Tony Cliff

 

Die wirtschaftlichen Wurzeln des Reformismus

(1957)


Zuerst veröffentlicht: Socialist Review, Juni 1957
Wiederveröffentlicht in Neither Wahshington nor Moscow, Bookmarks, London 1982, S.108-117
Übersetzung © 1999 Verein für Geschichte und Zeitgeschichte der Arbeiterbewegung (VGZA) e.V.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für REDS – Die Roten.


Wir leben in einer kritischen Periode für die Zivilisation. Während der letzten fünf Jahrzehnte hat die Menschheit unter zwei schrecklichen Kriegen gelitten und lebt jetzt im Schatten der totalen Vernichtung. Die heutige Generation hat die Massenarbeitslosigkeit und die Hunger, den Faschismus und die Gaskammer, barbarische Morde an Kolonialvölker in Kenia und Malaya, in Algerien und Korea miterlebt.

Aber inmitten dieser schrecklichen Erschütterungen zeigt die Arbeiterklasse in einer Reihe westlicher Länder – den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kanada, Norwegen, Schweden, Dänemark, Deutschland u.a. – ein hartnäckiges Festhalten am Reformismus, einen glauben an der Möglichkeit einer größeren Verbesserung der Bedingungen unter dem Kapitalismus und eine Ablehnung des revolutionären Umsturzes des Kapitalismus. Warum ist es so? Wieso gibt es die allgemeine politische Apathie und die Ablehnung der revolutionären Umwandlung der Gesellschaft, wo die Menschheit als Ganze im Griff von Kämpfen um Leben und Tod ist?

Nur wenn wir die richtige Antwort auf diese Frage finden, können wir eine weitere antworten: Wie lange kann der Reformismus die revolutionäre Hoffnungen der Arbeiterklasse beiseite schieben? Es kann kaum eine wichtigere Frage für Sozialisten im Westen geben, und daher für die weltweite sozialistische Bewegung. Der jetzige Artikel ist ein Versuch, etwas zur Klärung dieser Probleme beizutragen.

 

Die Theorie Lenins

Der wichtigste Marxist, der die Wurzeln des Reformismus definierte, war Lenin 1915 in einem Artikel mit dem Titel, Der Zusammenbruch der Internationale, erklärte Lenin den Reformismus oder den Opportunismus, um den von ihm gemünzten Begriff zu benutzen, folgendermaßen: „Die Periode des Imperialismus ... der Aristokratie und Bürokratie der Arbeiterklasse.“

Wie groß war dieser Teil der Arbeiterklasse, die diese „Stückchen der Beute“? Lenin sagt: „ ... diese Teile stellen eine winzig kleine Minderheit des Proletariats dar.“

In Einklang mit dieser Analyse definiert Lenin den Reformismus als „Die Unterstützung der Bourgeoisie durch einen Teil der Arbeiterklasse gegen die Masse des Proletariats“.

Die wirtschaftliche Grundlage der kleinen „Arbeiteraristokratie“ befindet sich laut Lenin im Imperialismus und seinen Superprofiten. Er schreibt in einem Vorwort vom 6. Juli 1920 für sein Buch, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, folgendes:

Es ist klar, daß man aus solchem gigantischen Extraprofit (denn diesen Profit streichen die Kapitalisten über den Profit hinaus ein, den sie aus den Arbeitern ihres „eigenen“ Landes herauspressen) die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiteraristokratie bestechen kann. Sie wird denn auch von den Kapitalisten der „fortgeschrittenen“ Länder bestochen – durch tausenderlei Methoden, direkte und indirekte, offene und versteckte.

Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der „Arbeiteraristokratie“, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie. Denn sie sind wirkliche Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung, Arbeiterkommis der Kapitalistenklasse (Labour lieutenants of the capitalist class), wirkliche Schrittmacher des Reformismus und Chauvinismus.

 

Schlußfolgerung kontra Tatsachen

Eine unvermeidliche Schlußfolgerung, die aus Lenins Analyse folgt, heißt, eine kleine dünne Schicht des Konservatismus verdecke die revolutionären Triebe der Masse der Arbeiter. Jeder Bruch durch diese Schicht würde eine tobende revolutionäre Lava enthüllen. Die Rolle der revolutionären Partei bestehe einfach darin, der Masse der Arbeiter zu zeigen, daß ihre Interessen durch die „winzig kleine Minderheit“ der „Arbeiteraristokratie“ verraten werden.

Diese Schlußfolgerung wird aber nicht von der Geschichte des Reformismus in Großbritannien, den USA und anderswo während der letzten fünfzig Jahre bestätigt: Seine Stabilität, seine Verbreitung durch die ganze Arbeiterklasse, die alle revolutionären Minderheiten frustriert und zum Teil isoliert, macht es überdeutlich klar, daß die gesellschaftlichen Wurzeln des Reformismus nicht in „einer winzig kleinen Minderheit des Proletariats und der arbeitenden Massen“ bestehe, wie Lenin argumentiert hat.

Wenn man zeigen kann, wo Lenins Analyse schief gegangen ist, wird es uns dabei helfen, die wirklichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und historischen Fundamente [Grundlagen] deutlicher zu sehen.

 

Wie man Krümel streut

Die erste Frage, die man stellen muß, wenn man Lenins Analyse in Angriff nehmen will, lautet: Wie haben die Superprofite von z.B. britischen Firmen in den Kolonien dazu geführt, daß man unter der „Arbeiteraristokratie“ in Großbritannien „Krümel streut“? Die Antwort dieser Frage widerlegt die gesamte Leninsche Analyse des Reformismus.

Um ein Beispiel zu nennen: Die Anglo-Iranian Oil Company hat seit Jahrzehnten prächtige Superprofite verdient. Wie führt das dazu, daß man unter der Arbeiteraristokratie Krümel streut? Zuallererst beschäftigt diese Firma nur eine kleine Zahl Arbeiter in Großbritannien. Und auch diese bekommen sicherlich keine höhere Löhne einfach deswegen, weil ihre Profitrate hoch ist. Kein Kapitalist sagt seinen Arbeitern: „Ich habe dieses Jahr hohe Profite verdient, also bin ich bereit euch höhere Löhne zu bezahlen.“

Der Imperialismus und der Export des Kapitals können natürlich eine große Auswirkung auf die Löhne im imperialistischen Land haben, indem sie Beschäftigung für viele Arbeiter erzeugen, die die Maschinen, Schiene, Lokomotive usw. produzieren, die den wirklichen Inhalt des exportierten Kapitals bilden. Dieser Einfluß auf dem Niveau der Beschäftigung wirkt offensichtlich auf das Lohnniveau im allgemeinen. Aber warum sollte sie nur eine Wirkung auf die Reallöhne einer „winzig kleinen Minderheit“ haben? Führen das Wachstum der Beschäftigungsmöglichkeiten sowie der Rückgang der Arbeitslosigkeit zum aufstieg einer kleinen „Arbeiteraristokratie“, während sie kaum eine Wirkung auf die Bedingungen der Masse der Arbeiterklasse haben? Tragen die Bedingungen der mehr oder weniger Vollbeschäftigung zu einer Steigerung der Unterschiede zwischen Facharbeitern und ungelernten Arbeitern bei? Überhaupt nicht.

Man könnte argumentieren, daß die hohen Superprofite der Kapitalisten aus ihren Investitionen in den Kolonien in einer anderen Weise zu einer Steigerung der Löhne führen: daß die Kapitalisten sich nicht so stark Arbeitsgesetzen zur Verteidigung der Bedingungen der Arbeiter entgegensetzen, wie sie es machen würden, falls Profite niedrig wären. Das stimmt. Aber man kann nicht sagen, daß diese Gesetze zu einer steigenden Differenzierung zwischen den verschiedenen Schichten der Arbeiterklasse führen.

 

 

Wir gehen gemeinsam auf

Nehmen wir die einfachen Beispiele wie das Verbot der Kinderarbeit oder die Beschränkungen der Frauenarbeit in bestimmten Industrien. Diese haben nicht eine größere Wirkung auf das Angebot und dadurch auf die Löhne im Arbeitsmarkt für Facharbeitskräfte als im Arbeitsmarkt für ungelernte Arbeitskräfte. Die Beschränkung des Arbeitstags hat auch nicht eine größere Wirkung auf den Arbeitsmarkt für Facharbeitskräfte. Eigentlich verkleinern alle Maßnahmen, die den Lebensstandard der Masse der angelernten und ungelernten Arbeiter erhöhen, die Unterschiede zwischen ihrem Lebensstandard und dem der Facharbeiter. Je höher der allgemeine Lebensstandard einschließlich dem Bildungsniveau, desto leichter es für ungelernte Arbeiter ist, eine Fertigkeit anzueignen. Die finanzielle Last einer Lehre wird leichter von besser gestellten Arbeitern getragen. Und je leichter es für Arbeiter wird, eine Fertigkeit zu lernen, desto kleiner die Lohndifferenzierung zwischen Facharbeitern und ungelernten Arbeitern.

Man könnte weiter argumentieren, der Imperialismus streue „Krümel“ durch die Tatsache, daß er Lebensmittel (und Rohstoffe) äußerst billig von den rückständigen Kolonialländern bekomme. Aber dieser Faktor hat eine Auswirkung auf den Lebensstandard nicht nur einer Minderheit Arbeiteraristokraten, sondern der gesamten Arbeiterklasse der industriellen Länder. Indem er den allgemeinen Lebensstandard erhöht, verkleinert er in diesem Maße Unterschiede zwischen Teilen genau dieser Arbeiterklasse.

Die Auswirkung der Gewerkschaften und der politischen Tätigkeit der Arbeiterbewegung ist im allgemeinen ähnlich. Je besser die allgemeinen Bedingungen der Arbeiter, desto kleiner die Lohndifferenzierung zwischen den Teilen der Arbeiterklasse. (Es gab nur teilweise eine entgegenwirkende Tendenz, als die Gewerkschaften nur aus Facharbeitern bestanden.)

Tatsächlich bezeugt alle historische Erfahrung dafür, daß je weniger die Rechte der Arbeiter, und je mehr sie unterdrückt waren, desto größer die Lohndifferenzierungen [Lohnunterschiede] zwischen Facharbeitern und ungelernten Arbeitern waren. Das wird deutlich durch folgende Tabelle gezeigt, die die Löhne von Facharbeitern und ungelernten Arbeitern zwischen den beiden Weltkriegen in einem wirtschaftlich fortgeschrittenen Land wie Großbritannien und einem rückständigen wie Rumänien vergleicht.

Löhne von Facharbeitern als Prozentsatz der Löhne der Ungelernten Arbeiter

Musterbilder

Schlosser
u. Drechsler

Eisengießer

Klempner

Elektriker

Zimmermann
u. Tischler

Maler

Großbritannien

131

127

130

147

152

147

146

Rumänien

200

210

252

300

182

223

275

(Clark: Conditions of Economic Progress, London 1950, S.460.)

Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: „ ... ein Bahnfahrer mit normaler Dienstlänge und Grad bekommt in Spanien 3,3-mal so viel Lohn als der ungelernte Arbeitskraft mit normaler Dienstlänge, in Neuseeland beträgt das Verhältnis nur 1:2.“ (ebenda, S.461.)

Man kann statistisch zeigen, daß im Laufe des letzten Hundert Jahre die Differenzierung innerhalb der Arbeiterklassen in Großbritannien (sowie in vielen anderen Industrieländern) kleiner geworden ist, und daß nicht bloß eine „winzig kleine Minderheit“, sondern die gesamte Arbeiterklasse vom wachsenden Lebensstandard profitiert hat. Um letzteren Punkt zu beweisen, bedarf es nur einen Vergleich zwischen den heutigen Bedingungen und den Bedingungen der Arbeiter wie sie von Engels 1845 in seinem Buch, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, beschrieben wurden.

 

Woher wir kamen

Hier ist seine Beschreibung der typischen Wohnungszustände:

In den Pfarreien St. John und St. Margaret in Westminster wohnten 1840 nach dem Journal der Statistischen Gesellschaft 5.366 Arbeiterfamilien in 5.294 „Wohnungen“ – wenn sie diesen Namen verdienen! –, Männer, Weiber und Kinder, ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht zusammengeworfen, zusammen 26.830 Menschen; und von der obigen Familienzahl hatten drei Viertel nur ein einziges Zimmer.

Aber bei alledem sind diejenigen noch glücklich, die die nur noch Obdach irgendeiner Art haben – glücklich gegen die ganz Obdachlosen. In London stehen jeden Morgen fünfzigtausend Menschen auf, ohne zu wissen, wo sie für die nächste Nacht ihr Haupt hinlegen sollen. Die glücklichsten dieser Zahl, denen es gelingt, am Abend einen oder ein paar Pence zu erübrigen, gehen in ein sogenanntes Logierhaus (lodging house), deren es in allen großen Städten eine Menge gibt und wo sie für ihr Geld eine Unterkunft finden. Aber welch ein Unterkommen! Das Haus ist von oben bis unten mit Betten mit Betten angefüllt, vier, fünf, sechs Betten in einer Stube, soviel ihrer hineingehen. In jedes Bett werden vier, fünf, sechs Menschen gestopft, ebenfalls soviel ihrer eingehen 6#8211; Kranke und Gesunde, Alte und Junge, Männer und Weiber, Trunkene und Nüchterne, wie es gerade kommt, alles bunt durcheinander. Da gibt es denn Streit, Schlägereien und Verwundungen – und wenn sich die Bettgenossen vertragen, so ist das noch schlimmer, es werden Diebstähle verabredet oder Dinge betrieben, deren Bestialität unsere menschlicher gewordenen Sprachen nicht in Worten wiedergeben wollen. Und diejenigen, die kein solches Nachtlager bezahlen können? Nun, die schlafen, wo sie Platz finden, in Passagen, Arkaden, in irgendeinem Winkel, wo die Polizei oder die Eigentümer sie ungestört schlafen lassen.

Gesundheit, Kleidung, Hygiene, Bildung waren alle vom gleichen Standard. Man braucht kaum weitere Beweise, daß die Bedingungen der Arbeiterklasse als Ganzes, und nicht nur die einer kleiner Minderheit, sich unter dem Kapitalismus während des letzten Jahrhunderts radikal verbessert haben.

 

Imperialismus und Reformismus

Wie gesehen, hat es eine enge Verbindung zwischen der imperialistischen Ausdehnung des Kapitalismus und dem Aufstieg des Reformismus gegeben.

 

 

Die Bumerang-Wirkung

Im Verlaufe der Zeit wandelt sich jedoch dieser Faktor in sein Gegenteil um: Einmal exportiert bremst das Kapital den Export von Waren aus dem „Mutterland“, nachdem die Kolonien damit anfangen, Profit daraus bzw. Zinsen dafür zu bezahlen. Um einen Profit von £ 10 Millionen an Großbritannien (für das in Indien investierte britische Kapital) zu bezahlen muß Indien weniger importieren, als es exportiert, und dadurch das benötigte Geld bis auf die Summe von £ 1o Millionen sparen. Mit anderen Worten: Wenn Kapital aus Großbritannien nach Indien exportiert wird, wird der Markt für britische Waren ausgedehnt; die Bezahlung der Zinsen und der Profite für das bestehende in Indien investierte Kapital beschränkt die Märkte für britische Waren.

Daher schließt das Bestehen von großen britischen Kapitalinvestitionen im Ausland Überproduktion und Massenarbeitslosigkeit in Großbritannien überhaupt nicht aus. Im Gegensatz zur Ansicht Lenins könnte der hohe Profit vom im Ausland investierten Kapital sehr wohl nicht eine Begleiterscheinung des kapitalistischen Wohlstands und Stabilisierung im imperialistischen Land sein, sondern ein Faktor bei der Massenarbeitslosigkeit und der Depression [dem wirtschaftlichen Abschwung].

Der Export des Kapitalüberschusses kann diese Schwierigkeiten unnötig machen und kann daher von großer Bedeutung für den gesamten kapitalistischen Wohlstand und dadurch für den Reformismus sein.

Der Kauf von billigen Rohstoffen und Nahrungsmitteln in den Kolonien, ermöglicht die Steigerung der Reallöhne in den Industrieländern ohne die Kürzung der Profitrate. Diese Lohnsteigerung bedeutete ausgedehnte Innenmärkte ohne eine Verminderung der Profitrate und -menge, d.h. ohne die Schwächung der Triebkraft der kapitalistischen Produktion.

Die Periode, während deren die kolonialen Agrarländer dazu dienen, die Märkte für die Industrieländer auszudehnen wird länger sein in Verhältnis zu (a) der Größe der Kolonialwelt im Vergleich mit der Produktivkraft der fortgeschrittenen Industrieländer, und (b) dem Ausmaß, in dem die Industrialisierung der ersteren vertagt wird.

 

Erworbenes Interesse am Nationalismus

Die nützliche Wirkungen des Imperialismus auf den kapitalistischen Wohlstand würde verschwinden, wenn es keine nationale Grenzen zwischen den imperialistischen Industrieländern und ihren Kolonien gäbe.

Großbritannien exportierte Waren und Kapital nach Indien und importierte billige Rohstoffe und Nahrungsmittel, aber es erlaubte nicht den Arbeitslosen Indiens – die durch den Einmarsch des britischen Kapitalismus vergrößert worden war – den Zutritt zum britischen Arbeitsmarkt. Wenn es nicht ein Hindernis gegen Masseneinwanderung aus Indien (ein finanzielles) gegeben hätte, wäre die Löhne in Großbritannien während des letzten Jahrhunderts gestiegen. Die Krise des Kapitalismus wäre tiefer und d immer tiefer geworden. Der Reformismus hätte nicht den revolutionären Chartismus ersetzen können.

Hier wieder zeigt sich deutlich die Schwäche der Leninschen Theorie der Arbeiteraristokratie. Laut Lenin ist der Reformismus eine Schöpfung der Periode, die er „das höchste Stadium des Kapitalismus“ nannte – der Periode des Exports von Kapital, das eine höhere Profitrate verdiene und ermögliche, daß Krümel aus diesem Profit in die Hände der „Arbeiteraristokratie“ fallen. Diese Periode des großen Kapitalexports fängt in Großbritannien während etwa des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts an.

 

Löhne steigen vor dem Imperium

Tatsache ist, daß ein riesiger Aufstieg der Löhne der Arbeiter lange vorher ereignete: 1890 waren die Reallöhne der Industriearbeiter in Großbritannien etwa 66 Prozent höher als 1850 (Layton u. Crowther, A Study of Prices). Der Grund dafür ist ganz offensichtlich: Der wichtigste Faktor bei der Verbesserung der Reallöhne in Großbritannien war die Ausdehnung der Arbeitsmöglichkeiten – die Ausdehnung der Produktion –, die sich auf einer Vergrößerung des Markts für Industriewaren stützte. Hand das ereignete sich lange vor der Periode des Kapitalexports.

Um es grob zusammenzufassen: Zwischen 1750 und 1850, als dir sich ausdehnende Ausstoß der britischen Industrie vom Ruin vielen britischen Handwerker und irischen Bauern begleitet wurde, gingen diese auf den britischen Arbeitsmarkt und hielten daher die Löhne sehr niedrig. Aber seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden britische Handwerke und nach den „Hungrigen Vierzigern“ die überflüssige landwirtschaftliche Bevölkerung Irlands entweder von der britischen Industrie aufgesaugt oder sie emigrierten. Ab diesem Zeitpunkt wurden eher die indischen Handwerker und Bauern von der Konkurrenz der britischen Industrie ruiniert – aber sie betraten nicht den britischen Arbeitsmarkt, um Löhne zu drücken.

Das der Wendepunkt im Trend der britischen Löhne lange vor ende des 19. Jahrhunderts stattfand, und eigentlich zum Zeitpunkt, als die einheimischen arbeitslosen Handwerker und Bauern schon in die Industrie aufgesaugt worden, während die Arbeitslosen der Kolonien vor dem Zutritt zum britischen Arbeitsmarkt verhindert wurden, d.h. während der 30er und 50er Jahre des 19. Jahrhunderts, wird aus dem folgenden interessanten Tabelle deutlich:

Reallöhne, 1759 bis 1903
(1900 : 100)

Jahrzehnte u.
Konjunkturzyklen

Index

1759-69

62

1769-78

60

1779-88

60

1789-98

58

1799-1808

50

1809-18

43

1819-28

47

1820-26

47

1827-32

48

1833-42

51

1843-49

53

1849-58

57

1859-68

63

1869-79

74

1880-86

80

1887-95

91

1895-1903

99

(J. Kuczynski, A Short History of Labour Conditions in Great Britain 1750 to the Present Day, London 1947, S.54.)

 

 

Die ökonomische Basis der Rechten

Diese Bürokratie zielt auf einen florierenden Kapitalismus, nicht auf seinen Sturz. Sie will, daß die Arbeiterorganisation nicht eine revolutionäre Kraft bilden, sondern reformistische Pressure-groups. Diese Bürokratie funktioniert zum großen Teil, um Disziplin im Interesse des Kapitalismus auf die Arbeiterklasse aufzudrängen. Sie ist eine größere konservative Kraft im modernen Kapitalismus.

Aber die Bürokratien der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie sind langfristig beim Aufdrängen der Disziplin nur insofern wirksam, daß die wirtschaftliche Bedingungen der Arbeiter erträglich sind. Letzten Endes liegt die Basis des Reformismus im kapitalistischen Wohlstand.

 

Sozialdemokratischer Imperialismus

Der Reformismus widerspiegelt die unmittelbaren, tagtäglichen, engen, nationalen Interessen der gesamten Arbeiterklasse im Westen unter Bedingungen des allgemeinen ökonomischen Wohlstands. Diese unmittelbaren Interessen stehen im Widerspruch mit den historischen und internationalen Interessen der Arbeiterklasse, des Sozialismus.

Da der kapitalistische Wohlstand zusammen mit den verhältnismäßig günstigen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt sich durch die imperialistische Ausdehnung, durch die Ausbeutung der Kolonien helfen läßt, ist der Reformismus in hohem Maße der Ausdruck der imperialistischen Herrschaft über die rückständigen Länder.

Da jedoch der Wohlstand mit mehr oder weniger voller Beschäftigung und verhältnismäßig erträglichen Löhnen mindestens kurzfristig durch die Bedingungen der permanenten Kriegswirtschaft verursacht werden können (s. meinen Artikel „Perspektiven für die permanente Kriegswirtschaft“ in der Socialist Review, Mai 1957), hat der Reformismus auch Wurzeln da, wo der imperialistische Kriegswirtschaft die imperialistische Ausdehnung ersetzt.

 

Die Kriegswirtschaft

Während der 1930er Jahre schien es angesichts der tiefen weltweiten Wirtschaftskrise, der Arbeitslosigkeit und des Faschismus, als ob die Grundlagen des Reformismus für immer unterminiert worden waren. Als er in dieser Periode schrieb und über die Zukunft prognostizierte, schrieb Trotzki: „in der Epoche des faulenden Kapitalismus [kann es] von systematische Sozialreformen und von einer Hebung des Lebensstandards der Massen überhaupt keine Rede mehr sein ... [und] jede ernste Forderung des Proletariats und sogar jede fortschrittliche Forderung des Kleinbürgertums [führt] unausweichlich über die Grenzen des kapitalistischen Eigentums und des bürgerlichen Staates hinaus.“ (Der Todeskampf des Kapitalismus)

Wenn ernsthafte Reformen unter dem Kapitalismus nicht mehr möglich sind, dann läutet das Ende der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie ein und das Ende des Reformismus steht vor.

Der Krieg würde, laut Trotzki, als Verschärfer der Widersprüche des Kapitalismus zu einer Beschleunigung dir Prozesse führen.

Trotzkis Prognose wurde jedoch vom Leben widerlegt. Der Krieg und die permanente Kriegswirtschaft gaben dem Kapitalismus und daher dem Reformismus in einem großen Teil der westlichen kapitalistischen Ländern Auftrieb.

An sich zeigt die zunehmende Abhängigkeit des Reformismus von der permanenten Kriegswirtschaft seinen Bankrott und die Notwendigkeit des revolutionären Sturzes des Kapitalismus mit seinen Zwillingskindern – der permanenten Kriegswirtschaft und dem Reformismus. Dieser bankrott ist jedoch nicht jedem Arbeiter durch seine tägliche Erfahrung offensichtlich. Wie ich in meinem Artikel in der Mai-Ausgabe der Socialist Review zu zeigen versuchte, wird es einige Jahre dauern, bevor die permanente Kriegswirtschaft zu einer größeren Verschlechterung der Bedingungen der Arbeiter und daher zu einem Absterben der Wurzeln des Reformismus führt.

So daß das passiert, ist es selbstverständlich nicht notwendig, daß der Lebensstandard der Arbeiter bis aufs Knochen gekürzt werden sollte. Ein amerikanischer Arbeiter würde sehr stark auf einer Bedrohung seines Autos und seines Fernsehers reagieren, auch wenn Arbeiter anderswo diese Sachen als unvorstellbare Luxusgegenstände betrachten. Mit dem Essen kommt das Appetit. Wenn jedoch der Kapitalismus so weit verfällt, daß jede ernsthafte Forderung der Arbeiterklasse über seine Grenzen hinaus reicht, wird das Ende Des Reformismus einläuten.

Ein realistisches Verständnis der Grundlagen des Reformismus, seiner Stärke und Tiefe sowie der Faktoren, die ihn unterminieren, ist für ein Verständnis der Zukunft der sozialistischen Bewegung notwendig. Wie Engels es vor mehr als Hundert Jahren ausdrückte: „Die Lage der arbeitenden Klasse ist der tatsächliche Boden und Ausgangspunkt aller sozialen Bewegungen der Gegenwart ... um den sozialistischen Theorien ... einen festen Boden zu geben ..., ist die Erkenntnis der proletarischen Zustände deshalb eine unumgängliche Notwendigkeit.“ (Vorwort zu Die Lage der arbeitenden Klasse in England)

Auch wenn die ökonomischen Wurzeln des Reformismus aussterben, wird selbstverständlich der Reformismus nicht von sich aus sterben. Viele Vorstellungen bestehen lange nach dem Verschwinden der materiellen Bedingungen fort, die sie erzeugten. Der Sturz des Reformismus wird durch bewußte revolutionäre Tätigkeit, durch die Propaganda und Agitation von konsequenten Sozialisten verursacht werden Ihre Arbeit wird durch eine zukünftige Verschärfung der Widersprüche des Kapitalismus erleichtert.

Jeder Kampf der Arbeiterklasse, egal wie beschränkt er sein sollte, unterminiert den Reformismus, indem er ihr Selbstbewußtsein und Bildung steigert. „In jedem Streik sieht man den Hydrakopf der Revolution.“ Die Hauptaufgabe von wirklichen, konsequenten Sozialisten besteht darin, die aus den tagtäglichen Kämpfen gezogenen Lehren zu vereinigen und zu verallgemeinern. So können sie den Reformismus bekämpfen.

 


Zuletzt aktualisiert am 14.7.2001