Alex Callinicos

 

Trotzkismus

 

1. Ursprünge

 

1.1 Die permanente Revolution

Die Ursprünge der später als Trotzkismus bekannten Tendenz lassen sich zurück zum Ereignis verfolgen, das Trotzkis Position in der ersten Reihe der russischen Sozialisten festigte – der 1905er Revolution. Bis zu dieser Erhebung, die bei ihrem Höhepunkt im Winter 1905-06 ihn im alter von 26 in die Führung des St. Petersburger Sowjets der Arbeiterdelegierten katapultierte, hatte Trotzki den Konsens unter russischen Marxisten über die unmittelbare Zukunft geteilt. Der Marxismus ist in Rußland Anfang der 1880er Jahre entstanden als Reaktion auf die vorherrschende revolutionäre Tradition unter der Intelligenz, den Populismus. Für die vom westlichen Sozialismus beeinflußten Populisten wäre die Umwandlung von der feudalen hauptsächlich ländlichen von der absolutistischen Monarchie der Zaren geleiteten russischen Gesellschaft in Wein industrialisiertes Land wie Großbritannien eine Katastrophe, die man um jeden Preis vermeiden sollte. Die gemeindlichen Formen der gesellschaftlichen Organisation, die noch unter den Bauern überlebten, würden es Rußland ermöglichen, die Belastungen des Kapitalismus umzugehen und sich direkt zum Sozialismus zu bewegen. Immer mehr betrachteten die Populisten ihre Rolle darin, daß sie der Geschichte einen Anstoß geben sollten, wie Scheljabow, der Führer der terroristischen Narodnaja Wolja, es ausdrückte, indem sie physisch die Autokratie zerstörten, die im Wege der sozialistischen Zukunft stünde. Plechanow, der Gründer des russischen Marxismus, stemmte sich gegen solchen Voluntarismus. Der Sozialismus, argumentierte er, setze eine Entwicklung der Produktivkräfte vor, die nur der Kapitalismus erreichen könne. Die Ausdehnung des Markts und der daraus folgende Zerfall der Bauerngemeinden – Prozesse, die Lenin insbesondere zur Jahrhundertwende analysiert und dokumentiert hat – seien historisch notwendige Voraussetzungen der sozialistischen Revolution.

Russische Marxisten am Vorabend des 1905 waren einmütig der Anerkennung davon, was als die politische Folge dieses Arguments schien, nämlich daß die kommende Revolution „bürgerlich-demokratisch“ wäre. Wie die Englische und die Französische Revolutionen vor ihr würde sie, indem sie mit dem Absolutismus aufräumte, den politischen Rahmen schaffen, worin der Kapitalismus sich ungefesselt entwickeln könnte. Es gab aber wichtige Differenzen über die Rolle, die die wichtigsten gesellschaftlichen Klassen spielen würden. Eigentlich wurde die historische Spaltung beim 1903er Kongreß der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP) zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki, obwohl durch Fragen der Parteiorganisation aufgelöst, durch Meinungsverschiedenheiten über diese Frage gefestigt. Plechanow und die Menschewiki erwarteten von der liberalen Bourgeoisie, daß sie eine ähnliche führende Rolle spielen würde wie die, die sie ihreserachtens ihr englisches und französisches Gegenüber in deren Revolutionen gespielt hatte; von dieser Prognose folgte, die Aufgabe der in den Anfängen steckenden russischen Arbeiterbewegung sei es, die Liberalen gegen den Zaren zu unterstützen – die eigene Zeit würde erst ankommen, nachdem die Autokratie gestürzt worden sei und der Kapitalismus sich beträchtlich ausgedehnt habe. Im Gegensatz dazu behaupteten Lenin und die Bolschewiki, die verspätete Entwicklung des russischen Kapitalismus habe dazu geführt, daß die Bourgeoisie vom Staat und vom ausländischen Kapital abhängig und ihnen unterworfen sei: Weit davon entfernt, Massenaktion gegen den absolutistischen Staat zu führen, würden die Liberalen sich auf ihn verlassen, um sie gegen ein Proletariat zu verteidigen, das schon Zeichen gezeigt hätte, daß es außer Kontrolle geraten würde. Die Arbeiterbewegung solle unter diesen Umständen die von der trägen Bourgeoisie verlassene Rolle übernehmen und die Bauernmassen gegen den Zaren führen. Wenn die RSDAP die Initiative zur einer Zeit des populären Aufruhrs ergreife, könne sie erfolgreich die Autokratie durch eine „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und des Bauerntums ersetzten, die versuchen würde, im Rahmen des Kapitalismus Bedingungen zu fördern, die so günstig wie möglich für eine sozialistische Umwandlung wären.

Lenins Analyse bewies sich 1905 sowie 1917 als genauer als die von Plechanow: In den beiden Fällen waren die liberalen Kapitalisten viel mehr von den aufständischen Arbeitern und Bauern erschrocken als vom ancien regime [alten Regime]. während er mit Lenin übereinstimmte, ging Trotzki viel weiter. Erstens setzte er die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland im Zusammenhang der Weltwirtschaft. Die schnelle von der Monarchie in Zusammenarbeit mit dem ausländischen Kapital geförderte Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts sei eine Reaktion auf den durch das europäische Staatensystem verursachten Konkurrenzdrücke gewesen: Die militärische Macht brauche jetzt eine fortgeschrittene industrielle Basis. Das Ergebnis sei eine Illustration davon, was Trotzki (1967: I, 23) später „das Gesetz der kombinierten Entwicklung“ nennen wurde, den „Zusammenschluß der verschiedenen Etappen der Reise, eine Kombination getrennter Schritte, eine Mischung der veralteten und der modernen Formen“. Aufgrund „des Privilegs der historischen Rückständigkeit“, könnte Rußland, bevor er durch all die getrennten Etappen durchmache, die solche Länder wie Großbritannien und Frankreich auf ihrem Weg zum Kapitalismus durchgemacht hatten, die fortgeschrittensten Formen der im Westen erhältlichen Technik und Organisation ausnutzen, indem es die neuesten industriellen Produktionsanlagen importiere. Bis zur Jahrhundertwende gab es in Rußland einige der größten und modernsten Fabriken der Welt inmitten riesiger Tiefen der ländlichen Armut. Das neue in wenigen größeren städtischen Zentren konzentrierten Proletariat konnte einen Einfluß ausüben, der ihrer Größe völlig unangemessen war. Indem es an all den von der schnellen Industrialisierung typischen gesellschaftlichen Qualen litt und ihm die elementarsten politischen Rechte vorenthalten wurde, würde die Arbeiterklasse, glaubte Trotzki (wie auch Lenin), die zentrale Rolle im Kampf gegen den Zarismus spielen.

Danach trennten sich die beiden voneinander [waren die beiden nicht gleicher Meinung]. Die Bolschewiki, argumentierte Trotzki, überschätzten die Fähigkeit des Bauerntums, als eine unabhängige gesellschaftliche und politische Kraft zu handeln:

Wegen seiner Zerstreuung, seiner politischen Rückständigkeit und besonders seiner tiefen inneren Widersprüche, die sich nicht im Rahmen des kapitalistischen Systems lösen lassen, kann das Bauerntum nur der alten Ordnung einige mächtige Schläge von hinten versetzen, durch spontane Aufstände einerseits und andererseits, indem es Unzufriedenheit in der Armee schafft. (Trotzki 1973a: 237)

Es könne nur unter der Führung einer städtischen Klasse als nationale Klasse handeln. Die Bauernparteien wie die Sozialrevolutionäre, die sich Lenin als Teilnehmer an „revolutionär-demokratischen Diktatur“ vorstellte, verkörperten die Hegemonie der städtischen Bourgeoisie und des Kleinbürgertums über die ländlichen Massen. Eine Koalition zwischen solchen Parteien und der russischen Sozialdemokratie erliege unvermeidlich den in ihr innewohnenden Widersprüchen. Das Proletariat würde entweder eine „sich selbst einschränkende Anordnung“ annehmen und es ablehnen, seine politische Macht zu benutzen, um seine wirtschaftlichen Interessen zu fördern, in welchem Falle seine Position allmählich von der Bourgeoisie untergraben würde, oder es würde in die wirtschaftliche Macht des Kapitals eingreifen, indem es z.B. Firmen übernähme, die den Arbeitern Feierschichten machen ließen, in welchem Falle es die Grenzen der bürgerlich-demokratischen Revolution überschritten und die Diktatur des Proletariats gegründet hätte. Trotzki argumentierte, russische Sozialisten sollten den zweiten Kurs wählen. Nur so, durch eine „permanente Revolution“, in der sich bürgerliche und proletarische Elemente verschmölze, könne man den Zarismus zerstören.

Diese Position ließ Trotzki bis zum Ausbruch der Russischen Revolution von Februar 1917 isoliert. Dann wurde das von ihm vor mehr als zehn Jahren skizzierte Dilemma lebendig. Die liberale Provisorische Regierung konnte nur mit der Unterstützung der Sowjets überleben, die sie nicht bloß von den Menschewiki und den Sozialrevolutionären bekam, sondern auch von vielen Bolschewistischen Führern, einschließlich Stalin und Kamenjew. Als er April 1917 nach Rußland zurückkehrte, gewann Lenin die Partei für eine ganz andere Strategie „ das Ergreifen der Macht durch die Sowjets aufgrund eines Programms, das die Übernahmen der Landgüter des Adels durch die Bauern sanktionierte sowie andere Forderungen, z.B. die Arbeiterkontrolle über die Betriebe, die ein Engagement für den Aufbau des Sozialismus andeutete. Wie viele „Altbolschewiki“ beschwerten, kamen Lenins Aprilthesen praktisch dem „Trotzkismus“ gleich. Die effektive Annahme der Theorie hilft dabei, Trotzkis Entscheidung zu erklären, im Sommer 1917 die Partei beizutreten. Eine andere Faktor arbeitete auch daran. Er hatte sich seit dem 1903er Kongreß heftig den Anstrengungen Lenins entgegengesetzt, eine zentralisierte revolutionäre Partei aufzubauen. Wie Rosa Luxemburg hatte Trotzki geglaubt, die Entwicklung von Massenarbeiterkämpfen würde die Umwandlungen des Bewußtseins erzeugen, die dafür notwendig seien, so daß das Proletariat die unabhängige politische Rolle spielen könnte, worauf die Theorie der permanenten Revolution andeutete. Die revolutionäre Partei wäre hauptsächlich eine Widerspiegelung der Evolution des proletarischen Klassenbewußtseins. Die Februarrevolution und ihre Auswirkungen haben anscheinend Trotzki überzeugt, daß Lenin recht hatte: Nur eine politisch homogene Avantgardeorganisation wie die Bolschewiki könnte den spontanen Bewegungen des Klassenkampfs den notwendigen Fokus auf der Eroberung der Staatsmacht geben. „Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen sich wie Dampf in einem Kolbenkasten [?] verschwenden. Aber trotzdem kommt die Triebkraft nicht vom Kolben oder vom Kasten, sondern vom Dampf.“ (Trotzki 1967: I, 17) Aus dieser Perspektive wäre ohne die Bolschewiki die Theorie der permanenten Revolution trotz aller Gaben Trotzkis als Führer der Massen eine rein intellektuelle Konstruktion geblieben, der es den Mechanismus fehlte, sie in die Praxis umzusetzen.

Indem sie Trotzkis Prognose bestätigte, platzte die Revolution von Oktober 1917 die traditionellen Kategorien des „orthodoxen“ Marxismus auseinander. Sie war, wie Gramsci (1977: 34-7) sagte, eine wahre „Revolution gegen Das Kapital „ – mit anderen Worten, sie forderte das von Kautsky, Plechanow und anderen Theoretikern der Zweiten Internationale entworfene Schema heraus, das die Geschichte als eine Reihe von Produktionsweisen vorstellte, die durch eiserne Notwendigkeit einander folgten und im unvermeidlichen Triumph des Sozialismus gipfelte. Es dauerte aber noch zehn Jahre, bevor Trotzki eine Analyse, die sich auf den spezifischen Besonderheiten der historischen Entwicklung Rußlands bezog, in eine universale Theorie der Revolution in den rückständigen Ländern verallgemeinerte. der Anlaß dafür war die Chinesische Revolution von 1925-27. Stalin und Bucharin, die damaligen Führer der herrschenden Fraktion unter den Bolschewiki und deshalb auch unter der Dritten (oder Kommunistischen) Internationale (Komintern), bestanden darauf, daß die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) eine Variante der alten menschewistischen Strategie annehmen sollte – sprich die Teilnahme an einem „Vier-Klassen-Block“ mit dem durch die Guomindang [Kuomintang] vertretenen nationalistischen Flügel der Bourgeoisie, um die „national-demokratische“ Revolution zu erringen, die notwendig sei, um China von ausländischen Ausbeutern zu befreien. Trotzki unterstützte eine vernichtende Kritik der damit verbundenen taktischen Fehler – nachdem die Kuomintang die Kommunisten benutzt hatte, um die Kriegsherren zu besiegen, griff sie dann die Revolutionären an und massakrierte sie – mit der allgemeinen These, daß die Bourgeoisie in den rückständigen Ländern nicht mehr fähig sei, eine revolutionäre rolle zu spielen. Aber die gleichen Prozessen der kapitalistischen Entwicklung – das Verflechten des Fortgeschrittenen und des Rückständigen, das Trotzki die ungleichmäßige und kombinierte Entwicklung nannte –, die diese Kapitalisten mit dem Imperialismus verbänden, schüfen auch in Ländern wie China und Indien Arbeiterklassen, die wie ihr russisches Gegenüber fähig seien, einen Einfluß auszuüben, der ihrem Minderheitenstatus unangemessen sei. Der Griff des Imperialismus auf der übrigen Welt könnte nur gebrochen werden, wenn das Proletariat der rückständigen Länder die Masse der Bauern in Revolutionen führen könnte, die die vorkapitalistische sowie die koloniale Ausbeutung eliminierte und den Übergang zum Sozialismus initiierte.

In ihrer allgemeinen Form deutete die Theorie der permanenten Revolution eine direkte Herausforderung dazu an, was nach 1945 die Orthodoxie in den vom Marxismus-Leninismus in seinen russischen, chinesischen oder kubanischen Varianten beeinflußten Nationalbefreiungsbewegungen in der Dritten Welt wurde. Während diese versuchten, Koalitionen (nach dem chinesischen Formel) von Arbeitern, Bauern, Intellektuellen mit der „Nationalbourgeoisie“ aufzubauen (d.h. mit denjenigen Kapitalisten, die eine Interesses daran haben sollten, mit dem Imperialismus zu brechen), die angeblich durch das Ziel der nationalen Unabhängigkeit vereinigt wurden, betonte Trotzki die Klassenantagonismen in solchen Bündnissen und den kennzeichnenden Charakter des Proletariats als die einzige Kraft mit sowohl einem Interesse an der Nationalbefreiung als auch der Fähigkeit, sie zu erringen. Ein ähnliches Leitmotiv informiert seine Schriften über Europa während der 1930er Jahre. Trotzki kritisierte scharf die Kominternpolitik der „Dritten Periode“ Ende der 1920er Jahre und Anfang der 1930er Jahre, die zur Folge hatte, daß die mächtige Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) gemeinsame Aktion mit den Sozialdemokraten gegen die Nazis ablehnte, weil die einen ebenso schlecht wie die anderen seien. Er lehnte trotzdem gleichermaßen die 1935 von Stalin angenommene Politik der antifaschistischen „Volksfronten“ zwischen der Arbeiterbewegung und dem „demokratischen“ Flügel der Bourgeoisie ab. Bevor sie die Arbeiterklasse gegen den Faschismus vereinigten, argumentierte Trotzki, stellten die Volksfronten in Frankreich und Spanien die Unterwerfung der Interessen der Proletariats denjenigen des Kapitals dar und führten zu Ergebnissen, die nur Hitler, Mussolini und Franco verstärken könnten. Wie in der eigentlichen Theorie der permanenten Revolution, gewährte Trotzki hier den Vorrang der unabhängigen Aktion der Arbeiter.

 

 

1.2 Die Kritik des Stalinismus

Die Verallgemeinerung der Theorie der permanenten Revolution machte explizit, was früher implizit war, nämlich daß Trotzkis Bezugssystem das kapitalistische Weltsystem war:

Der Marxismus nimmt seinen Anfangspunkt von der Weltwirtschaft, nicht als Summe der nationalen Teile sondern als mächtige und unabhängige Realität, die von der internationalen Arbeitsteilung und dem Weltmarkt geschaffen worden ist und die in unserer Epoche die nationalen Märkte dominiert. (Trotzki 1969: 146)

Folglich argumentierte er, während die sozialistische Revolution in einem einzelnen Land anfangen würde, könnte sie nur auf der Weltebene vervollständigt [beendet] werden. Die vom Kapitalismus erreichten Internationalisierung der Produktivkräfte bedeute, daß man nicht den Sozialismus in einem Land aufbauen könnte, und bestimmt nicht im rückständigen Rußland. Ein Arbeiterstaat sollte hauptsächlich als Plattform dienen, wovon man die Revolution zu anderen Ländern verbreite.

Die sozialistische Revolution fängt im nationalen Arena an, sie entfaltet sich im internationalen Arena und vervollständigt sich im Weltarena. So wird die sozialistische Revolution eine permanente Revolution in einem neueren und breiteren Sinn; sie vervollständigt sich erst im Endsieg der neuen Gesellschaft auf dem ganzen Planeten. (Trotzki 1969: 279)

Indem er so die Möglichkeit des Sozialismus in einem Land bestritt, stellte er bloß etwas fest, das 1917 für alle Marxisten axiomatisch war. Lenin betonte bei zahlreichen Gelegenheiten, das Überleben des bolschewistischen Regimes hänge vom Sieg der Revolutionen in den fortgeschrittenen Ländern, besonders in Deutschland ab. Die Bolschewiki gründeten folglich 1919 die Komintern mit dem Ziel, eine „internationale Sowjetrepublik“ zu schaffen. Marx hatte allerdings davor gewarnt, daß ohne die Weltrevolution „die Armut, die Not sich bloß verallgemeinert und mit der Not der Kampf um die Notwendigkeiten wieder anfangen würde und die ganze alte Scheiße sich notwendigerweise wiederherstellt“. (Marx u. Engels 1976a: 49) Dem Anschein nach war das von Entwicklungen nach 1917 bestätigt. Keine erfolgreiche Revolutionen im Westen kamen zur Hilfe des bolschewistischen Regimes. Die Industrie brach unter dem Anstoß von Invasion, Bürgerkrieg und Blockade zusammen. Die städtische Arbeiterklasse, die die Revolution gemacht hatte, verkleinerte sich steil sowohl zahlenmäßig als auch in ihrem politischen Enthusiasmus. Die Sowjets wurden folglich zu Höhlen Hüllen der proletarischen Herrschaft, so daß bis Ende des Bürgerkriegs 1921 die Bolschewistische Partei , die selbst in eine mit dem Staatsapparat verflochtene bürokratische Organisation umgewandelt worden war, fand, daß sie im Namen einer Klasse, die effektive nicht mehr existierte, über eine zum größten Teil aus Kleinbauer bestehende Bevölkerung herrschte, deren natürliche Zweifel bezüglich der Regierung vom Engagement des Regimes für das Kollektiveigentum eher als das Privateigentum verstärkt wurden.

Gegen diesen Hintergrund entwickelte sich in den Jahren nach Lenins Tod ein erbitterter Fraktionskampf unter den Bolschewiki. Stalin, zuerst mit Sinowjew und Kamenjew alliiert und dann mit Bucharin, verdankte seinen Aufstieg der neuen Bürokratie der Parteisekretären, die er leitete. Die Doktrin des „Sozialismus in einem Land“, obwohl von Bucharin formuliert, ist vielleicht am besten als eine Behauptung des Selbstvertrauens [Selbstbewußtseins] dieser Gruppe betrachtet. Indem sie die Möglichkeiten von Revolutionen in anderen Ländern aus ihren Berechnungen abtaten, besonders nachdem es der KPD nicht gelang, die durch die 1923er Inflation verursachte Radikalisierung auszunutzen, behaupteten Stalin und seine Anhänger ihre Fähigkeit, die Gesellschaft wieder aufzubauen, durch die Benutzung von Ressourcen, die innerhalb der Grenzen Rußlands zur Verfügung standen. Während eines großen Teils der 1920er Jahre wurde die von Bucharin und der Rechte der Partei formulierte Strategie akzeptiert als das beste Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Diese hatte zur Folge die Verlängerung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP), die am Ende des Bürgerkriegs eingeführt wurde, um das Bauerntum zu versöhnen, indem sie sich auf Marktanreizen vielmehr als auf Zwang verließ, um die Städte mit Nahrungsmitteln zu liefern, auch wenn das bedeutete, daß die Industrie „zu einem Schneckentempo“ wüsche, wie Bucharin siegte. Trotzki und die Linke Opposition lehnten diese Politik ab, weil sie lieber die Entwicklung des ländlichen Kleinkapitalismus förderte, der die sozioökonomische Basis für die Konterrevolution liefern würde. Schnelleres industrielles Wachstum würde die Größe und das gesellschaftliche Gewicht der Arbeiterklasse steigern, eine notwendige Bedingung für die Wiederherstellung der Demokratie in der Partei sowie in den Sowjets. Trotzdem, argumentierte Trotzki, könnte keine rein nationale Strategie die Widersprüche lösen, mit denen das bolschewistische Regime konfrontiert wurde. So war ein Hauptthema der Kritik der Linken Opposition an Stalin und Bucharin die Weise, wie der Sozialismus in einem Land dazu führte, die Komintern den Interessen der russischen Außenpolitik zu unterwerfen, und deshalb zum Wertung Großer revolutionärer Möglichkeiten – z.B. in China 1925-27 und in Großbritannien während des 1926er Generalstreiks.

Die endgültige Niederlage der Opposition 1927-28 – die nach der jüngsten Forschung nicht so sehr von vornherein feststand, wie man früher glaubte – fand im Zusammenhang mit einer immer ernsteren Krise statt, die die Verschlechterung der Verhältnisse mit dem Westen, industrielle Stagnation und einen plötzlichen Sturz der Getreidelieferungen umfaßte. (Reiman 1987) Stalins Reaktion darauf bestand darin, daß er mit der Rechte brach und sich zum Zwang griff, um aus den Bauern die Getreide herauszuholen, die zur Ernährung der Städte notwendig war. Dieser Notbehelf wurde zum Anfangspunkt einer anderen Strategie, die die schnelle zentral dirigierte Industrialisierung und die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft umfaßte. Die neue während des Ersten Fünfjahrplans durchgeführte Politik verwandelte die UdSSR in eine größere Industriemacht, aber um einen enormen menschlichen Preis: Die Kollektivierung führte zu Millionen von Bauerntoden durch Repression, Hungersnot oder Zwangsarbeit im Gulagarchipel. Auch moderne sowjetische Schätzungen deuten darauf hin, daß die Industrialisierung durch eine drastische Kürzung der Reallöhne finanziert wurde. Die durch diese Folgen verursachten Spaltungen innerhalb des Regimes führten 1936 zur Großen Säuberung, worin ein Großer Teil der alten Bolschewistischen Partei umkam.

Der aus der UdSSR im Januar 1929 verbannte Trotzki versuchte eine marxistische Erklärung dieser enormen Umwandlung zu liefern. Ihren bisher einmaligen Charakter vorausgesetzt überrascht es kaum, daß seine Ansichten über das Thema weitgehende Änderungen erlebten. Der rote Faden, der durch diese Modifikationen durchläuft, ist eine Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Ursachen des Stalinismus. Schon Dezember 1923 bestand Trotzki (1975: 91) darauf, „der Bürokratismus ist eine gesellschaftliche Erscheinung“. Stalin sei der Vertreter einer getrennten gesellschaftlichen Schicht; der bürokratischen „Kaste“, die innerhalb der Partei und des Staats nach 1917 kristallisiert hätte. Trotzki erwartete aber nicht von der Bürokratie ein russisches Pendant des 9. Thermidor (27. Juli 1794), als die Jakobinerdiktatur unter Robespierre umgestürzt und eine konservative Reaktion losgelassen wurde. Die Hauptgefahr der Konterrevolution käme vielmehr von der „neuen Bourgeoisie“ der Kulacken (reichen Bauern) und der NÖPmänner (Spekulanten und Zwischenhändler), die von der Wiederbelebung des privaten Markts unter der NÖP profitiert hatten. Trotzki betrachtete die stalinistische Bürokratie als eine „zentristische“ Kraft: Genau wie linke Sozialdemokraten wie Kautsky zwischen Reform und Revolution schwankten, so balancierte Stalin zwischen den zwei Hauptklassen – der durch Bucharin und die Rechte vertretene „neuen Bourgeoisie“ und dem Proletariat, für das Trotzki und die Linke Opposition sich engagierten. Deshalb käme Stalins Zickzack von einem Bündnis mit Bucharin Mitte der 1920er Jahre zur Zwangsindustrialisierung und -kollektivierung 1928 – ein Wandel, den viele Anhänger der Linken Opposition als die Annahme ihrer eigenen Politik begrüßten, obwohl Trotzki selbst viel niedrigere Wachstumsziele befürwortet hatte als diejenigen, die im Ersten Fünfjahrplan gesetzt wurden, und die Nötigung der Bauern zum Beitritt in die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften ablehnte.

Die Ereignisse der Jahre 1927-28 führten Trotzki nicht zu einer Änderung seiner Grundabschätzung des Regimes. Er lehnte das von Wiktor Smirnow und der Demokratisch-Zentralistischen Fraktion schon 1926 vorgebrachte Argument, eine Konterrevolution sei geschehen. (s. Ciliga 1979: 261-91 über die Debatten innerhalb der Linken Opposition) Thermidor, im Sinne „der Restauration des Kapitalismus“, bliebe vielmehr eine „Gefahr“ als eine vollendete Realität. (Trotzki 1981: 321-3) Rußland sei immer noch ein Arbeiterstaat trotz der Bürokratisierung der Partei und des Sowjets. „Die Zickzacke des Stalinismus zeigen, die Bürokratie ist keine Klasse, keine unabhängige historische Faktor sondern ein Werkzeug, ein Exekutivorgan der Klasse.“ (Trotzki 1973b: 215) Das stalinistische Regime stelle eine Form des Bonapartismus (wie Marx ihn in seiner Broschüre über den 18. Brumaire des Louis Napoleon beschrieben hatte), ihre Macht entstehe vielmehr aus einem Gleichgewicht zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat als aus einer unabhängigen [selbständigen] sozioökonomischen Basis. Die Aufgabe der Linken Opposition sei es nicht, die Bürokratie in einer zweiten Revolution zu stürzen, sondern sie der demokratischen Kontrolle durch friedliche Mietet zu unterwerfen:

Wie die Lage zur Zeit ist, könnte die Bourgeoisie die Macht durch den Weg der konterrevolutionären Umwälzung ergreifen. Was das Proletariat anbetrifft, kann sie die volle Macht wiedergewinnen, die Bürokratie überprüfen und sie unter seiner Kontrolle setzen durch den Weg der Reform der Partei und er Sowjets. (Trotzki 1981: 295)

Keine Änderung in der UdSSR führte Trotzki dazu, diese Beurteilung zu ändern, sondern der Mißerfolg dabei, die Machtergreifung der Nazis in Deutschland zu verhindern. „Jetzt sind wir in einer neuen Periode, wo die Politik der Reform erschöpft ist.“ (Trotzki 1972b: 27) Weiterhin: „Der Thermidor der Großen Russischen Revolution steht nicht vor uns, sondern ist schon längst vorbei,“ da er 1924 stattgefunden sei. (Trotzki 1971b: 182) Der russische Thermidor stelle aber nicht „die erste Etappe der bürgerlichen Konterrevolution dar, „die sich gegen die soziale Basis des Arbeiterrats richtet,“ wie die Linke Opposition während der 1920er Jahre argumentiert hatte. (Trotzki 1971b: 173) Die UdSSR sei immer noch ein Arbeiterstaat, obwohl ein degenerierter. Indem er eine „Übergangsgesellschaft“ zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus leite, habe der Staat „einen Doppelcharakter: sozialistisch, insofern er das gesellschaftliche Eigentum in den Produktionsmitteln verteidigt, und bürgerlich, insofern die Verteilung der Lebensgüter mit einem kapitalistischen Maß des Werts und den darausfolgenden Konsequenzen durchgeführt wird“. (Trotzki 1970: 54) Dieser Widerspruch sei durch die „verallgemeinerte Not“ verstärkt; die aus Rußlands Isolation nach der Revolution entstehe:

Die Basis der bürokratischen Herrschaft ist die Armut der Gesellschaft in den Konsumgegenständen , mit dem daraus ergebenden Kampf jeder gegen alle. Wenn es genügend Güter in einem Laden gibt, können die Käufer kommen, wenn sie wollen. Wenn es wenige Güter gibt, müssen die Käufer Schlange stehen. Wenn die Schlangen sehr lang sind, muß man einen Polizisten einstellen, um die Ordnung zu behalten. Solches ist der Anfangspunkt der Macht der Sowjetbürokratie. (Trotzki 1970: 112)

Wenn die Bürokratie Produkt des nachrevolutionären Mangels sei, könne sie danach die sowjetische Gesellschaft in ihren eigenen Interessen neugestalten, indem sie die politische Macht monopolisiere und für sich eine Menge materieller Privilegien beanspruche. Trotzki bestand darauf, daß, obwohl sie „der Pflanzer und Verteidiger der Ungleichheit“ (Trotzki 1970: 113) sei, die Bürokratie nicht eine neue herrschende Klasse bilde. Er stellte sich scharf den Behauptungen seitens einiger seiner Anhänger entgegen, der Stalinismus stelle entweder den Staatskapitalismus oder eine neue Variante der Klassengesellschaft, den bürokratischen Kollektivismus, dar. Die Bürokratie sei „ein vorübergehendes Gewächs“, „ das Produkt eines ‚zufälligen‘ (d.h. vorübergehenden und außerordentlichen) Verflechtens der historischen Umstände“, vor allem des Scheiterns der Revolution im Westen. (Trotzki 1972c: 6) Die Produktionsverhältnisse seien immer noch die, die von der Oktoberrevolution gebildet wurden:

Die Verstaatlichung des Landes, der Mittel der industriellen Produktion, der Verkehr und des Austausches sowie das Monopol des Außenhandels bilden die Basis der sowjetischen gesellschaftlichen Struktur. Durch diese von der proletarischen Revolution gebildeten Verhältnisse ist die Natur [das Wesen] der Sowjetunion als proletarischer Staat für uns grundsätzlich definiert. (Trotzki 1970: 248)

Das Staatseigentum der Produktionsmittel sei daher eine notwendige und ausreichende Bedingung für das Bestehen eines Arbeiterrats. Wie Max Shachtman (1962: 92) andeutete, lief das auf die Aufgabe des von Trotzki früher benutzten Kriteriums hinaus, „nämlich: Hat die Arbeiterklasse immer noch die politische Macht, in einem oder dem anderen Sinn, wenn auch nur im sinne, daß sie immer noch dazu fähig ist, eine sich verirrende und gefährliche Bürokratie durch Reformmaßnahmen unter ihre Kontrolle zu bringen.“ (Trotzki (1970: 288-9) glaubte jetzt, die Arbeiterklasse könne nur durch revolutionäre Mittel das Stalinregime beseitigen, aber diese wäre eine „politische Revolution“, die die „ökonomischen Grundlagen“ der sowjetischen Gesellschaft intakt ließe, indem sie vielmehr auf „ eine zweite ergänzende [zusätzliche] Revolution – gegen den bürokratischen Absolutismus“ – hinausliefe.

 

 

1.3 Revolutionäre Perspektiven

Die Schlußfolgerung, wie auch immer qualifiziert, daß eine neue Revolution in der UdSSR notwendig sei, legte eine schwere Bürde auf die Schultern von Trotzki und seinen Anhängern. Obwohl sie zunehmend der politischen Repression durch die Geheimpolizei in der UdSSR unterworfen wurde, konnte die Linke Opposition vereinzelte Anhänger in den verschiedenen Kommunistischen Parteien anziehen. James P. Cannon, damals ein Führer des Kommunistischen Partei der USA, las ein Dokument von Trotzki, das durch einen Fehler an delegierte des 6. Kongresses der Komintern in 1928 verteilt wurde, und wurde von den in ihm enthaltenen Argumenten überzeugt. Wie gewöhnlich in solchen Fällen wurde Cannon bald aus der CPUSA ausgeschlossen. Trotzdem betrachtete die 1930 von den Trotzkisten gegründete Internationale Kommunistische Liga (IKL) sich bis 1933 als Fraktion der Komintern, die sich in Einklang mit Trotzkis Reformperspektive dafür engagierte, die kommunistische Bewegung weg von ihrer stalinistischen Führung zu gewinnen. Hitlers Sieg in Deutschland stellte aber für Trotzki ein Ereignis dar, das vergleichbar mit der Kapitulation der Zweiten Internationale vor dem imperialistischen Krieg August 1914 war, indem er den nicht beharren bankrott erklärte. Es sei jetzt notwendig, eine neue (Vierte) Internationale aufzubauen, die sich auf der bolschewistischen Tradition und auf den ersten vier Kongressen der Komintern (1919-22) basierte, aber jetzt versuchen würde, revolutionäre Parteien anstelle der bankrotten stalinistischen Organisationen aufzubauen.

Die dadurch gesetzt Aufgabe war enorm. Die IKL genoß sehr geringe Unterstützung. Ihre zwei wichtigsten Sektionen waren wahrscheinlich die russische und die chinesische (um die viele Führer der KPCh sich nach dem Debakel von 1925-27 sammelten). Die russische Linke Opposition wurde Ende der 1920er Jahre durch Massenverhaftungen und -deportationen im Gulag zerstört, wo ihre Anhänger solche Mut und Entschlossenheit zeigten – vor allem im von ihnen 1936-7 in Workuta organisierten Hungerstreik -, daß sie sogar die widerwillige Bewunderung von Solschenitzyn (1976: 303-7, 372-6) verdienten, aber sie wurden nicht von der Hinrichtung gerettet. Das Schicksal der chinesischen Trotzkisten war nicht weniger tragisch – sie wurden durch die Repression gebrochen, die gegen sie vom Kuomintang, von der KPCh unter Mao und von den japanischen Besatzungskräften eingesetzt wurde. (s. Wang 1980) Die effektive Mitgliedschaft der IKL war in Europa und Amerika konzentriert. Ihre Sektionen in diesen Ländern waren winzig – eine der wichtigsten, die amerikanische Communist League, wies 154 Mitglieder 1931 vor. Und noch schlimmer, die Verfolgung der trotzkistischen Bewegung durch die Kommunistischen Parteien – die ein Crescendo während der Moskauer Prozesse von 1936-8 erreichte, die versuchten zu beweisen, daß Trotzki zusammen mit anderen bolschewistischen Führern wie Sinowjew, Kamenjew und Bucharin sich mit Hitler verbündet habe – half dabei, diese Gruppe zum Rand der Arbeiterbewegung zu beschränken. Während es Ausnahmen gab – die amerikanischen Trotzkisten wurden durch ihre Rolle in der Führung eines Massenstreiks von LKW-Fahrern in Minneapolis in 1934 umgewandelt (Dobbs 1972) und die erste britische Gruppe war zum großen Teil eine Fortsetzung einer älteren Tradition von proletarisch-marxistischen Selbstgelehrten (Groves 1974; MacIntyre 1980) –, belegten die IKL-Sektionen typisch ein gesellschaftliches Milieu, das Trotzki öfters als „kleinbürgerlich“ bezeichnete, ein Ghetto von mittelständischen Intellektuellen, für die allzu oft sektiererische Kontroversen zum Selbstzweck wurden.

Unter diesen Umständen war das wichtigste Kapital der IKL Trotzki selbst. Seine Statur als, neben Lenin, der Hauptführer der Oktoberrevolution verdiente ihm eine internationale Aufmerksamkeit, die seinem wirklichen politischen Einfluß unangemessen war. Trotzkis Exiljahre waren intellektuell ungeheuer produktiv. Nicht nur schrieb er einige seiner größten Werke – Mein Leben, Die Geschichte der Russischen Revolution, Die verratene Revolution –, sondern in einer Reihe von gelegentlich geschriebenen Stücken untersuchte er die wichtigsten Krisen des Tages – den Aufstieg der Nazis, den spanischen Bürgerkrieg, die Volksfront in Frankreich – und schuf einen Schriftenschatz der politischen Analyse, den man nur in seiner Breite und Scharfsinnigkeit mit solchen Schriften von Marx wie dem 18. Brumaire oder dem Bürgerkrieg in Frankreich vergleichen kann. aber die intellektuelle Kraft dieses Schriftenschatzes kommt nur seinem absoluten Mangel an politische Auswirkung gleich. Der treffendste Fall ist der der Reihe von Artikeln und Broschüren, in denen Trotzki (1971a) mit vorherigem Wissen und zunehmender Dringlichkeit die gesellschaftlichen Wurzeln und die politische Dynamik des deutschen Faschismus analysierte und vor dem Desaster warnte, der dem Fehlschlag der Kommunisten und der Sozialdemokraten dabei folgen würde, sich gegen Hitler zu vereinigen. Obwohl unter den größten Schriften Trotzkis hatten sie keinen Einfluß auf den Ereignissen in Deutschland, wo die Sektion der IKL zur Zeit des Nazisiegs etwa hundert Mitglieder zählte.

Trotzki versuchte deshalb, durch eine Reihe von verschiedenen Taktiken die Größe der IKL zu steigern und ihre angegliederten Organisationen in der Arbeiterbewegung zu verwurzeln. Vielleicht das wichtigste dieser Listen war die „französische Wende“ – sogenannt weil Trotzki sie zuerst für die französische Gruppe im Juni 1934 vorschlug –, die den Eintritt der Sektionen der IKL in die sozialdemokratischen Parteien umfaßte, die damals eine Wiederbelebung und sogar Radikalisierung erfuhren, hauptsächlich als Reaktion auf der Zerstörung der deutschen und österreichischen Arbeiterbewegungen in 1933-4. Die erste Verwendung der Taktik des „Entrismus“ faßte keine Erwartung um, sie könnten die sozialdemokratischen Parteien übernehmen und umwandeln. eigentlich argumentierte Trotzki (1977: 125), „der Eintritt in eine reformistische [oder] zentristische Partei schließt nicht in sich eine lange Perspektive ein. Er ist nur eine Phase [Stufe], die sich unter bestimmten Bedingungen auf einer Episode beschränken läßt.“ Aber die französische Wende brachte keine qualitative Änderung der Lage der IKL. In einem außergewöhnlichen Gespräch mit C.L.R. James im April 1939 gab Trotzki (1974: 251-2) zu:

Wir kommen nicht politisch voran. Das stimmt, es ist eine Tatsache, die ein Ausdruck eines allgemeinen Zerfalls der Arbeiterbewegungen in den letzten fünfzehn Jahren ist. Es ist der allgemeinste Grund. Wenn die revolutionäre Bewegung im allgemeinen zurückgeht, wenn eine Niederlage der anderen folgt, wenn der offizielle „Marxismus“ die mächtigste Organisation der Täuschung der Arbeiter ist und so weiter, ist es eine unvermeidliche Situation, daß die revolutionären Elemente gegen den allgemeinen historischen Strom arbeiten müssen, auch wenn unsere Ideen, unsere Erklärungen ebenso genau und klug sind, wie man fordern kann.

Trotz diesen widrigen Umständen entschied sich Trotzki dafür, weiter zu machen und die Vierte Internationale (4. Internationale) zu gründen, um die Komintern zu ersetzen. Bei der Gründungskonferenz am 3. September 1938, die von Delegierten aus elf Sektionen besucht wurde, behauptete die Vierte Internationale (Weltpartei der Sozialistischen Revolution) – um der neuen Internationale ihren vollen Namen zu geben –, wahrscheinlich optimistisch, sie habe 5.395 Mitglieder, von denen nicht weniger als 2.500 der bei weitem stärksten Gruppe, der Socialist Workers’ Party (SWP) in den USA gehörten. (Reisner 1973: 288-9)

Trotzki sagte nichtsdestoweniger vorher (1974: 87): „Während der nächsten zehn Jahre wird das Programm der Vierten Internationale zum Leitfaden für Millionen werden und diese revolutionären Millionen werden wissen, wie man die Erde und den Himmel stürmt.“ welche Gründe hatte er für einen solchen Optimismus?

Erstens hatte Trotzki eine ziemlich katastrophale Einschätzung der Aussichten für den Weltkapitalismus. „Die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren,“ erklärte er im Programm der 4. Internationale, Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale. (Reisner 1973: 180) Die Wahrscheinlichkeit einer ausdauernden Erholung von der Weltwirtschaftskrise, die die Weltwirtschaft nach dem 1929er Börsenkrach in der Wall Street traf, sei gering. Tatsächlich „[hat] der Zerfall des Kapitalismus extreme Grenzen erreicht ... Das weitere bestehen dieses System ist unmöglich.“ (Trotzki 1973c: 8) Die einzige Sache, die seinen Sturz hindere, sei die Beherrschung der Arbeiterbewegung durch Kräfte – den Stalinismus und die Sozialdemokratie –, die alles machten, das in ihrer Macht liege, um die sozialistische Revolution zu verhindern. Daraus folgt: „Die historische Krise der Menschheit reduziert sich auf die Krise der revolutionären Führung.“ (Reisner 1973: 181) Nur das Fehlen authentischer revolutionärer Parteien hindere die Machteroberung durch die Arbeiterklasse. Der Umfang der Wirtschaftskrise würde aber die Mittel zur Lösung dieser Führungskreise liefern:

Die Orientierung der Massen wird erstens durch die objektiven Bedingungen des zerfallenden Kapitalismus und zweitens durch die verräterische Politik der alten Arbeiterorganisationen bestimmt. Von diesen Faktoren ist natürlich erstere die entscheidende: Die Gesetze der Geschichte sind stärker als das bürokratische Apparat ... Im Laufe der Zeit werden ihre [der Stalinisten und der Sozialdemokraten] Anstrengungen, den Rad der Geschichte zurückzuhalten, den Massen klarer [deutlicher] zeigen, daß die Krise der proletarischen Führung ... sich nur durch die Vierte Internationale lösen läßt. (Reisner 1973: 182)

In Passagen wie dieser scheint Trotzki der Beschuldigung wegen des historischen Fatalismus am ausgesetztesten zu sein. Es wird manchmal behauptet; die Voraussetzung, daß die Entwicklung der Produktivkräfte die sozialistische Revolution unvermeidlich mache, sei ein entscheidendes Bestandteil seines Denkens. (Hodgson 1975; Molyneux 1981; Beilharz 1987) Das scheint viel zu stark. Die Erfahrung der 1917er Revolution und insbesondere der von der Bolschewiki gespielten Rolle führte Trotzki zum Argument: „Der Glaube an einer automatischen Evolution ist die wichtigste und typischste Eigenschaft des Opportunismus,“ (Trotzki 1972a: I., 211) und zur Betonung der Wichtigkeit der subjektiven Faktoren der Geschichte – des revolutionären Willens und des revolutionären Bewußtseins der Arbeiterklasse. (Trotzki 1972a: I., 228) Er argumentierte sogar, ohne Lenin hätten die Bolschewiki es versäumen können, die durch den Fall des Zaren angebotene Gelegenheit zu ergreifen. (Trotzki 1967: I. 310) Es scheint aber, daß in der Atmosphäre der Isolation, der Verfolgung und der Niederlage, zu denen Trotzki und seine Anhänger Ende der 1930er Jahre verurteilt wurden, er mindestens gelegentlich sich dem Glauben überließ; „die Gesetze der Geschichte“ würden es der 4. Internationale erlauben, eine Massenanhängerschaft zu gewinnen.

Trotzki wurde auch von einer historischen Analogie beeinflußt. in den letzten paar Jahren seines Lebens verglich er häufig seine aktuelle Situation mit der der radikalen Linke der Zweiten Internationale während des Ersten Weltkriegs. Anfangs isoliert und der Repression unterworfen fanden Lenin, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und andere revolutionäre Kriegsgegner, sie konnten wachsende Sympathie für ihre Haltung gewinnen, als die Unzufriedenheit an der Front und in den Betrieben wuchs – ein Prozeß, der seinen Höhepunkt in den russischen Revolutionen von 1917 und der deutschen Revolution von 1918 erreichte. Als es klar wurde, daß ein anderer Krieg unvermeidlich war, sagte Trotzki vorher, sie würde auch inmitten gesellschaftlicher Konvulsionen [Erschütterungen] beenden. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs behauptete er: „Der Krieg wird dauern, bis er alle Ressourcen der zivilisierten Welt erschöpft oder bis er seinen Kopf auf der Revolution zerbricht.“ (Trotzki 1973d: 151) Die von Trotzki vorausgesehen Umwälzungen, von denen er erwartete, daß sie möglicherweise noch größer als die von 1917-18 sein würden, würden es der 4. Internationale wie vor ihnen den Bolschewiki erlauben, aus ihrer Isolation auszubrechen und das Vertrauen wachsender Zahlen von Arbeitern zu gewinnen. (In dieser Prognose war er nicht allein: Während der letzten Tage des Friedens sagte der französische Botschafter in Berlin Hitler: „Als Ergebnis dieses Kriegs wird es nur einen Sieger geben – Herrn Trotzki.“ (Trotzki 1973d: 122))

Eine dritte Überlegung, die Trotzkis Hoffnungen für die 4. Internationale zugrunde lag, betraf die UdSSR. In China, Deutschland, Frankreich und Spanien hatte der Einfluß der Kommunistischen Parteien auf die militantesten Teile der Arbeiterklasse dazu geführt, daß revolutionäre Gelegenheiten vertan wurden. Der zweite Weltkrieg würde aber höchstwahrscheinlich das Stalinregime zum Zusammenbruch verurteilen. Mai 1940 schrieb Trotzki:

die Epoche der großen Konvulsionen [Erschütterungen], in der die Menschheit eingetreten ist, wird die Kremloligarchie mit einem Schlag nach dem anderen treffen, ihr totalitäres Apparat zerstören, das Selbstbewußtsein der Arbeitermassen steigern und dadurch die Gründung der sowjetischen Sektion der Vierten Internationale ermöglichen. (Trotzki 1973d: 201-2)

Sein Glaube, die stalinistische Bürokratie sei „bloß eine besondere, außergewöhnliche und befristete Refraktion ... der allgemeinen Gesetze der modernen Gesellschaft ... unter den Bedingungen eines rückständigen revolutionären Lands in einer kapitalistischen Umwelt“, war einer der Hauptgründe dafür, daß Trotzki sich den Argumenten von Shachtman und seinen Anhängern gegenüberstellte, daß die UdSSR eine neue bürokratisch-kollektivistische Klassengesellschaft sei. (s. Teil 4.1 unten) „Könnten wir uns nicht vielleicht in eine lächerliche Situation stellen,“ protestierte er September 1939, „wenn wir der bonapartistische Oligarchie die Bezeichnung einer neuen herrschenden Klasse verliehen erst einige Jahre oder sogar einige Monate vor ihrem Untergang?“ (Trotzki 1973c: 7, 14)

Trotzki wurde von einem russischen Agenten am 21 August 1940 getötet. Innerhalb von fünf Jahre hatten Ereignisse die Fehler der Analyse gezeigt, worauf er seine sehr optimistische Erwartungen über das Wachstum der 4. Internationale beruht hatte. Man soll aber es diesen Fehlern nicht erlauben, daß sie den Umfang der Leistungen Trotzkis während der Exiljahre verdecken. Unter Umstände der großen Not versuchte er, die klassische marxistische Tradition zu wahren, nicht bloß indem er ihre Hauptsätze erneut beteuerte, sondern indem er sie erweiterte, erstens in der in seinen Schriften über Großbritannien, Deutschland, China, Spanien und Frankreich impliziten allgemeinen Theorie der revolutionären Strategie und Taktik (s. Hallas 1979), und zweitens in der marxistischen Erklärung des Stalinismus, die er besonders in der Verratenen Revolution (Trotzki 1970) initiierte. Trotzki versicherte die Kontinuität der revolutionären sozialistischen Tradition auch durch seine Anstrengungen, die 4. Internationale aufzubauen. Im März 1935 vertraute er sich seinem Tagebuch an:

Ich kann nicht von der „Unentbehrlichkeit“ der eigenen Arbeit sprechen, auch für die Periode 1917-1921. Aber jetzt ist meine Arbeit „unentbehrlich“ im vollen Sinne des Wortes. Es gibt überhaupt keine Überheblichkeit in dieser Behauptung. Der Zusammenbruch der zwei Internationalen [der Sozialdemokratie und des Stalinismus] hat ein Problem aufgeworfen, wo kein Führer dieser Internationalen überhaupt ausgerüstet ist, es zu lösen. Die Launen meines persönlichen Schicksals haben mir mit diesem Problem konfrontiert und mich mit wichtiger Erfahrung bewaffnet, um mit ihm fertigzuwerden. Es gibt jetzt niemanden außer mir, der den Auftrag erfüllen kann, eine neue Generation mit der revolutionären Methode über den Köpfen der Führer der Zweiten und Dritten Internationalen zu bewaffnen ... Ich Brauch mindestens noch fünf Jahre der ununterbrochenen Arbeit, um die Erbfolge zu sichern. (Trotzki 1963: 46-7)

Trotzki hatte diese fünf Jahre, während deren er die „neue Generation“ in der Tradition trainierte, die wenn auch nur kurzfristig im Oktober 1917 triumphiert hatte. Aber seine Erben waren allzufrüh auf die Probe gestellt, mit einer Welt konfrontiert zu sein, die sich sehr von der unterschied, die sie aufgrund der Vorhersagen Trotzkis am ende seines Lebens erwarteten.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.12.2007