Horst Haenisch

 

Bürgerliche Herrschaft

(1985)


Aus Klassenkampf Nr.30, Juni 1985.
Transkription u. HTML-Markierung: Michael Gavin für REDS – Die Roten.


Der Rummel um den 8. Mai anläßlich der militärischen Kapitulation des Faschismus vor 40 Jahren, die Proklamationen und Beteuerungen bürgerlicher Politiker, ihre Warnungen, es dürfe nie wieder ... haben vor allem die Fragen verdunkelt, was denn bürgerliche Demokratie und Faschismus voneinander unterscheiden, was sie gemeinsam haben, In welcher Beziehung sie zueinander stehen.

So wie es bei bürgerlichen Politikern und konservativen Wissenschaftlern die Neigung gibt, den Faschismus als bloßen Unfall der Geschichte abzutun, dem man durch Stärkung demokratischer Institutionen und des demokratischen Bewußtsein. vorbeugen könne, so gibt es auf der anderen Seite unter den Grünen und auf der Unken, die Neigung, die vom bürgerlich-demokratischen Staat ausgeübte Unterdrückung als Tendenz zum Faschismus, schleichende Faschisierung oder ähnliches zu brandmarken, und so entweder jeden Unterschied zwischen bürgerlicher Demokratie und Faschismus zu verwischen oder der Illusion einer repressionsfreien Demokratie nachzulaufen.

Die Beschäftigung mit den Methoden und Formen bürgerlicher Herrschaft ist noch unter einem anderen Blickwinkel sehr aktuell: seitdem sich ein großer Teil der ehemals revolutionären, sich auf den Marxismus berufenden Linken in die Grünen aufgelöst hat oder sie unterstützt, feiern demokratische Illusionen in die Parlamente und in Wahlen Auferstehung. Dagegen soll hier an die wirkliche Funktionsweise der Demokratie erinnert werden.

In dieser Nummer des Klassenkampf beginnen wir mit einer Betrachtung des bürgerlichen Staates, die im nächsten Klassenkampf mit einer Untersuchung über den Faschismus fortgesetzt wird.

 

 

3 Thesen über den bürgerlichen Staat

1. These: die Staatsgewalt

In allen Gesellschaften, die soziale Ungleichheit und Ausbeutung kennen, gibt es auch Unterdrückung. Jedoch hat der Kapitalismus die Unterdrückung mehr als dies in jeder anderen früheren Gesellschaft der Fall war, auf speziell dafür geschaffene Einrichtungen verlagert, auf Armee, Polizei, Gerichte, Zensurbehörden, Schulen, Gefängnisse, Heime ...

Während z.B. im Feudalismus der Feudalherr oberster Gerichtsherr, Armee- und Polizeichef, oberster Richter in wissenschaftlichen und ideologischen Fragen usw. war, nimmt der Fabrikherr diese Herrschaft nicht persönlich wahr. Der Grund ist die ökonomische Konkurrenz der Kapitalisten untereinander, die sie zwingt, die Ausübung ihrer Herrschaft zu versachlichen, zu entpersönlichen, allgemeinen Regeln zu unterwerfen und Willkür zu vermeiden.

Eine der Folgen dieser Verselbständigung und Versachlichung des Staatsapparates ist die Illusion, der Staat sei gegenüber den Klassen der kapitalistischen Gesellschaft neutral und könne gar ein Hebel zur Veränderung oder Überwindung des Kapitalismus sein. Diese Illusion stellt sich umso leichter ein, wenn die Staatsform eine demokratische ist und der Volkswille sich – scheinbar – Einfluß auf den Staat verschaffen kann. Verstärkt wird diese Illusion noch dadurch, daß der Staat nicht bloß organisatorisch von der kapitalbesitzenden Klasse abgelöst ist, sondern darüber hinaus die Ziele des Staatshandelns „relativ unabhängig“ (s. These 2) von den Interessen der Bourgeoisie aufgestellt werden.

Eine Reihe von Vorkehrungen sorgen allerdings dafür, daß dieser Fall, daß der bürgerliche Staat sich gegen den Kapitalismus verwenden ließe, nicht eintreten kann. Die ökonomisch dominierende Klasse ist auch die politisch herrschende. Welches euch die Staatsform, im Kapitalismus herrscht die Bourgeoisie:

1. Zunächst trennt die bürgerliche Gesellschaft zwischen Besitz- und Stimmbürger. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln bedeutet, daß das Kapital allein dem Willen des Kapitalisten unterliegt. Daraus folgt, daß jedes Staatshandeln an den privaten Entscheidungen der Kapitalisten seine Grenze findet. Ein Beispiel sind die Verordnungen, die die vorletzte SPD-Regierung zur Verbesserung der Berufsausbildung erließ, etwa Eignungsnachweise für Ausbilder und Betriebe. Prompt verringerten die Kapitalisten die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze, sei es, weil sie die Maßnahmen der SPD aus politischen Gründen boykottieren wollten, sei es, weil die von den Verordnungen verursachten Kosten die Lehrlingsausbildung unrentabel machten.

2. Auch die eigentliche Sphäre des „Politischen“ ist nur in einem kleinen Bereich demokratischen Einflüssen zugänglich. Verwaltung, öffentliche Erziehung, Justiz, Polizei, Armee, Gefängnisse, der ganze staatliche Gewaltapparat, ist von der Demokratie ausgenommen. Diese sogenannte Gewaltenteilung wird mit gutem Grund von der herrschenden Klasse bitter ernst genommen: alle Beamte müssen sie in der BRD durch einen Eid anerkennen und beschützen . Kein Wunder, denn diese nicht der Demokratie unterliegenden Einrichtungen gewährleisten die Kontinuität des staatlichen Handelns, welches so weitgehend unbeeinflußt vom Ausgang von Wahlen bleiben kann. In allen parlamentarischen Demokratien liegt die entscheidende Initiative der Gesetzgebung nicht beim Parlament, sondern bei den Ministerialbeamten und den verschiedenen Unternehmerverbänden. Sie formulieren – häufig gemeinsam – die meisten Gesetzesvorlagen.

Gelegentlich bilden die militärische und die Verwaltungsspitze zusammen mit wichtigen Wirtschaftsführern darüberhinaus eigene Entscheidungszentren, die politische Projekte über Jahre und ganz unabhängig von wechselnden Regierungen verfolgen. Die Atompolitik in Frankreich, Großbritannien und der BRD bieten Beispiele für diese Form des Staats im Staat.

Die obersten Richter, Staatssekretäre und Spitzenbeamten, die obersten Polizeiführer und die Armeegenerale entstammen der kapitalbesitzenden Bourgeoisie oder sind mit ihr durch Verschwägerung und Aufstieg verbunden. Viele dieser Staatsdiener nehmen nach ihrem Staatsamt Führungsaufgaben in der Wirtschaft wahr oder kommen aus Führungspositionen in der Industrie. In Frankreich, Großbritannien und den USA spielen spezielle Eliteschulen und -universitäten eine große Rolle bei der Auswahl der Staatsdiener, im Deutschen Reich spielte die Offizierslaufbahn eine ähnliche Rolle.

3. Das Parlament wird gewählt, aber in den repräsentativen Demokratien repräsentiert das Parlament das Volk, d.h. es tritt politisch an die Stelle des Volkes. Mit dem Satz im Grundgesetz der BRD, wonach alle Macht vom Volk „ausgeht“, ist gemeint, daß das Volk mit dem Akt der Wahl auf alle eigene Machtausübung zu verzichten hat. Die Abgeordneten sind demzufolge von ihren Wählern unabhängig, weder abwählbar, noch an Aufträge gebunden, noch ihren Wählern verantwortlich.

Dies erleichtert z.B. Regierungswechsel ganz ungemein. Jüngstes Beispiel ist der Sturz der Schmidt/Genscher Regierung: der SPD drohten wegen ihrer arbeiterfeindlichen Sozial- und Wirtschaftspolitik die Wähler wegzulaufen; die Friedensbewegung gegen die sog. Nachrüstung sprach darüberhinaus die sozialdemokratischen Wähler an. Da war die Versuchung für viele Sozialdemokraten groß, sich im Parlament gegen die Nachrüstung auszusprechen. Das hätte zwar an der Nachrüstung nichts geändert, weil diese schwerwiegende Frage gar nicht vom Parlament zu entscheiden gewesen wäre, sondern sicherheitshalber schon längst von der Regierung mit den USA vereinbart war. Es hätte aber dem schönen demokratischen Schein einen schweren Schlag versetzt und die Friedensbewegung politisch gestärkt, wenn die führende Regierungspartei gegen eine Regierungsmaßnahme gestimmt hätte. Deshalb mußte die SPD/FDP Regierung vor der Behandlung der Nachrüstung im Parlament gestürzt werden. Die nur ihrem Gewissen verantwortlichen FDP-Parlamentarier bildeten mit der CDU/CSU zusammen eine neue Regierung. Die SPD konnte als Opposition ohne eine Staats- und Natokrise hervorzurufen, gefahr- und folgenlos gegen die Nachrüstung stimmen.

Gelegentlich aber wird die Bourgeoisie Regierungen und Parlamentsmehrheiten, die keine Stabilität garantieren und keinen wirksamen Damm gegen soziale Unruhen errichten können, nicht so einfach los. Das ist die Stunde des staatlichen Gewaltapparats, der das Parlament auseinanderjagt, die politischen Freiheitsrechte kassiert und eine blutige Militärdiktatur errichtet – Chile, Türkei ...

4. Wenn vom Gewissen die Rede ist, dann ist das Schmiergeld nie weit. Die Parteien sind, je weniger Mitglieder sie haben, desto mehr von Spenden abhängig. Die Flick-Affäre hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt: die Millionäre bestimmen mit Schmiergeldern darüber, wer Parteivorsitzender oder Kanzlerkandidat wird, welche Gesetzesvorlagen eingebracht werden usw. Das alles ist nicht strafbar, sondern ehrenwerte demokratische Praxis. Strafbar war allein, daß die Schmiergelder durch Steuerbetrug in erheblichem Umfang aus dem Steuertopf an die Spender zurückerstattet wurden.

Das ist in allen Demokratien das gleiche. In den USA z.B. werden Präsidentschaftskandidaten, zukünftige Minister und Abgeordnete ganz unverblümt von bestimmten Kapitalistengruppen gesponsort. Da die Werbung für Parteien und Kandidaten immer weniger im persönlichen Gespräch durch die Mitglieder vor sich geht, sondern durch raffinierte Reklamefeldzüge, insbesondere unter Einsatz des Fernsehens, findet das große Geld hier reiche Entfaltungsmöglichkeiten.

 

 

2. These: der Staat als relativ unabhängiger ideeller Gesamtkapitalist

Der Kapitalismus ist eine äußerst dynamische Wirtschaftsform; er wälzt mit großer Geschwindigkeit seine Produktionstechniken um und verschlingt immer wieder Kapitalisten, die mit diesen Umwälzungen nicht Schritt halten. Schon früh erschien deshalb der Kapitalismus bürgerlichen Theoretikern – etwa dem Engländer Hobbes – als Ungeheuer, das durch einen starken Staat gezähmt werden muß. Zu seinen Aufgaben gehört es, die allgemeinen Regeln des Verkehrs zwischen den Kapitalisten – den gerechten Tausch – zu überwachen. Dazu gehört auch der gerechte Lohn, d.h. die Bewahrung der Arbeiterklasse vor Überausbeutung, die die physische Existenz des Proletariats vernichtet ebenso wie z.B. der Umweltschutz zur Erhaltung der natürlichen Produktionsvoraussetzungen. Ironischerweise helfen Gewerkschaften mit ihrem Kampf für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen ebenso wie die Umweltschutzbewegung dem Staat bei der Lösung seiner Aufgaben, die Bedingungen kapitalistischer Produktion bereitzustellen.

In dem Maße wie der Fortschritt an Produktionstechnologien an riesige Forschungs- und Entwicklungsvorhaben gebunden ist, schwindet bei den Kapitalisten die Bereitschaft, die entsprechenden Risiken einzugehen. Der Staat übernimmt durch seine Forschungs- und Entwicklungspolitik diese Risiken. Schließlich wird der Staat aus ähnlichen Gründen selbst als Kapitalist tätig, um die Bereitstellung wichtiger Waren und Leistungen dann zu garantieren, wenn diese Bereitstellung auf pnvatkapitalistischer Grundlage nicht gewährleistet erscheint: Straßenbau, Eisenbahnen, Energieversorgung usw.

Damit der Staat das übergreifende Gesamtinteresse des Kapitals wahrnehmen kann, muß er sich eine gewisse Unabhängigkeit nicht nur von einzelnen Kapitalisten, sondern auch von der ganzen kapitalistischen Klasse bewahren. Die Forschungspolitik ist ein Beispiel für die Bevorzugung einzelner Kapitalisten oder Kapitalgruppen. Die Atompolitik der BRD war in ihrem Beginn ein Beispiel dafür, wie sich der Staat über die Interessen der maßgebenden Industrien hinwegsetzte, in diesem Fall der Energiewirtschaft, der Stahlindustrie und dem Kraftwerksbau und die Entwicklung und Errichtung von AKWs durchsetzte. Schließlich mußten sich die Widersacher der Atompolitik von deren Vorzügen überzeugen lassen.

Die relative Unabhängigkeit des Staates gegenüber dem Kapital resultiert aus den Möglichkeiten der Behinderung oder Förderung bestimmter Wirtschaftstätigkeiten und aus den staatlichen Möglichkeiten, die Rahmenbedingungen der Produktion zu beeinflussen. Relativ ist diese Unabhängigkeit insofern als die Bourgeoisie die Revision von Maßnahmen verlangen und mit der Zeit auch durchsetzen wird, die sich von ihrem Standpunkt aus nicht bewähren. Die Mittel, die der Bourgeoisie dafür zur Verfügung stehen, wurden in der ersten These aufgezählt. Erinnern wir uns daran, daß die „Wende“ zur CDU/CSU-FDP Regierung durch das Zurückhalten der Schmiergelder an die FDP sehr drastisch herbeigeführt wurde.

Es gibt zwar keine Gefahr, daß staatliches Handeln zu schroff oder zu lange gegen die Ziele der Bourgeoisie verstößt, dennoch birgt die relative Unabhängigkeit des Staates gewisse Risiken. Unter demokratischen Verhältnissen leben Berufspolitiker davon, gewählt zu werden. Die Versuchung tritt auf, den Wählermassen Versprechungen zu machen und sie auch halten zu wollen. Nicht zuletzt bürgerliche Berufspolitiker, die ihre Wählerbasis in der Arbeiterschaft haben, sind für den Glauben anfällig, sie könnten als ideelle Gesamtkapitalisten Arbeit und Kapital gleichermaßen bedienen. Ein Beispiel ist die – gescheiterte – sozialdemokratische Bildungspolitik der 70er Jahre. SPD-Politiker und liberale und sozialdemokratische Wissenschaftler behaupteten: da die moderne kapitalistische Produktionsweise immer komplizierter wird, werden von den Beschäftigten immer höhere Qualifikationen verlangt; eine Nation, die nicht in Bildung investiere, werde im Konkurrenzkampf nicht standhalten können; wenn die Unternehmer, von ihren kurzfristigen Gewinninteressen geblendet, dies nicht erkennen, dann muß man sie zu ihrem Glück durch eine Bildungsreform zwingen, die dann auch gegen den Widerstand der Kapitalisten eingeleitet wurde.

Politische Wunschträume der SPD hatten eine Theorie hervorgebracht, die ganz falsch war, weil sie übersah, daß zwischen der immer komplizierter werdenden Produktionstechnik und den Arbeitsanforderungen die Arbeitsteilung steht, die darüber entscheidet, wie das für die Produktion nötige Wissen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten auf die Arbeitskräfte verteilt werden. Komplizierte Technik kann durchaus mit geringeren Anforderungen an die Masse der Beschäftigten einhergehen und tut es in der Regel auch.

Die Reform, am krassesten und schnellsten die Reform der beruflichen Bildung, scheiterte am anhaltenden und heftigen Widerstand des Kapitals. Sie wurde schließlich beim Sturz der Regierung Brandt, die ja bekanntlich auch nicht durch Wahlen verursacht wurde, sang- und klanglos begraben. Das Beispiel zeigt, daß die relative Unabhängigkeit des Staates Reibungs- und Kapitalverluste einschließen kann; es belegt den Spielraum, aber auch die Grenzen der „relativen Unabhängigkeit“.

Fast ohne Ausnahme haben die Organisationen der Linken in diesem Fall die relative Unabhängigkeit des Staates nicht verstanden und völlig falsche politische Schlüsse gezogen. Insbesondere die damaligen maoistischen Organisationen vollzogen gewissermaßen den Umkehrschluß von SPD und DKP: da der bürgerliche Staat sich um eine Verbesserung der beruflichen Bildung bemüht, kann diese nur etwas Schlechtes sein und muß bekämpft werden; nicht verbesserte Ausbildung ohne die Knute des betrieblichen Ausbilders, sondern die Unterdrückung und Ausbeutung im Betrieb schaffe Klassenbewußtsein, deshalb sei daran gegen alle Reformen festzuhalten.

Die bürgerliche Demokratie mit freier, d.h. vom großen Geld abhängiger Meinungsäußerung, konkurrierenden, von „Spenden“ abhängigen Parteien, Wahlen und Regierungswechseln bedeutet die beste Gewähr sowohl für die relative Unabhängigkeit des Staates, wie auch für den Einfluß der Bourgeoisie auf das staatliche Handeln. Diktatorische bürgerliche Regime, vom Standpunkt der Bourgeoisie unvermeidlich, wenn es gilt, das Proletariat am Kampf gegen die kapitalistischen Verhältnisse zu hindern, haben den Nachteil, auch den freien Meinungskampf der Bourgeoisie und ihren Einfluß auf das Staatshandeln einzuschränken.

 

 

3. These: Der Imperialistische Nationalstaat

Von Marx und Engels wurde die Untersuchung über den Staat als Gewaltapparat im Klassenkampf und über die relative Unabhängigkeit des bürgerlichen Staatsapparates weit entwickelt, und viele Marxisten denken, die Marxistische Staatstheorie erschöpfe sich in diesen beiden Elementen. Dies trifft nicht zu. Marx und Engels haben bloß andere Elemente ihrer Staatstheorie nicht zu ähnlicher Reife entwickelt.

Wir haben bisher vom kapitalistischen Staat in der Einzahl gesprochen, was solange möglich ist, wie man die Untersuchung auf die Funktion des staatlichen Gewaltapparates im Klassenkampf und die Bedeutung der relativen Unabhängigkeit des Staates beschränkt.

Jedoch enthält diese Betrachtungsweise einen grundsätzlichen Fehler. Es gibt nicht den kapitalistischen Staat in der Einzahl, sondern nur die kapitalistischen Staaten in ihrer Beziehung aufeinander, genausowenig wie es den Kapitalisten gibt, vielmehr dieser erst durch sein Konkurrenzverhältnis zu anderen Kapitalisten zu begreifen ist; Das Betätigungsfeld der Bourgeoisie ist der Weltmarkt. Sie treibt Welthandel und bildet multinationale Konzerne. Insofern ist die Bourgeoisie eine Weltklasse. Andererseits aber organisiert sie sich in Nationalstaaten. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Die Erklärung hängt damit zusammen, daß der Staat ein immer wichtigeres Instrument wird, die Konkurrenz der Kapitalisten auf dem Weltmarkt auszutragen.

Es wurde bereits erwähnt, daß der Staat ökonomische Aufgaben übernimmt, indem er die allgemeinen Produktionsbedingungen entwickelt. Immer geht es dabei um die Entwicklung und Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit des nationalen Kapitals. Davon abgesehen, hat die Tatsache der Nationalstaaten weitere enorme ökonomische Konsequenzen.

Der Nationalstaat wird definiert durch Grenzen, innerhalb derer der Staat souverän ist. Daraus folgen Armee, Zölle, nationale Währung, nationale Wirtschafts-, Währungs- und Zinspolitik. Die ökonomische Bedeutung von Zöllen, Subventionen und nationaler Wirtschaftsförderung, die das nationale Kapital vor Konkurrenz schützen, ist unmittelbar einsichtig. Im Gegensatz zu allen Proklamationen greifen diese Methoden des Handelskrieges immer weite r, um sich. Die Formulierung von Industrienormen z.B. ist ein immer wichtigeres Mittel des Handelskrieges geworden. Die Auseinandersetzung in der BRD um das Katalysatorauto gehört hierher. Warum hat sich die deutsche Automobilindustrie, die seit langem in der Lage ist Katalysatorautos herzustellen, der Einführung des Katalysatorautos in der BRD widersetzt und dem CSU-Innenminister Zimmermann eine Schlappe bereitet? Die Einführung des Katalysatorautos in Deutschland hätte bedeutet, daß die konkurrierenden europäischen Automobilhersteller für den deutschen Exportmarkt hätten spezielle Katalysatorfahrzeuge herstellen müssen, die sie wegen der geringen Stückzahlen nur hätten erheblich teurer anbieten können. Die deutschen Automobilhersteller befürchteten, daß die Regierungen Frankreichs, Italiens, Englands usw. ihrerseits Vorschriften erlassen, die Konkurrenznachteile für die deutsche Automobilindustrie mit sich bringen. Diese Gefahr wurde von der extrem exportabhängigen deutschen Automobilindustrie viel höher eingeschätzt, als der Konkurrenzvorteil, den ihr das Katalysatorauto auf dem deutschen Markt gebracht hätte.

Die bloße Tatsache nationaler Währungen hat enorme ökonomische Auswirkungen. Treten Kapitalisten verschiedener Nationalstaaten in Handelsbeziehungen, so müssen sie wechselseitig die verschiedenen Währungen auf dem Devisenmarkt kaufen. Liegt in einem Land die Arbeitsproduktivität höher, so steigt die weltweite Nachfrage nach dessen billigeren Waren. Mit ihr steigt aber auch die Nachfrage nach der Währung dieses Landes auf dem Devisenmarkt, d.h. die Währung wird teurer und damit auch die Produkte.

Soweit dieser Mechanismus unbeeinflußt verläuft, bewirkt er, daß die Verbilligung der Waren des Landes höherer Produktivität, teilweise rückgängig gemacht wird. Der Druck der Konkurrenz des entwickelten auf das weniger entwickelte Land wird abgeschwächt. Die nationale Währung schützt vor ausländischer Konkurrenz. Andererseits wird es für die durch die Nachfrage auf dem Devisenmarkt höher bewertete Währung interessant, ins Ausland zu gehen, wo entsprechend der Oberbewertung mehr Arbeitskraft gekauft werden kann als im Inland.

Hinzu kommt, daß dieser Prozeß nicht rein abläuft, sondern zusätzlich durch das Instrumentarium des Nationalstaats modifiziert wird. Unter den dargestellten Voraussetzungen hätte der Dollarkurs nie die aktuelle Höhe erreichen dürfen. Das riesige Handelsbilanzdefizit von 123 Milliarden Dollar allein im Jahre 1984 hätte eine Abnahme der internationalen Nachfrage nach Dollars bedeuten müssen und zu einem Sinken des Dollarkurses führen müssen. Jedoch bewirkten die von der US-Regierung hoch gehaltenen Zinsen, daß weiter Geld in die USA strömt, die Nachfrage nach Dollars nicht abnimmt und der Dollarkurs hoch bleibt Die Hochzinspolitik der US-Regierung dient dazu, den konkurrierenden kapitalistischen Ländern Investitionskapital zu entziehen und die Wirtschafts- und Technologieförderung sowie den Rüstungsboom in den USA zu finanzieren.

Das Ende des zweiten Weltkrieges brachte bezeichnenderweise ein Währungsabkommen, das die Währung der eigentlichen Siegermacht USA zur Leitwährung machte, in der alle Handelsbeziehungen abgewickelt werden und das eine Festlegung des Dollarkurses vornahm, die die weltweite Expansion des Dollar begünstigte.

Die ökonomische Bedeutung des Nationalstaates hat in den letzten hundert Jahren erheblich zugenommen. Lenin und andere bolschewistische Theoretiker waren die ersten, die auf den Zusammenhang zwischen der Monopolisierung und der zunehmenden Verbindung von nationalem Kapital und Staat hinwiesen. Anstelle einer Konkurrenz zwischen unbewaffneten Kapitalisten herrscht immer stärker eine Konkurrenz zwischen bewaffneten Nationalstaaten auf dem Weltmarkt. Unmittelbares Resultat ist der vor dem Hintergrund militärischer Macht ausgetragene Handelskrieg, drohendes Resultat ein weiterer Weltkrieg.

 


Zuletzt aktualisiert am 6.4.2002