Andreas Berlin

 

Die klassenlose Gesellschaft

Was ist Sozialismus von unten?

(1995)


Aus Sozialismus von unten (erste Serie), Nr.3, März 1995, S.26-29.
Copyright © 1995 Verein für Geschichte und Zeitgeschichte der Arbeiterbewegung (VGZA) e.V.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für REDS – Die Roten.


George Orwells Buch 1984 beschreibt einen Staat, der die Bedeutung von Wörtern wie »Wahrheit« oder »Liebe« ins Gegenteil verdreht. Das Wahrheitsministerium verbreitet Lügen. Das Ministerium für Liebe fördert den Haß. Die Regierung betreibt rücksichtslose Ausbeutung und Unterdrückung – aber sie nennt sich sozialistisch.

1989 sind ein paar real existierende Regierungen gestürzt worden, die genau für das standen, was Orwell beschrieben hatte: Ausbeutung und Unterdrückung im Namen des Sozialismus. Deshalb ist es gar nicht erstaunlich, daß viele Menschen den Begriff »Sozialismus« nicht mit Hoffnung verbinden, sondern mit Angst und Mißtrauen.

Wäre Orwells Regierung aus 1984 gestürzt worden, dann würden die Wörter »Wahrheit« und »Liebe« die gleiche Angst und das gleiche Mißtrauen auslösen. Und Bundeskanzler Kohl – wenn er in dieser Geschichte einen Platz hätte – würde verkünden: »Überall in der Welt sind Wahrheit und Liebe gescheitert.« Um dem Wort »Sozialismus« seine wirkliche Bedeutung zurückzugeben, muß jede Verwechslung mit dem falschen Sozialismus ausgeschlossen werden, der 1989 zu Recht untergegangen ist.

Das ist unser Ziel, wenn wir unter der Überschrift »Sozialismus von unten« antreten. Aber eine Überschrift kann nicht ausreichen, um das Mißtrauen zu überwinden. Die Leute wollen auch und vor allem das Kleingedruckte lesen. Der folgende Beitrag soll dazu eine Hilfe sein.

Das Urheberrecht auf den Titel »Sozialismus von unten« gebührt dem amerikanischen Marxisten Hai Draper. Ende der 50er Jahre schrieb er einen Aufsatz unter dem Titel Die zwei Seelen des Sozialismus. Dieser Aufsatz hatte eine einfache Botschaft: Das Wort Sozialismus hat zwei völlig gegensätzliche Bedeutungen.

Die eine nannte er »Sozialismus von oben«. Das bedeutet: Die Welt wird verändert, indem wir unser Schicksal in die Hände einer weisen und wohlwollenden Führung legen. Sie wird die richtigen Entscheidungen treffen, und wir werden ihre Beschlüsse ausführen und ihre Weisheit bewundern.

Diese Vorstellung vom Sozialismus ist geprägt von dem Gefühl der Ohnmacht, das einige tausend Jahre Klassenherrschaft geschaffen haben. Sie ist elitär und bürokratisch. In Drapers eigenen Worten:

Es ist das immerwährende Versprechen. das jede herrschende Macht abgibt, uni die Leute bei den Oberen nach Schutz suchen zu lassen, anstatt bei sich selbst nach Befreiung. Es hat den unschätzbaren Vorteil, den sicheren Weg darzustellen anstelle des Weges der Kühnheit. den vorsichtigen Weg anstelle des Weges der Aktion. Keine Freiheitsbewegung ist jemals in Gang gekommen. bevor sie nicht diese Haltung überwunden hatte.

Das Gegenstück dazu ist »Sozialismus von unten«. Er wächst aus den Kämpfen der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Sein Motto ist der erste Satz aus den Statuten dem Arbeiter-Internationale von 1864, »... daß die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muß.«

Sozialismus von unten kann nur durch das Selbstbewußtsein und die Selbstorganisation der arbeitenden Menschen entstehen. Der wichtigste Denker dieser Richtung war Karl Marx. Nebenbei – das Statut der Ersten Internationale ist von ihm.

 

 

Sozialistische Utopien

Karl Marx hat den Sozialismus nicht erfunden. In der Geschichte gab es zahlreiche Entwürfe für eine Gesellschaft, in der es keine Unterschiede zwischen Arm und Reich geben sollte.

Die Mehrzahl dieser Entwürfe hatte strenge Regeln, über deren Einhaltung eine Elite wachte. Schon der altgriechische Philosoph Platon erfand einen perfekten Staat, der durch eine besondere Gruppe von „Wächtern“ kontrolliert wurde.

Der Begriff der Utopie geht auf den englischen Kanzler Thomas Moore zurück. Er hatte im Jahre 1516 ein „Utopia“ erträumt, das mit sechs Stunden täglicher Arbeit für alle auskam. Sein Ziel war, „für alle Bürger möglichst viel Zeit frei zu machen von der Knechtschaft des Leibes für die freie Pflege geistiger Bedürfnisse“.

Moores „Utopia“ ist von einem gutwilligen König namens Utopus begründet worden. Die Führungselite Utopias wird gewählt – allerdings nur aus dem beschränkten Kreis derjenigen, die sich durch ein Studium höhere Bildung angeeignet haben und zu diesem Zweck von der Arbeit freigestellt wurden.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand ein Fülle von sozialistischen Utopien, ausgelöst durch die Französische Revolution von 1789. Die Werke der Franzosen Claude Henri de Saint-Simon, Charles Fourier und Etienne Cabet oder des Briten Robert Owen bildeten wichtige Denkanstöße für Marx und Engels.

Dennoch litten auch die sozialistischen Utopien unter dem Problem, das schon Platon beschäftigte: Wenn wir die beste aller Welten haben, dann muß jede Veränderung zwangsläufig eine Verschlechterung bedeuten. Und das heißt, daß eine strenge, autoritäre Kontrolle (Platons „Wächter“) notwendig ist, um unerwünschte Veränderungen auszuschließen.

Utopien haben etwas Faszinierendes, weil sie beweisen, daß das menschliche Gehirn fähig ist, nicht nur die jeweilige Wirklichkeit zu erfassen, sondern auch eine völlig andere Wirklichkeit zu erdenken. Auf diese Weise formulierten die utopischen Sozialisten eine radikale Kritik der Ungleichheit und der Ungerechtigkeit im Kapitalismus.

Sie fanden aber keinen Weg, ihre Ideen zu verwirklichen. Saint-Simon träumte von einem Bündnis zwischen Wissenschaftlern und Bankiers, aber er konnte die Bankiers nicht überzeugen, daß sein System besser wäre als das bestehende, dem sie ihren Reichtum verdankten. Cabet und Owen gründeten unabhängig voneinander Muster- exemplare ihrer Zukunftsgesellschaften in Amerika und Schottland. Beide Versuche scheiterten kläglich. Owen verlor sein ganzes Geld, und Cabet wurde von den Mitgliedern der von ihm gegründeten Kommune hinausgeworfen.

 

 

Kommunistisches Manifest

Karl Marx und sein Mitstreiter Friedrich Engels suchten den Schlüssel zur Veränderung nicht in der Idee einer besseren Gesellschaft, sondern in den inneren Widersprüchen der schlechten Wirklichkeit. Sie sahen im Klassenkampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten den Weg, der zum Sturz der alten Ordnung und zur Errichtung einer neuen, sozialistischen Gesellschaft führen sollte.

Im Kommunistischen Manifest formulieren Marx und Engels ihre Kritik an den sozialistischen Utopien:

Die Erfinder dieser Systeme sehen zwar den Gegensatz der Klassen wie die Wirksamkeit der auflösenden Elemente in der herrschenden Gesellschaft selbst. Aber sie erblicken auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche Selbsttätigkeit, keine ihm eigentümliche politische Bewegung.

An die Stelle der gesellschaftlichen Tätigkeit muß ihre persönlich erfinderischeTätigkeit treten, an die Stelle der geschichtlichen Bedingungen der Befreiung phantastische, an die Stelle der allmählich vor sich gehenden Organisation des Proletariats zur Klasse eine eigens ausgeheckte Organisation der Gesellschaft. Die kommende Weltgeschichte löst sich für sie auf in die Propaganda und die praktische Ausführung ihrer Gesellschaftspläne.

Um die Jähreswende 1847/48 war das Manifest entstanden. Im nun folgenden Jahr wurde ganz Europa von revolutionären Erhebungen erschüttert. Die Arbeiterschaft spielte darin zum ersten Mal eine selbständige Rolle. Karl Marx kam wieder auf sein Thema zurück, in seinem Bericht über Die Klassenkämpfe in Frankreich:

Eine Klasse, worin sich die revolutionären Interessen der Gesellschaft konzentrieren, sobald sie sich erhoben hat, findet unmittelbar in ihrer eigenen Lage den Inhalt und das Material ihrer revolutionären Tätigkeit.

Das Kommunistische Manifest bildete einen Wendepunkt in der Geschichte der sozialistischen Ideen. Fast ein Drittel des Textes ist der Auseinandersetzung mit verschiedenen Spielarten des „Sozialismus von oben“ gewidmet. Der utopische Sozialismus erfährt dabei noch die mildeste Kritik.

Aber Marx und Engels machen sehr deutlich, daß sie nicht in die Fußstapfen der Utopier treten wollen. Sie lehnen es bewußt ab, einen Organisationsplan für die sozialistische Gesellschaft zu entwerfen.

Das wird ihnen in den heutigen Sozialismus-Diskussionen manchmal zum Vorwurf gemacht, nach dem Motto: Vielleicht wäre es nicht zum Stalinismus gekommen, wenn Marx einen ordentlichen Plan für den Sozialismus hinterlassen hätten.

Hai Draper zweifelte schon vor 35 Jahren, ob diese Kritiker wissen, welch zentralen Punkt sie mit dieser Beschwerde berühren. Die Plänemacherei war ein Grundbaustein gerade jener Vorstellung des „Sozialismus von oben“, die Karl Marx zerstören wollte.

 

 

Pariser Kommune

Die Erfahrungen der lebendigen Arbeiterbewegung griff Marx allerdings begierig auf. In der Pariser Kommune von 1871 sah er ein Modell:

Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.

Aber damit ist noch kein Plan für die sozialistische Gesellschaft aufgestellt:

Die Arbeiterklasse verlangte keine Wunder von der Kommune. Sie hat keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. Sie weiß, daß, um ihre eigne Befreiung und mit ihr jene höhere Lebensform hervorzuarbeiten, der die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigne ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt, daß sie, die Arbeiterklasse, lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden. Sie hat keine Ideale zur verwirklichen, sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben.

 

 

Deutsche Arbeiterbewegung

Die neuen Ideen von Marx und Engels verbreiteten sich rasch. Aber wir dürfen deshalb nicht denken, daß die Vorstellung eines „Sozialismus von oben“ einfach verschwunden wäre.

Die beiden Denkrichtungen vermischten sich. Die deutsche Sozialdemokratie wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur größten und wichtigsten Arbeiterpartei der Welt heran. Sie brachte dabei verschiedene Varianten des „Sozialismus von oben“ hervor, obwohl sie sich in ihren Programmen zunehmend auf Karl Marx und seine Theorie berief.

Ferdinand Lassalle war einer der Begründer der deutschen Arbeiterbewegung und in der Anfangszeit wohl ihr erfolgreichster Organisator. Sein „Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein“ ging später in der Sozialdemokratie auf. Er sah den Weg zum Sozialismus im Aufbau staatlich geförderter Arbeiterkooperativen. Die preußische Monarchie und ihr Kanzler Bismarck sollten diese Staatshilfe leisten.

Lassalle erwartete allerdings nicht, daß der preußische Staat freiwillig den Weg für den Sozialismus ebnen würde. Die organisierte Arbeiterbewegung von unten spielte in seinem Plan eine wichtige Rolle: Sie sollte den nötigen Druck auf die Regierung ausüben.

Die heutige Partei-Geschichtsschreibung der SPD betont gerne, daß Lassalles Ideen für die Entwicklung der Partei größeren Einfluß gehabt hätten als die Schriften von Karl Marx. Da ist vielleicht etwas Wahres dran. Gerade in der Zeit, als die Sozialdemokratie einen scheinbar unaufhaltsamen Aufschwung erlebte – von 1890 bis 1914 – waren Theorie und Praxis der Partei oft himmelweit voneinander entfernt.

 

 

Sozialismus als „Naturnotwendigkeit“

In der Theorie war die Sozialdemokratie eine revolutionäre Kraft. Die kapitalistische Industrie dehnte sich immer weiter aus und erzeugte dabei eine ständige wachsende Arbeiterschaft. Die Arbeiter schlossen sich in Gewerkschaften zusammen, wurden Mitglieder oder wenigstens Wähler der SPD. Sie glaubten, wenn der Kapitalismus sich voll entfaltet habe, würde er an seinen inneren Widersprüchen zerbrechen. Die SPD würde die Macht übernehmen und eine neue, sozialistische Gesellschaft aufbauen.

Bewußtsein und Organisation der Lohnabhängigen erschienen so als zwangsläufige Folge der industriellen Entwicklung. Die Selbsttätigkeit der Arbeiterschaft zu fördern, schien deshalb überflüssig.

Die Partei – schreibt der Politikwissenschaftler Ossip K. Flechtheim – kämpfte vor allem für ein demokratisches – allgemeines – Wahlrecht und – zusammen mit den Gewerkschaften – für den Acht-Stunden-Tag und andere sozialpolitische Verbesserungen. Sie verzichtete aber weitgehend auf jedes aktiv-revolutionäre Eingreifen in die große Politik, das den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft zu sprengen gedroht hätte. Man glaubte umso mehr, den Anbruch des Sozialismus passiv abwarten zu können, da man davon überzeugt war, daß dieser mit dem im vermeidlichen Zusammenbruch des Kapitalismus naturnotwendig kommen würde.

„Naturnotwendigkeit“ war ein Lieblingsausdruck des Parteitheoretikers Karl Kautskv, der als Hüter des Erbes von Marx und Engels galt. Ganz in diesem Sinne war auch der berühmte Ausspruch des Parteivorsitzenden August Bebel, der den bürgerlichen Abgeordneten des Reichstags zurief: „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs’ noch Esel auf!“ Mit diesem Satz machte sich Erich Honecker wenige Wochen vor seinem Sturz unsterblich lächerlich.

 

 

Der Reformismus wird zur Theorie

Das Auseinanderklaffen von revolutionärer Theorie und reformistischer Praxis führte bald zur Entstehung einer Strömung, die in der marxistischen Theorie nur Ballast für die ungehinderte Entfaltung der reformistischen Praxis sah.

Eduard Bernstein war der prominenteste Vertreter dieser Richtung. Er glaubte nicht an den Zusammenbruch des Kapitalismus, sondern vielmehr an ein fortgesetztes Wachstum. Dementsprechend würde der Sozialismus auch nicht mit „Naturnotwendigkeit“ kommen, aber er könnte durch gesetzliche Reformen erreicht werden, mit denen die Macht der Kapitalisten schrittweise beschränkt würde.

Die Sozialdemokratie sollte also in erster Linie das Ziel verfolgen, die Mehrheit im Parlament zu erobern.

Bernstein hatte – zusammen mit zwei anderen führenden Parteimitgliedern – bereits 1879 im Züricher Exil einen Aufsatz verfaßt, der zur Änderung der sozialdemokratischen Strategie aufrief. Der deutsche Sozialismus habe „zuviel Wert auf die Gewinnung der Massen gelegt und dabei versäumt, in den sogenannten oberen Schichten der Gesellschaft energische Propaganda zu machen.“

Marx und Engels hatten in einem Brief an die Parteiführung scharf gegen diese Auffassung protestiert:

Wir haben bei der Gründung der Internationalen ausdrücklich den Schlachtruf formuliert. Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Wir können also nicht zusammen- gehn mit Leuten, die es offen aussprechen, daß die Arbeiter zu ungebildet sind, sich selbst zu befreien, und erst von oben herab befreit werden müssen durch philanthropische Groß- und Kleinbürger.

Bernsteins Theorie war im Grunde ein Rückgriff auf jene alten Ideen, die im Sozialismus die Verwirklichung einer erdachten gerechten Ordnung sahen. Wir haben solche Ideen weiter oben als elitär und bürokratisch bezeichnet. Das sind auch die herausragenden Merkmale des sozialdemokratischen Reformismus bis auf den heutigen Tag. „Wählt uns und laßt Euch in eine bessereZukunft führen!“ ist die Botschaft dieser Form des „Sozialismus von oben“.

 

 

Rosa Luxemburg: Sozialismus oder Barbarei

In der Auseinandersetzung zwischen dem verkürzten Marxismus Kautskys und dem „verbesserten“ Marxismus Bernsteins wurde die Idee, daß die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein muß und kann, fast vollständig verschüttet.

Lediglich Rosa Luxemburg hielt (mit wenigen anderen) die Fahne des Sozialismus von unten hoch. Sie verteidigte mit Kautsky gegen Bernstein die Auffassung, daß der Kapitalismus auf eine gewaltige Katastrophe zusteuerte, aber sie glaubte nicht, daß diese Krise automatisch zum Sozialismus führen mußte.

Die Katastrophe kam 1914 in Gestalt des Ersten Weltkrieges. Das hätte das Aus für den Kapitalismus sein können – wenn die millionenfache Anhängerschaft der Sozialdemokratie in Deutschland darauf vorbereitet gewesen wäre, die Initiative zum Sturz ihrer herrschenden Klasse zu ergreifen.

“Sozialismus oder Barbarei“ war die Alternative, der Ausgang stand nicht im vorhinein fest. Ohne die Selbsttätigkeit der Arbeiterschaft konnte es keinen Sozialismus geben.

Der Sozialismus – schrieb Rosa Luxemburg 1918 – wird nicht gemacht und kann nicht gemacht werden durch Dekrete, auch nicht von einer noch so ausgezeichneten sozialistischen Regierung. Der Sozialismus muß durch die Massen, durch jeden Proletarier gemacht werden.

Der Stalinismus war das genaue Gegenteil. Er bedeutete Entrechtung und Entmündigung der Massen. Es wäre – bei aller Kritik – sogar für die Utopisten des 19. Jahrhunderts oder für Kautsky und Bernstein eine ausgesprochene Beleidigung, wollte man sie zu Vorkämpfern des Stalinismus erklären.

Darum geht es auch nicht. Die Frage ist vielmehr, warum das stalinistische Regime von so vielen als eine Form des Sozialismus akzeptiert werden konnte.

 

 

Eine neue sozialistische Utopie?

Das ist nur verständlich, wenn man im Sozialismus nicht die Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse sieht, sondern ein Gesellschaftsmodell, das durchaus auf unterschiedliche Weise verwirklicht werden kann: Mit oder ohne Demokratie, so wie ein Apfelkuchen mit oder ohne Sahne doch ein Apfelkuchen bleibt.

Ich fürchte, daß einige Leser jetzt langsam ungeduldig werden. Alles schön und gut, aber wie wird er aussehen, der Sozialismus von unten? Wer garantiert uns, daß nicht wieder irgendein Zentralkomitee die Macht an sich reißt?

Sozialismus von unten ist kein Modell für eine zukünftige Gesellschaftsordnung. Wir brauchen auch kein solches Modell. 1989, als die Parteiherrschaft in der DDR gestürzt wurde, gab es eine Menge Intellektuelle, die einen erneuerten, demokratischen Sozialismus wollten.

Ein Arbeiter aus Leipzig hat ihnen auf einer großen der Montagsdemonstrationen eine deutliche Absage erteilt: „Keine Experimente mehr. Wir sind keine Versuchskaninchen.“

Utopien können im besten Fall eine Anregung sein, über die „Sachzwänge“ der bestehenden Gesellschaftsordnung hin auszudenken. Aber ein Sozialismus, der im Sinne Rosa Luxemburgs „von den Massen gemacht“ wird, der bedeutet, daß die arbeitenden Menschen ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen, kann und wird sich nicht an vorgefertigten Modellen orientieren.

Friedrich Engels hat einmal ein Büchlein unter dem Titel Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft geschrieben. Das wird ihm von den Anhängern der Utopie heute noch herzlich übel genommen. Der Begriff des „wissenschaftlichen Sozialismus“ ist in Verruf geraten, weil er zur Verteidigung des Stalinismus mißbraucht wurde. Aber in Wahrheit ist es die Vorstellung, ein utopisches Modell umzusetzen, die notwendigerweise elitäre und bürokratische Züge trägt.

Der wissenschaftliche Sozialismus von Marx und Engels besteht im wesentlichen in der Erkenntnis, daß die Arbeiterklasse sich selbst befreien kann. Die grundlegende Voraussetzung des Sozialismus von unten ist die Seibsttätigkeit und Selbstorganisation der arbeitenden Menschen. Darin besteht die einzige Garantie gegen das Aufkommen von Machteliten und Bürokratie in der Arbeiterbewegung.

 


Zuletzt aktualisiert am 28.7.2001