteristisch war. Die Bauern litten unter einer unerträglichen Armut. 30.000 Großgrundbesitzer konzentrierten ebensoviel Land in ihren Händen wie die zehn Millionen Familien kleinerer Bauern.

Aber inmitten dieser wirtschaftlichen und kulturellen Rückständigkeit fanden sich Inseln des Fortschritts. Der zaristische Staat stand im militärischen Konkurrenzkampf mit den moderneren kapitalistischen Staaten des Westens. Er sah sich selbst gezwungen, die Industrialisierung des Landes voranzutreiben: 1901 wurde die 7000 km lange Transibirische Eisenbahn fertiggestellt, die Schwerindustrie wuchs zwischen 1895 und 1900 um 9,5% und damit schneller als die der meisten entwickelten Ländern. So war Rußland im Jahre 1917 nicht nur das Land des primitiven Holzpfluges. es war auch das Land der Eisenbahn und des Telegraphen, die die Revolutionäre der klassischen bürgerlichen Revolution in Frankreich noch gar nicht kannten.

Neben dem Heer der Bauern hatte sich in Rußland eine moderne Arbeiterklasse von vier Millionen herausgebildet. Direkt vom Lande kamen sie in die Städte und arbeiteten in den größten Fabriken, die die Welt damals kannte. 41% der russischen Industriearbeiter arbeiteten in Fabriken mit mehr als 1000 Beschäftigten, in den USA waren es nur 18%. Mit Hilfe von Krediten und durch ausländische Kapitalinvestitionen hatte Rußland, als Teil der Weltwirtschaft, eine ganze Entwicklungsstufe übersprungen, die Manufaktur als Vorstufe der Fabrik blieb praktisch unbekannt.

Aber es gab keine selbstbewußte, revolutionäre bürgerliche Klasse. Die russische Bourgeoisie erfüllte ihre historische Mission nicht, sie war nicht zu einem konsequenten Kampf gegen die Autokratie bereit, sie befreite die Bauern nicht aus der Unterjochung durch den Großgrundbesitz, sie schaffte keine demokratischen politischen Institutionen. Sie schreckte davor zurück, die Arbeiter gegen den Zarismus zu mobilisieren, weil sie fürchtete, daß die Arbeiter über die von ihr gesteckten Ziele hinausgehen und das bürgerliche Eigentum in Frage stellen würden.

1917 stand die zaristische Familie einer Gesellschaft vor, in der die Bauern immer unzufriedener mit ihrer Unterdrückung wurden und das Proletariat seine Ansprüche anzumelden begann. Das System versuchte sich durch brutale politische Unterdrückung, durch das Verbot von Streiks und Gewerkschaften und durch nationale Unterdrückung zu retten. Aber der Erste Weltkrieg verstärkte den Unmut der Unterdrückten nur noch mehr. Die sozialen Widersprüche brachen sich in einer Revolution Bahn, die den Aufstand der Bauern gegen den Großgrundbesitz mit der Revolution der Arbeiter gegen den modernen Kapitalismus kombinierte.

 

 

Spontane Revolution

Im Februar 1917 streikten und demonstrierten die Arbeiter Petrograds für höhere Löhne, gegen die Schließung von Fabriken durch die Kapitalisten und gegen den Brotmangel. Am 23. Februar, dem internationalen Frauentag, demonstrierten Frauen gegen die Hungersnot. Einige trugen Transparente gegen die Zarenherrschaft mit sich. In den folgenden Tagen wuchsen die Demonstrationen, die Streiks gingen weiter. Als der Zar seine Truppen anwies, auf Demonstranten zu schießen, fand er kein Gehör. Seine Autorität war zerbrochen, viele Soldaten demonstrierten mit den Revolutionären. Am 28. Februar wurden die Minister des Zaren verhaftet. Diese Ereignisse wurden von keiner Partei initiiert. Die Menschen begannen zu kämpfen, weil die Zustände unerträglich geworden waren.

Aber wer würde die Macht nun in die Hände nehmen?

 

Doppelherrschaft

Nach dem Februar bildete sich eine Form der Doppelherrschaft heraus. Das eine Machtzentrum bildete die provisorische Regierung. Zunächst eine rein bürgerliche Regierung stand ihr ab Juli ein Sozialrevolutionär, Kerenski, vor. Wie die Menschewiki (reformistische Sozialdemokraten) betonte er, die Revolution habe sich auf die Vollendung der bürgerlichen Revolution zu beschränken. Immer wieder wurde die Einführung eines Parlamentes, einer Verfassungsgebenden Versammlung, für Dezember versprochen. Bis dahin sollten sich die Arbeiter ruhig verhalten, um die liberale Bourgeoisie nicht zu verschrecken. Der Unmut der Arbeiter und Bauern wuchs, denn entgegen aller Erwartungen ging der Krieg weiter, der Großgrundbesitz war noch immer nicht zerschlagen, die Arbeiter hungerten. Als Kerenski den Krieg mit einer Offensive fortsetzen wollte, desertierten Zehntausende, die Bauern gingen einfach zurück in ihre Dörfer. Da die Regierung den Bauern das Land wiederholt versprach, aber den Großgrundbesitz faktisch nicht antastete, handelten die Bauern. Im Herbst erstreckten sich Bauernaufstände über drei Viertel des Russischen Territoriums.

Die beeindruckendste Erscheinung der Revolution aber waren die Fabrikkomitees und Arbeiterräte, mit denen die Arbeiter an die Tradition der Revolution von 1905 anknüpften. Sie wurden das Rückgrat der Revolution, sie gaben dem kollektiven Willen der Arbeiter Ausdruck.

Wie die Bauern das Land für sich beanspruchten, so forderten die Arbeiter die Kontrolle über die Fabriken. Sie forderten nicht nur den Achtstundentag, sondern auch die Kontrolle des Managements und die Wahl der Vorarbeiter durch die Arbeiter. In allen großen Fabriken, aus den Stadtbezirken, aus den Militäreinheiten wählten die Menschen Vertreter ihres Vertrauens in die Räte. Diese Praxis war sehr demokratisch, weil in den Betrieben jeder reden konnte und das Recht auf freie politische Organisation bestand. Gleichzeitig war das System zentralistisch, weil die Arbeiter Delegierte in die Räte schickten. Diese Vertreter waren, im Gegensatz zu den Gepflogenheiten selbst der entwickeltsten bürgerlichen Demokratien, jederzeit abwählbar. Das Rätesystem bot die Voraussetzung für die Aufhebung der Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht. Die Menschen strebten nach Selbstbestimmung in allen Bereichen des Lebens.

Die Arbeiter wurden von Objekten zu Subjekten der Geschichte; von der duldenden Masse zu Menschen, die um Einsicht in ihre Situation kämpften und daran gingen, sie bewußt mittels ihrer eigenen Machtorgane zu verändern. Das geistige Wachstum der Arbeiter, wie es der amerikanische Journalist John Reed beschreibt, hätte es nicht geben können, hätte die Revolution die Gesellschaft nicht bis ins Mark erfaßt:

Monate hindurch war in Petrograd, in ganz Rußland jede Straßenecke eine öffentliche Tribüne. In den Eisenbahnen, in den Straßenbahnwagen, überall improvisierte Debatten ...

Lenins Bolschewiki standen dieser Selbstaktivität der Menschen absolut enthusiastisch gegenüber, ihr Hauptslogan war: „Alle Macht den Räten!“. Lenin sah in ihnen die Organe, mittels derer die Arbeiter ihre eigene Herrschaft befestigen sollten. Vehement kämpfte er gegen jede Form von Putschismus oder Stellvertretertum. Die Erkämpfung des Sozialismus konnte nicht das Werk einer kleinen Minderheit oder einer Partei sein, die Befreiung der Arbeiter mußte ihr eigenes Werk sein. Als im Juli in Petrograd die Stimmung aufkochte, eine immer größere Zahl von Arbeitern das Vertrauen in die Provisorische Regierung verlor und den Umsturz verlangte, forderte Lenin zu Zurückhaltung auf, weil der Rest des Landes für den Aufstand noch nicht reif war. Die bolschewistische Partei war kein Verschwörerzirkel, sondern setzte von Februar bis Oktober ihre Kraft dafür ein, in den Fabriken Unterstützung für ihre Forderungen nach sofortigem Frieden, nach Räteherrschaft und Landverteilung an die Bauern zu gewinnen. Ihr Einfluß wuchs gewaltig, revolutionäre Ideen wurden für immer mehr Menschen logisch. Immer mehr Arbeiter brachen mit den Menschewiki, die ihnen einreden wollten, die Macht an eine ihnen nicht verantwortliche Regierung abzugeben.

Von Juni bis Oktober erhöhten die Bolschewiki den Anteil ihrer Delegierten auf den Rätekongressen von 13% auf 51%. In den Fabrikkomitees, in den Zentren der Arbeiterbewegung war ihr Einfluß noch größer: Auf der Petrograder Konferenz der Fabrikkomitees stellten die Bolschewiki schon im Juni 2/3 der Delegierten.

Die Arbeiter hatten nicht nur faktisch die Macht, sie wurden sich dessen mehr und mehr bewußt. Die Bolschewiki forderten sie nun auf, die Macht vollständig zu ergreifen. Schließlich legte der Umsturz des Oktober die Macht ganz offiziell in die Hände der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte.

Lenin glaubte fest an die Fähigkeit der Masse, eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen. Auch nach dem gelungenen Aufstand forderte er die Arbeiter und Bauern auf:

Genossen! Werktätige! Denkt daran, daß ihr selber jetzt den Staat verwaltet. Niemand wird euch helfen, wenn ihr euch nicht selber vereinigt und nicht alle Angelegenheiten des Staates in eure Hände nehmt. Eure Sowjets sind von nun an die Organe der Staatsgewalt, bevollmächtigte, beschließende Organe. Schließt euch um eure Sowjets zusammen. Stärkt sie. Ohne auf jemand zu warten, geht selbst ans Werk, beginnt von unten.

Trotz der katastrophalen wirtschaftlichen Situation gingen die Menschen begeistert an den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Die Bauern erhielten das Land, die Arbeiter kontrollierten die Fabriken. Den Kriegsgegnern wurde das Angebot eines sofortigen Friedens ohne Annektionen gemacht. Die ersten Dekrete der Sowjetmacht brachten die Angleichung der Löhne und freie Scheidung auf Wunsch. 1919 wurden 90% der Bürger Petrograds durch kommunale Küchen verpflegt.

Nur weil die Oktoberrevolution eine erfolgreiche Massenerhebung war, besteht für die bürgerlichen Medien weiter die Notwendigkeit, die Revolution und besonders die Rolle der Partei in ihr zu verfälschen. Die Revolution zeigt die Macht und Kreativität die wir entwickeln können, sie zeigt eine praktische Alternative zum kapitalistischen System. Deswegen war sie eine Inspiration für die Arbeiter in Berlin, Turin und Glasgow. Sie bleibt eine Inspiration für uns heute und ein Trauma für unsere Gegner.

 


Leo Trotzki

Trotzkis Name fällt in den Diskussionen über die Russische relativ selten, obwohl Trotzki neben Lenin der prominenteste Revolutionär gewesen ist. Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, daß er wie kein anderer die authentische marxistische Tradition verteidigte.

1905 schrieb Trotzki sein Werk Ergebnisse und Perspektiven, in er die Eckpunkte seiner „Theorie von der Permanenten Revolution“ formulierte. Darin analysierte er die ökonomischen Verhältnisse Rußlands und kam zu dem Schluß, daß Rußland nicht einfach den Entwicklungsgang des Kapitalismus, wie er sich in England vollzogen hatte, nachahmen würde. Vielmehr war Rußland gleichzeitig fortgeschritten und zurückgeblieben. Neben feudalen Verhältnissen fanden sich moderne kapitalistische Zentren.

Die kommende Revolution, von der Arbeiterklasse geführt, mußte nicht bei der Verwirklichung bürgerlich-demokratischer Verhältnisse stehenbleiben, sondern die Arbeiterklasse konnte anfangen, die Fabriken selbst zu kontrollieren und ihren eigenen Staat aufzubauen.

Die Revolution von 1917 war eine Bestätigung dieser Theorie.

Wie kein anderer verkörperte Trotzki die Verbindung der Bolschewiki mit den Massen. Wie schon 1905 (als er noch kein Parteimitglied war) wurde er 1917 von den Arbeitern Petrograds zum Vorsitzenden ihres Sowjets gewählt. Er war einer der begabtesten Massenredner der Revolution er, eilte von Versammlung zu Versammlung. Manchmal sprach auf acht oder zehn Versammlungen pro Tag, um die Arbeiter von seiner Politik zu überzeugen.

Gegen Stalin verteidigte Trotzki die Auffassung. daß der Sozialismus in einem Land nicht isoliert aufgebaut werden könne. wurde zum prominentesten Kritiker an der Entartung der Revolution. Er erkannte den Aufstieg der Bürokratie, der einherging mit der Entmachtung der Arbeiterklasse, die durch den Bürgerkrieg geschwächt worden war. Ab 1933 glaubte er nicht mehr, daß Stalins Rußland reformiert werden könne. Er forderte eine, neue Revolution gegen die Herrschaft der Bürokratie. Allerdings glaubte er, fälschlicherweise, es sei nur eine politische Revolution nötig, da die ökonomische Basis der UdSSR noch die eines Arbeiterstaates sei. In Wirklichkeit baue die Bürokratie rückt nur die politische Herrschaft inne, sondern gestaltete die Wirtschaft nach ihren eigenen Interessen.

Weil Trotzki die Tradition des Sozialismus von unten verkörpert, weil er ein antistalinistischer Sozialist war und weil seine Theorie von der Permanenten Revolution ein fantastisches Beispiel für die Anwendung der marxistischen Methode auf eine sich verändernde Welt darstellt, ließ Stalin Trotzki 1940 ermorden und deswegen wird heute versucht, ihn aus der Diskussion um Vergangenheit und Zukunft des Sozialismus herauszuhalten.

 


Zuletzt aktualisiert am 31.3.2002