Chris Harman

 

Stalin: Totengräber der Revolution

(1983)


Aus Klassenkampf, Nr.16, Mai/Juni 1983.
Transkription u. HTML-Markierung: Michael Gavin für REDS – Die Roten.


In diesem Jahr ist der 100. Todestag von Karl Marx. Um dieses Ereignis zu gedenken, wollen wir in der nächsten Ausgabe des Klassenkampf eine Darstellung seines Lebens und Wirkens bringen.

Vor genau dreißig Jahren aber ist ein anderer Mann gestorben, der mehr als jeder andere dazu beigetragen hat, den Marxismus in Verruf zu bringen.

Chris Harman wirft einen Blick auf Stalin.

 

Unbemerkt

Dieses Jahr wurde der 6. März nirgendwo besonders gefeiert. Es fanden keine zeremoniellen Paraden in Moskau statt, es drängten sich keine tausende franzosischen und italienischen Kommunisten zu irgendwelchen Gedenkfeiern.

Als Stalin nach fast drei Jahrzehnten der Alleinherrschaft vor 30 Jahren starb, war es ganz anders. Ein führender britischer Kommunist R. Palme Dutt proklamierte: »Die gesamte Welt – mit Ausnahme einer Handvoll Verrückter – trauerte um den Verlust Stalins ... Das Genie und der Wille Stalins, dieses Architekten der aufsteigenden Welt der freien Menschheit, werden für immer weiterleben.« Millionen von Arbeitern im Westen und in der dritten Welt glaubten diesen Worten. Man hatte ihnen beigebracht, daß Stalin in der Tat die Personifizierung von allem sei, wofür sich Sozialisten einsetzen.

Weniger als drei Jahre später wurde dieser Glaube bis in seine Fundamente erschüttert. Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow sagte vor dem 20. Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Februar 1956, daß der »Architekt der aufsteigenden Welt der freien Menschheit« für die Ermordung »vieler Tausende von ehrlichem und unschuldigen Kommunisten« verantwortlich gewesen sei.

Stalin hatte »die Massendeportation ganzer Völker, mitsamt aller Kommunisten und Komsomols (Jungkommunisten) lückenlos organisiert«. Er hatte die Inhaftierung von mehr als die Hälfte aller Delegierten zum Kongreß der Kommunistischen Partei im Jahre 1934 verfügt, sowie die Erschießung von 70 Prozent der Mitglieder des Zentralkomitees, das auf diesem Kongreß gewählt worden war.

Darüberhinaus erzählte Chruschtschow, daß der als »der größte Führer, erhabenste Stratege aller Zeiten und aller Nationen«, als Verantwortlicher für den Sieg im zweiten Weltkrieg gefeierte Stalin in Wahrheit Fehler gemacht hatte, die Hunderttausenden von russischen Soldaten das Leben kosteten. Stalin hatte versucht, die Entwicklung von Schlachten auf einem Schulglobus zu verfolgen, und hatte in den ersten Kriegstagen totale Feigheit gezeigt.

 

Nicht mehr dasselbe

Die Kommunistische Bewegung in der ganzen Welt war nach Chruschtschows Enthüllungen nicht mehr die alte. Seitdem haben wir wiederholte Arbeiteraufstände gegen die Regimes Osteuropas, Rußlands und Chinas erlebt. Die größte Kommunistische Partei des Westens, die Italiens, hat Rußland inzwischen den Rücken gekehrt.

Trotzdem finden sich heute nach wie vor viele Leute, die immer noch glauben, daß Staune Politik in Rußland die Verwirklichung des Sozialismus war. Für einige wenige Leute in der Kommunistischen Partei oder in der Labour-Linken rechtfertigt dieser Glaube eine halbherzige Unterstützung für Stalins Maßnahmen. Aber für viel mehr Leute folgte daraus die Ablehnung jeglicher Vorstellung einer sozialistischen Revolution, weil diese zu einen neuen Stalin münden könnte.

In Wahrheit stand die Politik Staune in krassem Widerspruch zu den Hauptlosungen der russischen Revolution von 1917. Die Revolution geschah im Namen einer wirklichen Arbeiterdemokratie, gestützt auf der Macht der Arbeiterräte. Sie sollte als ersten Schritt zu einer Weltrevolution eine sozialistische egalitäre Ordnung in Rußland schaffen.

Nachdem Stalin 1924 damit begann, die Macht in die eigene Hände zu sammeln, wurde diese Perspektive aufgegeben. Unter Stalin entwickelten sich riesige Einkommensunterschiede zwischen den verschieden Gruppierungen in der russischen Gesellschaft. Stalin predigte den Kampf gegen die »Gleichmacherei«, und 1936 schon bezogen die höchsten Beamten 300.000 Rubeln, mehr als 100mal soviel wie der durchschnittliche Arbeiterlohn jener Zeit. Gleichzeitig wurde der Lebensstandard der Arbeiter auf beispiellose Weise gedrückt. Zwischen 1928, dem Jahr der endgültigen Machtergreifung durch Stalin, und 1935 sanken die Reallöhne um 50 Prozent.

In seiner Außenpolitik war Stalin genausowenig »sozialistisch«. Er setzte seinen ganzen Einfluß ein, um ausländische Kommunistische Parteien von einem revolutionären Kurs abzuhalten. In der Mitte der 30er Jahre drängte er Kommunistische Parteien In der ganzen Welt dazu, Koalitionen mit pro-kapitalistischen Parteien zu bilden. Und das, obwohl die Kommunistischen Parteien kaum 15 Jahre zuvor gerade geschaffen wurden, um ein Gegengewicht zu den Sozialistischen Parteien zu schaffen, die eine solche Koalitionspolitik verfolgten. In Frankreich unterstützten die Kommunisten eine Koalitionsregierung zwischen den Sozialisten und der wichtigsten Kapitalistenpartei.

Als ein Massenaufstand der Arbeiter einen sofortigen Sieg des Faschistenputsches Francos in Spanien 1936 vereitelte, gab Stalin der spanischen Kommunistischen Partei Befehl, zu verhindern, daß der erfolgreiche Aufstand sich bis zur Schaffung eines Arbeiterstaates weiterentwickelt.

Dieselbe Politik wurde Frankreich, Italien und Griechenland aufgezwungen. In Frankreich beteiligte sich der Kommunistenführer Thorez an der Regierung De Gaulles, wobei er den Widerstandskämpfern befahl, ihre Waffen an De Gaulles Armee und Polizei auszuhändigen. In Italien unterstützte der Kommunistenführer Togliatti die Regierung des ehemaligen Faschisten General Badoglio. In Griechenland war es der Widerstandsbewegung gelungen, die Deutschen rauszutreiben. Nun konnte Churchill erzählen, daß die britischen Truppen, die zur Niederschlagung dieser Widerstandsbewegung eingesetzt wurden, die volle Unterstützung des »Marschall Stalin« hatten.

Vor allem aber ersetzte Stalin die 1917 geschaffene Arbeiterdemokratie durch die eigene diktatorische Herrschaft. Zur Zeit der Revolution bedeutete Sowjetdemokratie genau das, was sie versprach: Die Arbeiter konnten ihre eigenen Delegierten zu den Sowjets (Arbeiterräten) wählen), und sie auch sofort abwählen, sobald sie gegen die Wünsche der Arbeiter handelten.

Unter Stalin wurde ganz im Gegenteil nicht einmal die Fassade der Arbeiterräte aufrechterhalten. Der »oberste Sowjet« war wie ein westliches Parlament, gewählt auf der Basis von geographischen Wahlkreisen – mit dem einzigen Unterschied, daß die Wähler nur einen einzigen Kandidaten hatten, für den sie stimmen konnten. Arbeiter, die dieses System in Frage stellten, konnten damit rechnen, in Sklavenarbeitslager verschleppt zu werden, vorausgesetzt, sie wurden nicht schon vorher in einer Polizeistelle erschossen.

 

Machtergreifung

Wie konnte Stalin an die Macht kommen? Ist er nicht der Beweis dafür, daß revolutionäre Führer am Ende so verdorben sind, wie die Regimes, die sie ersetzen?

In Wahrheit war Stalin nicht einmal einer der führenden Köpfe der Revolution von 1917. Er war ein ziemlich unbekannter, wenn auch arbeitsamer Haupt- amtlicher der Bolschewistischen Partei und spielte nur eine untergeordnete Rolle in der Revolution. Erst als Faktoren, die außerhalb der Kontrolle der Bolschewistischen Partei lagen, die Macht der Arbeiterräte aushöhlten, rückte er allmählich in den Vordergrund.

Die Arbeiterräte basierten auf den Betrieben. Aber kaum haften sie die Revolution erkämpft, da wurde Rußland von ausländischen Truppen überfallen, zuerst von Deutschland und, nach der Niederlage Deutschlands im Weltkrieg, von allen westlichen Mächten zusammen. Betriebe mußten mangels Rohstoffe und Energie für Jahre ihre Tore schließen, und über die Hälfte der Arbeiterschaft verließ die Städte.

Die Arbeiterklasse, die die Revolution gemacht hatte, löste sich buchstäblich auf, und die Arbeiterräte konnten nicht mehr richtig funktionieren. Die Bolschewiki fanden sich in der Lage wieder, angesichts des Fehlens einer wirklichen Arbeiterdemokratie die Macht festhalten zu müssen. Inmitten des Chaos und allgemeiner Verwüstung konnten sich viele Menschen, die genau entgegengesetzte Vorstellungen zu denen der Revolutionäre von 1917 hatten, in einflußreiche Stellungen im Staatsapparat und in der Bolschewistischen Partei einschleichen. Lenin warnte vor ihnen, als er 1923 schon im Sterben lag.

Stalin war aber schon dabei, diese Elemente zu einer Kraft zu vereinen, die seinen eigenen Machtanspruch unterstützen sollte. Er übernahm allmählich die Schlüsselstellungen in der Bolschewistischen Partei, wobei er gleichzeitig die Führer von 1917 hinausdrängte – zuerst Trotzkis »linke Opposition«, dann die »Leningrader Opposition« von Sinoview und Kamenew, und schließlich die »rechte Opposition« von Bucharin. Die Bürokraten, die Stalin unterstützten, wollten keine Opposition dulden. Sie bestanden mit zunehmenden Nachdruck darauf,, daß die verstaatlichte Industrie ihnen gehörte, und nicht den Arbeitern. Es gab keinen Raum mehr für Arbeiterkontrolle in den Fabriken oder für Diskussionen, egal von welcher Seite, über den Kurs, den der Staat verfolgte.

Die neuen Bürokraten fürchteten sich vor der ansteckenden Wirkung, die die Revolutionen im Ausland auf Rußland haben würden und gaben deshalb den Gedanken einer Weltrevolution auf. Aber sie wollten nach wie vor Rußland gegen militärische Drohungen seitens des Westens verteidigen. Deshalb begannen sie damit, in Rußland alle Mittel einzusetzen, die auch der Westen verwendet hatte, um die Industrie aufzubauen, nicht zuletzt die Kriegsindustrie: Lohnkürzungen, das Vertreiben der Bauern vom Land, Kinderarbeit, Sklavenlager trugen alle zum massiven Wachstum der russischen Industrie bei.

Stalin fürchtete immer, daß sich die Arbeiter an die Lehren von 1917 erinnern und sich gegen ihre neuen Ausbeuter und Unterdrücker auflehnen könnten. Er wandte immer härtere Formen der Repression an, um einer solchen Entwicklung zuvorzukommen. 1928 hatte es lediglich 30.000 Menschen in Arbeitslagern gegeben; 1930 waren es 20mal soviele, und 1940 200mal. Die noch überlebenden Führer der Oktoberrevolution wurden nach den Moskauer Prozessen Mitte der 30er Jahre im großen Stil abgeschlachtet. Sinoview, Kamenew, Radek, Bucharin, Rakovsky waren seine Opfer. Mörder wurden bis nach Mexiko geschickt, um dort Trotzki zu ermorden. Sogar diejenigen Altbolschewiki, die Stalin voll unterstützten, konnten seinem Zorn nicht entkommen. Zu Tausenden landeten sie in Hinrichtungskammern, Gefängniszellen und Arbeitslagern. Stalin konnte nicht Ruhe geben, bis er zwischen sich und der Revolution ein Blutbad geschaffen hatte.

 

Die Erben

Stalin überwachte die Ersetzung des durch die Revolution geschaffenen Arbeiterstaats durch einen neuen, auf Massenausbeutung gestützten Staatskapitalismus.

Nachdem diese Aufgabe zu Ende geführt worden war, konnten sich seine Nachfolger leisten, den Terror zu lockern, die meisten Arbeitslager zu schließen und den Lebensstandard der Arbeiter etwas anzuheben. Das Ist der Grund, warum Chruschtschow Stalin brandmarkte. Aber sie konnten mich niemals leisten, sein gesamtes Erbe zu gefährden. Denn die Ausbeutungsstrukturen, die er geschaffen hatte, sind nach wie vor die Grundlage ihrer eigenen Herrschaft. Und wenn ihre Herrschaft herausgefordert wird – ob In Ungarn, der Tschechoslowakei, Polen oder In Rußland selbst – müssen sie nach wie vor nackte Gewalt gegen Arbeiter einsetzen.

Folglich sind sie weder fähig, Stalin als großen Helden noch als großen Schurken zu behandeln, und sie bemühen sich nach Kräften, um seinen dreißigjährigen Todestag zu ignorieren.

 


Zuletzt aktualisiert am 19.3.2004