Alex Callinicos

 

Trotzkismus

 

3. Orthodoxien

 

3.1 Unkritischer Positivismus und unkritischer Idealismus

Marx schreibt in den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten von 1844, auch Hegels Phänomenologie des Geistes enthalte implizit in sich „den unkritischen Positivismus sowie den ebenso unkritischen Idealismus der späteren Werke – das philosophische Auflösung und Wiederherstellung der bestehenden empirischen Welt“. (Marx u. Engels 1975: 332) Der Gedanke besteht darin, daß Hegel, indem er den Absoluten Geist, eine Hypostasierung des menschlichen geistigen Lebens zum Subjekt der Geschichte macht, die Kategorien seiner Dialektik daran verhindere, jeden kritischen Halt an der Welt zu finden. Der Gedanke und die Realität, so abrupt im Absoluten verbunden, dem identischen Subjekt-Objekt der Natur und der Geschichte, fielen auseinander, so daß der Gedanke, vermutlich über die Realität allmächtig, in Wirklichkeit (wie es Wittgenstein zusammenfaßte) alles ließe, wie es ist. Ein analoges Schwanken zwischen dem „unkritischen Positivismus“ und dem „unkritischen Idealismus“ läßt sich an der Arbeit beim orthodoxen Trotzkismus betrachten.

Der orthodoxe Trotzkismus wurde, wie im letzten Kapitel gesehen, durch die Entscheidung gebildet, Trotzkis Analyse der UdSSR als degenerierten Arbeiterstaat zu wahren, indem man sie zu China und zu Osteuropa verbreiterte. Dieser Schritt war bloß das wichtigste Beispiel eines mächtigen Triebs, sein Denken vor der Widerlegung zu verteidigen. Die Tatsache, daß Cannon November 1945 leugnete, daß der Zweite Weltkrieg vorbei sei, um das Eingeständnis zu vermeiden, daß Trotzkis Vorhersage falsch sei, daß das Stalinregime nicht den Krieg überleben würde, war ein extremer Fall des gleichen Triebs. So stürzte sich Mandel auf Pablos Vorhersage einer „Krieg-Revolution“, die dem Stalinismus sowie dem Kapitalismus ein Ende Machen würde, um zu argumentieren: „Die zwischen dem Zweiten und dem Dritten Weltkrieg vergehende Periode wird in der Geschichte als eine befristete Pause erscheinen und Trotzkis Vorhersage, daß die Bürokratie nicht einen Krieg überleben würde, wird sich als historisch bestätigt finden.“ (Germain 1974: 23)

So zu versuchen, Trotzkis Theorien vor der Widerlegung zu impfen, trug mit sich die Gefahr, daß man sie in eine Reihe Dogmen verwandeln würde. Allzu oft verwirklichte sich diese Gefahr. Das von Trotzki entworfene und beim ersten Kongreß der 4. Internationale 1938 angenommene Übergangsprogramm wurde zu einem besonderen Verehrungsgegenstand. Dieses Dokument wurde so benannt, weil es eine Reihe „Übergangsforderungen“ enthielt – z.B. die Indexierung der Löhne mit Preisen („die gleitende Lohnskala“). Sie wurden dazu beabsichtigt, die alte Teilung in der Zweiten Internationale zwischen dem Mindestprogramm der begrenzten in einem kapitalistischen Zusammenhang erreichbaren Reformen und dem Maximalprogramm, dessen Durchführung die Gründung der Arbeitermacht brauchen würde, zu überbrücken. Trotzki argumentierte, die Wirtschaftskrise sei so akut, daß der Kampf um sogar die bescheidensten Verbesserung der Bedingungen der Arbeiterklasse in Konflikt mit dem kapitalistischen System selbst geraten würde Durch die Agitation für Übergangsforderungen würde die 4. Internationale Arbeiter um sich ziehen, die im Laufe ihrer Bestrebungen, diese Forderungen zu realisieren, die Grenzen des Reformismus entdecken würden. So beschrieb Trotzki die Übergangsforderungen als Forderungen, „die aus den heutigen Bedingungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse stammen und unveränderlich zu einer endgültigen Schlußfolgerung führen: zur Eroberung der macht durch das Proletariat“. (Reisner 1973: 183) Die Idee war keine neue – Lenins Parole „Land, Brot und Friede“ ist vielleicht das beste Beispiel einer Übergangsforderung – und die frühe Komintern versuchte, sie zur Basis der täglichen Agitation zu machen. Trotzki scheint, nicht besonders für die bestimmten im Übergangsprogramm enthaltenen Forderungen engagiert zu sein, und betonte die Wichtigkeit der Fähigkeit, „scharfe spezifische Kampfparolen zur richtigen Zeit vorzustellen, die an sich nicht vom Programm ableiten, sondern von der aktuellen Umständen diktiert werden und die Massen nach vorne führen“. (Trotzki 1973a: 143) Diese Warnung wurde oft allgemein von den orthodoxen Trotzkisten ignoriert, die vielmehr dazu tendierten, die detaillierten im Übergangsprogramm skizzierten Forderungen als unveränderlich zu betrachten. Das ging mit der Neigung zusammen, die Idee des „Programms“ selbst zum Fetisch zu machen: Seine An- oder Abwesenheit wurde als den entscheidenden Faktor dafür betrachtet, ob eine bestimmte Bewegung das ihr zugeschriebene revolutionäre Potential realisieren würde. Typisch mit diesen Haltungen verwickelt war eine Ablehnung, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, daß Trotzki sich geirrt hätte, indem er angenommen hätte, daß eine zukünftige ökonomische Ausdehnung ausgeschlossen sei. Das erzeugte einen wirtschaftlichen Katastrophismus, wovon Healy und seine Anhänger das klassische Beispiel liefern. Während der 1950er und 1960er Jahre ignorierten sie die reichlichen Beweise für einen weltweiten Aufschwung, um einen nahe bevorstehenden und drastischen Slump anzukündigen. Die Healysche WRP begrüßte den tatsächlichen Beginn der Weltrezession Anfang der 1970er Jahre mit einer Inbrunst, der fast mit der eines christlichen Fundamentalisten vergleichbar war, der sich der Wiederkunft Christi gegenübersieht.

Es ist vielleicht hier relevant, darüber nachzudenken, warum denn die trotzkistische Bewegung so oft die Merkmale einer religiösen Sekte gezeigt hat. Man könnte plausibel argumentieren, daß es allgemein der Fall mit radikalen Bewegungen unter ungünstigen Bedingungen sei, daß sie sich in streitlustige Bruchstücke auflösen. Christopher Hill hat z.B. den Prozeß verfolgt, wodurch englische Revolutionäre versuchten, mit der Herrschaft von Cromwells Generalmajoren und mit der Restauration zurechtzukommen – die innere Auflösung (die Fünften Monarchisten), die Unterwerfung (die Harringtoner), den Rückzug in den politischen Quietismus (die Quäker) oder in die Kunst (Milton). (Hill 1984) Man kann allerdings viele Analogien [Ähnlichkeiten] mit der Erfahrung der trotzkistischen Bewegung von den 1940er Jahre an betrachten. Weiterhin ist es Wahrscheinlich, daß die Unfähigkeit, Ereignisse zu beeinflussen, selbst Spaltungen fördert: Da es keine weise gibt, Differenzen in der Analyse oder in der Politik praktisch zu überprüfen, warum nicht abspalten? Indem er die theoretische Basis der Bewegung in eine Reihe unwiderlegbarer Dogmen verwandelte, verstärkte der orthodoxe Trotzkismus diese Versuchung. Jede getrennte Strömung versuchte, sich als einzigen authentischen Interpreten der Grundtexte der Tradition zu beweisen. Der orthodoxe Trotzkismus wurde auch von der Idee der Vierten Internationale selbst behindert. Ihr Vorgänger und Modell, die Komintern hatte sich auf der Fähigkeit der Bolschewiki als Führer einer erfolgreichen Revolution basiert, einen wesentlichen Teil des westlichen Arbeiterbewegung zur neuen Internationale zusammenzurufen. Die Komintern war deswegen eine Massenorganisation, bei deren ersten drei Kongressen (1919-21) mindestens die Ansichten ihrer hauptsächlich russischen Führung angefochten und kritisiert wurden angesichts der Erfahrung der Versuche der Kommunistischen Parteien, manchmal erfolgreich, die riesigen gesellschaftlichen Konflikte der Zeit zu beeinflussen. (Hallas 1985) Die Ansprüche einer politischen Strömung mit einigen Tausend Mitgliedern, daß sie eine solche Internationale sei, wirkten sich lähmend auf der trotzkistischen Bewegung, besonders indem sie den Größenwahn unter den „Unbekannten“ ermutigten, die das IS Mitte der 1940er Jahre übernahmen als Führer der „Weltpartei der sozialistischen Revolution“. Den Versuch, Ereignisse in vielen Ländern zu verfolgen, sie in eine Weltperspektive zu integrieren und detaillierte taktische Ratschläge den lokalen Gruppen anzubieten, konnte Trotzki mehr oder weniger schaffen. obwohl es gekostet hat, aber von seinen Epigonen fortgesetzt führte er zu den Katastrophen, die tatsächlich Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre stattfanden. Das Ergebnis war die Absurdität einer Fülle Gruppierungen – mit je ein paar Hundert Mitgliedern –, die behaupteten, daß sie entweder die Vierte Internationale seien, oder dabei seien, sie zu rekonstruieren [wieder aufzubauen]. Kaum verlockender war die vom VSVI nach 1963 verfolgte Alternative, die versuchte, weitere Spaltungen zu vermeiden, während man an der Fiktion der Vierten Internationale durch endlose Kompromisse [Zugeständnisse] festhielt im Versuch, politische Tendenzen (die Anhänger Mandels bzw. der amerikanischen SWP) zusammenzuhalten, die oft dem Anschein nach wenig miteinander gemein hatten.

Ein Ergebnis davon, eine Theorie gegen die Widerlegung immun zu machen, ist wie Popper (1969: Kap.1) hindeutet, daß sie jedem Satz Beobachtungen entspricht. die Kehrseite eines Dogmatismus, der so unbeugsam ist, daß er alle widersprechenden Beweise ignoriert, ist eine Elastizität, die so flexibel ist, daß er alles in seinem Rahmen einverleiben kann auf Kosten, daß er nichts erklärt. Ernest Mandel ist vielleicht das bekannteste Beispiel innerhalb des orthodoxen Trotzkismus. Ein brillanter und produktiver Schriftsteller und Redner, der in der Debatte besonders geschickt ist, hat Mandel durch den Umfang und die Gelehrsamkeit seiner größeren ökonomischen Abhandlungen – Die marxistische Wirtschaftstheorie, Der Spätkapitalismus, Der Zweite Slump – ein dringend notwendiges Prestige dem VSVI verliehen, dessen wichtigsten Führer er seit 25 Jahren ist. Es gibt eigentlich eine organische Verbindung zwischen Mandels Vorstellung der wissenschaftlichen Methode, wie er sie in seinen ökonomischen Schriften ausführt und verwendet, und seiner Verteidigung der trotzkistischen Orthodoxie. Im Spätkapitalismus, seinem wichtigsten Versuch, den langen Aufschwung nach dem Krieg sowie seinen anschließenden Zusammenbruch Ende der 1960er Jahre zu erklären, lehnt Mandel eine „monokausale“ Theorie der Entwicklung des Kapitalismus ab. Im Gegensatz dazu:

bis zu einem gewissen Punkt können alle Grundvariablen dieser Produktionsweise teilweise und periodisch die Rolle autonomer Variablen spielen – natürlich nicht zum Punkt der völligen Unabhängigkeit, aber in einem Zusammenspiel, das ständig durch die Entwicklungsgesetze der gesamten kapitalistischen Produktionsweise artikuliert wird. (Mandel 1975: 39)

Er listet sechs solche Variablen auf – die organische Zusammensetzung des Kapitals; die Verteilung des konstanten Kapitals zwischen dem fixen und dem flüssigen Kapital; die Mehrwertrate; die Akkumulationsrate; die Umlaufszeit des Kapitals; und das Verhältnis zwischen Abteilung I und Abteilung II, die Sektoren, die Kapital- bzw. Lohngüter produzieren – und ein Großer Teil des Buchs widmet sich der Untersuchung der weise. wie die Variablen die Weltwirtschaft während der Zeit nach dem Krieg gestalteten.

Die Schwierigkeit, besonders vom Standpunkt der Aspiration des Marxismus, eine Theorie der gesellschaftlichen Totalität [Gesamtheit] zu sein, besteht darin, daß Mandel keine allgemeine Darstellung der relativen Wichtigkeit der Variablen gibt. Das scheint nicht, Marxens eigener „Methode,, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen“ (Marx 1973: 101), zu entsprechen, die einige Merkmale als grundsätzlicher als andere behandelt, und ist eigentlich bemerkenswert nahe der „Theorie der selbstgenügsamen Faktoren“, die heftig von Trotzki denunziert wurde. (s. z.B. Trotzki 1981: 389 ff.) Wesentlich führt Mandels Betonung auf der mehrfachen Kausalität manchmal zu einem Synkretismus, der vielleicht am deutlichsten spürbar ist in seinem Versuch, die Idee der langen Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung (am vollsten durch Kondratjew formuliert) mit der Marxschen Theorie der Tendenz zum Fall der Profitrate zu integrieren. (s. Harman 1978) Ein Vorteil dieser Bevorzugung der multikausalen Erklärung besteht darin, daß man mit der offenbaren Widerlegung durch die Entdeckung eines bislang ignorierten Faktors fertig werden kann. Mandel verwendet all die Fähigkeiten eines mittelalterlichen Scholastikers dafür, um relevante Faktoren zu unterscheiden – z.B. indem er fünf getrennte kriege innerhalb des Zweiten Weltkriegs entdeckt. (Mandel 1986: 45) Die Auswirkung davon ist, daß er der sozialen Theorie die Wechselwirkung mit potentiell entbestätigenden [widerlegenden] Beobachtungen entzieht. so argumentierte Mandel, Trotzki sei in seiner „kurzfristigen Vorhersagen“ falsch eher als in seinem „Verständnis der großen Entwicklungsrichtungen unseres Jahrhunderts“. (Mandel 1979b: 171) Der Stalinismus und der Kapitalismus gingen zwar in die Krise, auch wenn während der 1960er und 1970er Jahre vielmehr als am ende des Zweiten Weltkriegs. Es sei, als ob Trotzkis Theorie ein Film sei, der bei der ersten Aufführung zu schnell lief. Auf das richtige Tempo verlangsamt sei der Film in Ordnung. Das entspricht kaum der Dringlichkeit der Vorhersagen Trotzkis, seinem Besten auf dem befristeten und parasitären Charakter des Stalinismus, seiner Behauptung, daß, falls der Krieg nicht in die Revolution mündete, der Marxismus widerlegt sei. Eine Theorie, der man so jede Reibung mit der Erfahrung verweigert, wird wahrscheinlich nicht Ereignisse vorhersehen, sondern sie immer hinterhertrödeln, indem sie ihre Einheit [Integrität] wahrt auf Kosten der Verlust aller Erklärungskraft.

 

 

3.2 Die großen Bataillone

Das Paradox des orthodoxen Trotzkismus besteht darin, daß durch den Versuch, Trotzkis Theorie buchstabengetreu getreu zu wahren, er ihre einen großen teil ihrer Substanz entzieht. Das ist am deutlichsten in bezug auf die Vermittlung [Agentur] der sozialistischen Revolution. In Einklang mit seinem Engagement für den klassischen Marxismus stellte Trotzki den Sozialismus als die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse vor. Aber wenn die osteuropäischen Länder deformierte Arbeiterstaaten seien, dann könnten andere Kräfte als das Proletariat die sozialistische Revolution durchführen. Trotzki hatte in seiner Polemik gegen Lenins Vorstellung der Partei nach dem 1903er Kongreß die Gefahr des „Substitutionismus“ erkannt: „Die Gruppe der ‚beruflichen Revolutionären‘ Marschierte nicht an der Spitze des bewußten Proletariats, sondern handelte ... an Stelle des Proletariats.“ Trotzki akzeptierte später, daß der Leninismus der proletarischen Selbstbefreiung entspräche, aber in ihrer Verwirrung [Unordnung] nach 1945 wurden viele seiner Anhänger zum Substitutionismus herangezogen – es war nicht der Fall, daß sie in der Lage waren, die Arbeiterklasse zu ersetzen, sondern daß sie ihre Hoffnung Kräften anschlossen, die in ihrem Namen handelten.

Pablos Politik des langfristigen „Entrismus sui generis“ in den Kommunistischen Parteien (s. Teil 2.2 oben) war ein Beispiel dieser Tendenz. Aber die größte Versuchung kam im Fall derjenigen Revolutionen in der von uns heute benannten „Dritten Welt“, wo stalinistische Bewegungen Bauernarmeen zum Sieg um ein Programm der eher nationalen als sozialen Befreiung – in Jugoslawien, China, Kuba und Vietnam. Dem Anschein nach könnte man denken , daß diese Umwälzungen als eine Widerlegung der Theorie der permanenten Revolution zählten, wonach rückständige Länder nur den Imperialismus besiegen könnten, wo die Arbeiterklasse die Führung des nationalen Kampfs übernehme und mit dem Kapitalismus breche. (s. Teil 2.2 oben) Die Reaktion der Führung der 4. Internationale bestand vielmehr darin, das Gegenteil zu behaupten. So erklärte der Dritte Weltkongreß 1951: „Die Dynamik der jugoslawischen Revolution bestätigt die Theorie der permanenten Revolution in allen Punkten..“ (Fourth International 1969b: 57) Bloß weil diese und spätere solche Revolutionen sich die nationale Unabhängigkeit gesichert oder umfangreiche Landreformen oder Verstaatlichungen durchgeführt hatten, hatten sie auch unter der Führung der Arbeiterklasse durchgeführt werden müssen. Die Alternative – daß die Theorie der permanenten Revolution falsch sei, oder mindestens Veränderung brauche – war einfach zu viel, um sie in Betracht zu nehmen. Andere ungünstige Entwicklungen – die relativ friedliche Auflösung der europäischen Kolonialreichen und die Verwandlung einiger Staaten der Dritten Welt in neu industrialisierende Länder – erledigte man, indem man behauptete, daß diesen Änderungen gelinge es nicht, Trotzkis Bestehen darauf zu erfüllen, daß „die völlige und echte Lösung (nicht der Anfang einer Lösung) der Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution“ erst durch den proletarischen Sturz des Kapitalismus errungen werden könnte. (Mandel 1979b: 73; s. auch Löwy 1981; Callinicos 1982b)

Die Charakterisierung der großen Revolutionen in der Dritten Welt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als sozialistisch möchte die trotzkistische Orthodoxie wahren aber auf Kosten, daß sie neue Schwierigkeiten einführte. Zum einen; wie Michael Löwy (1981: 214) zugibt, „nicht allein [war in all diesen Fällen] das Proletariat nicht das soziale Mittel der Revolution, sondern die revolutionäre Partei war nicht der direkte organische Ausdruck des Proletariats.“ Nichtsdestoweniger seien die Kommunistischen Parteien Vietnams, Chinas und Kubas „der politische und programmatische Ausdruck des Proletariats aufgrund ihres Festhaltens an den historischen Interessen der Arbeiterklasse“ und aufgrund der Tatsache, daß „ihre Ideologien proletarisch“ seien. (Löwy 1981: 214-5) So könnte eine Bewegung proletarisch sein, auch wenn sie sehr wenige Arbeiter unter ihrer Mitgliedschaft enthalte und sich überhaupt nicht am alltäglichen Leben und Kampf des Proletariats beteilige. Der Umfang, der dadurch für den Substitutionismus angeboten wird, ist deutlich genug, besonders wenn man sich daran erinnert, daß die „proletarischen Ideologien“ dieser Bewegungen Varianten des stalinistischen „Marxismus-Leninismus“ waren, den Trotzki so unermüdlich als vulgarisierte und herabgesetzte Verzerrungen der revolutionären sozialistischen Tradition angegriffen hatte. Diese ganze Argumentation [Argumentationsrichtung] ruft Brechts berühmtes Gedicht nach dem Berliner Aufstand 1953 unwiderstehlich zur Erinnerung, worin er vorschlägt, die DDR-Regierung sollte das Volk auflösen und ein neues wählen.

Aber auch wenn man den proletarischen Charakter der Kommunistischen Parteien Jugoslawiens, Chinas und Kubas – und (noch zweifelhafter) der Bewegung 26. Juli in Kuba, die erst nach der 1959er Revolution für den Marxismus-Leninismus eintrat – annahm, blieb ein anderes grundsätzlicheres Problem: Wie könnte der Stalinismus, den Trotzki als konterrevolutionär auf einem Weltausmaß bezeichnet hatte, den Kapitalismus in diesen Fällen stürzen? Die Antwort darauf war das einfachste: Diese Bewegungen seien eigentlich nicht stalinistisch. Wie Mandel es darstellte:

Die Diktatur des Proletariats wurde in Jugoslawien, China, Vietnam und Kuba von pragmatischen revolutionären Führungen gebildet, die eine revolutionäre Praxis hatten, aber eine Theorie und ein Programm, die weder der eigenen Revolution noch besonders der Weltrevolution zulänglich waren. (Mandel 1983: 54)

Weder Stalinisten noch „revolutionäre Marxisten“ seien Tito, Mao, Ho und Castro seien „Linkszentristen“ (!), deren Mangel an einem richtigen Programm „negative praktische Auswirkungen“ habe; nichtsdestoweniger sei „ die Tatsache, daß sie eine sozialistische Revolution durchführten ... unendlich viel wichtiger als ihr Mangel an einer zulänglichen Theorie“. (Mandel 1983: 54)

Der „Zentrismus“ ist der Name, den Lenin und Trotzki denjenigen gaben, die durch ihr Schwanken zwischen Reform und Revolution gekennzeichnet wurde; die klassischen Beispiele waren Kautsky und die Austromarxisten. Wie könnten denn „Linkszentristen“ sozialistische Revolutionen in Teilen der Dritten Welt durchführen? Antworten auf diese Frage tendierten dazu, große Betonung auf die objektiven Umstände zu legen, was Löwy (1981: 158) „die Logik des revolutionären Prozesses selbst“ nennt. So argumentiert Pierre Rousset (1975), daß eine Kombination der sozioökonomischen Drücke und der nationale Tradition (vor allem der Konfuzianismus) es den vietnamesischen Kommunisten erlaubte, „empirisch“ mit dem Stalinismus zu brechen und die antikoloniale Revolution zum Ende durchzuführen. Zweifellos muß man solche Faktoren in einer Erklärung der vietnamesischen Revolution in acht nehmen, aber diese ermutigen einen kaum, sie als eine sozialistische Revolution zu beschreiben, mindestens vom Standpunkt des klassischen Marxismus, der eine starke Betonung auf den selbstbewußten Charakter solcher Verwandlungen legt. Stattdessen wirke sich die Geschichte nach der Hegelschen List der Vernunft, die Revolutionen herbeiführe, deren Vermittler sich zum großen Teil nicht davon bewußt seien, was sie täten. Mit Trotzkis eigenen Worten werde „der permanente Charakter der Revolution so ... ein Gesetz, das sich über die Geschichte setzt, unabhängig von der Politik, der Führung und der materiellen Entwicklung der revolutionären Ereignisse.“ (Trotzki 1976a: 349)

Jedenfalls, wenn „pragmatische revolutionäre Führungen“ den Kapitalismus in großen Teilen der Dritten Welt loswerden können, wozu eigentlich die Vierte Internationale? In einer Variante oder der anderen war diese Schwierigkeit seit Ende der 1940er Jahre da gewesen aber sie wurde von der Nikaraguanischen Revolution 1979 akuter gemacht. Die amerikanische SWP begrüßte dieses Ereignis sowie auch die Kubanische Revolution und den Putsch, der auch 1979 das unglückselige Regime von Maurice Bishop an die Macht in Grenada brachte, als „das Wiederauftauchen der proletarischen Revolutionäre an der Macht – für das erste Mal, seitdem die von Stalinisten geführte Bürokratie solche Führung in der Sowjetunion beendete und den proletarischen Internationalismus aus der Kommunistischen Internationale vor mehr als fünfzig Jahren ausstrich.“ (Barnes 1983: 10) Das Erscheinen dieser „revolutionären marxistischen Strömung ... , die lebt und kämpft, um die sozialistische Revolution heute auszudehnen“, (Barnes 1980: 30) zaubert die Aussicht auf „eine weltweite politische Annäherung der Kräfte“ hervor, die die Kommunistische Partei Kubas, die Sandinisten und das VSVI in „einer kommunistischen Masseninternationale“ (Barnes 1983: 77) vereinigen könnte. Außerdem argumentiert Jack Barnes, der Führer der amerikanischen SWP, der Trotzkismus selbst stehe dieser Annäherung im Wege, da „wahrscheinlich 80 Prozent derjenigen auf einer Weltebene, die sich als Trotzkisten vorstellen, ... besserungsunfähige Sektierer sind“. (Barnes 1983: 69) Die Wurzeln dieses Sektierertums seien in Trotzki selbst zu finden, da die Theorie der permanenten Revolution die Möglichkeit der Bildung von „Arbeiter- und Bauernregierungen“ ausschließe, die „eine Stufe im Kampf“ darstellen, „wo die kapitalistische Eigentumsverhältnisse noch nicht aufgehoben [abgeschafft] worden sind, aber die Arbeiter und Bauern die politische Macht in einer echten Revolution errungen haben“. (Barnes 1983: 35) Die Kubanische, Nikaraguanische und Grenadanische Revolutionen seien durch eine Phase gegangen, die in die Bildung der Diktatur des Proletariats einleite, eine Umwandlung, die hauptsächlich die Verstaatlichung der Produktionsmittel umfasse, was nur in Kuba passiert habe.

Diese Argumente stellten das dramatische Beispiel des Drangs in den Stalinismus dar, der für orthodoxe Trotzkisten seit Ende der 1940er Jahre eine ständige Versuchung gewesen war. Besonders die Idee von „Arbeiter- und Bauernregierungen“ erinnert treffend an Lenins alte Formel der „revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und des Bauerntums“, die Trotzki nach der Revolution von 1905 und noch einmal in den Debatten der 1920er Jahre kritisiert hatte. (s. Teil 1.1 oben) Die amerikanische SWP entwickelte zwar rasch eine Stil der politischen Analyse, die stark an Pablos Teilung der Welt in einen „fortschrittlichen“ Ost- und einen reaktionären Westblock Anfang der 1950er Jahre erinnert. (s. Teil 2.3 oben) Dieser ganzen Richtungsänderung stellten sich Mandel und seine Anhänger innerhalb des VSVI stark entgegen. (s. Mandel 1983) Aber diese Bestrebungen konnten nicht die Tatsache verheimlichen, daß die amerikanische SWP unter Barnes bloß die Konsequenzen des orthodoxen Trotzkismus gezogen hatte. Die beiden Seiten waren sich darüber einig daß proletarische Revolutionen stattgefunden hätten, ohne daß das Proletariat überhaupt daran teilgenommen hätten. Es machte wenig aus, ob man die Menschen, die diese Revolutionen machten, „revolutionäre Marxisten“ oder „pragmatische Revolutionären“ oder sogar „Stalinisten“ nannte. Wenn sie den Sozialismus von oben erringen könnten, ohne daß Arbeiterräte die Macht übernähmen, dann hätte der Trotzkismus seine Existenzberechtigung verloren. Auch nicht alle ungeheuren forensischen Fähigkeiten Mandels konnten diese einfache Tatsache verheimlichen. (Callinicos 1984)

Orthodoxe Trotzkisten außerhalb des VSVI haben auch ähnliche Balanceakten wie Mandels versucht, mit dem gleichen Mangel an Erfolg. Als die britische RCP die Entwicklung der 4. Internationale zuvorkam, indem sie 1947-48 die osteuropäische „Pufferzone“ zu Arbeiterstaaten erklärte (s. Teil 2.2 oben), hatte Ted Grant den Begriff des „proletarischen Bonapartismus“ entwickelt. Dieser war ein interessantes Beispiel der von Lakatos genannten „Begriffsweitdehnung“ (1976: 20 ff., 83 ff., 93 ff.), wo eine Theorie vor der Widerlegung verteidigt wird, indem man ihre Begriffe ausdehnt, um offenbar anomale Fälle zu decken. Marx hatte den Ausdruck „Bonapartismus“ gemünzt, um Regimes zu beschreiben, wo der Staat, obwohl er nicht von der Bourgeoisie kontrolliert wurde, trotzdem in deren Klasseninteressen handelte. (Draper 1977: Bd. II) Grant folgte und auch entwickelte Formulierungen von Trotzki, dehnte den Begriff von kapitalistischen auf Arbeiterstaaten aus und brachte folgende These vor: „Für eine ziemlich lange Periode kann es einen Konflikt zwischen dem Staat und der vom Staat vertretenen Klasse geben.“ (Grant 1989: 231) „Der Stalinismus,“ argumentierte er, „ist eine Form des Bonapartismus, der sich in der Einrichtung des Staatseigentums basiert, aber er unterscheidet sich von der Norm eines Arbeiterstaats, wie der Faschismus oder der bürgerliche Bonapartismus sich von der Norm der bürgerlichen Demokratie unterscheidet.“ (Grant 1989: 302) Auf dieser Basis war Grant großzügiger als das VSVI über die Erfolge des „proletarischen Bonapartismus“ in der Dritten Welt, indem er 1978 China, Kuba, Vietnam, Laos, Kambodscha, Syrien, Angola, Mosambik, Aden, Benin und Äthiopien als deformierte Arbeiterstaaten beschrieb. (Grant 1989: 350) Obwohl von anderen orthodoxen Trotzkisten kritisiert, widerspiegelte die Liste Grants relativ konsequente Verwendung der Verstaatlichung der Wirtschaft als Kriterium des Bestehens eines Arbeiterstaats. Er stellte sich aber der Versuchung entgegen, die Menschen, die diese Revolutionen durchführten, in den trotzkistischen Lager willkommen zu heißen – er griff z.B. 1949 die Behandlung von Tito seitens des IS als „unbewußten Trotzkisten“ an. (Grant 1989: 298) Der Zwang zum Substitutionismus fand trotzdem politischen Ausdruck. Nachdem er in die Labour Party mit den übrigen Teilen der RCP-Mehrheit eintritt, wurde Grant zur wichtigste Persönlichkeit der Militant Tendency, die sich Ende der 1970er Jahre als die stärkste organisierte linke Strömung in der Labour Party herausstellte. Indem sie eine bei weitem langfristigere Version des Entrismus übte, als je von Trotzki vorgestellt wurde, erwarteten Militant-Anhänger, daß eine katastrophale Wirtschaftskrise die Labour Party radikalisieren und die Massenunterstützung für eine linke Regierung schaffen würde, die „eine völlig friedliche Umwandlung der Gesellschaft“ bewirken würde mittels einer Verstaatlichung in großem Umfang, die vom Parlament durch ein Ermächtigungsgesetz genehmigt [bevollmächtigt] würde. (Taaffe 1986: 25 u. passim) In diesem Szenario würde eine umgeformte Sozialdemokratie die Art Rolle spielen, die die Vorstellungen anderer orthodoxer Trotzkisten einigen Arten des Stalinismus vorgeschrieben hatten. (McGregor 1986)

 

 

3.3 In den Wachturm: Deutscher und Anderson

Die Widersprüche, die im letzten Teil diskutiert wurden, stammen alle von der Bemühung, Trotzkis Analyse der UdSSR als Arbeiterstaat zu wahren, auf Kosten, daß man effektiv den Stalinismus als revolutionäre Kraft anerkannte, während man gleichzeitig versuchte, eine unabhängige trotzkistische Bewegung aufrechtzuerhalten. Es gab zwei Wege aus dem damit verwickelten Dilemma – die Theorie der degenerierten und deformierten Arbeiterstaaten aufzugeben, wie es die in Kapiteln 4 und 5 diskutierten Tendenzen machten, oder das von Trotzki 1933 formulierte Projekt des Aufbaus von revolutionären Organisationen unabhängig vom Stalinismus und von der Sozialdemokratie aufzugeben. Der berühmteste Vertreter der letzteren Alternative ist Isaac Deutscher. Deutschers gewaltige literarische Gaben – Perry Anderson nennt ihn „einen der größten sozialistischen Schriftsteller dieses Jahrhunderts (Anderson 1984b: 1) – demonstrierten sich vor allem in seiner klassischen Biographie von Trotzki, die eine größere Rolle dabei spielte, den Ruf des letzteren aufrechtzuerhalten und die in den 1960er Jahren radikalisierte Generation in die klassische marxistische Tradition einzuführen. Trotzdem widersprach die Stoßrichtung von Deutschers Schriften grundsätzlich die von Trotzki nach 1933 genommene politische Richtung. Als Aktivist in der polnischen trotzkistischen Gruppe während der 1930er Jahre entwarf Deutscher die Argumente, auf denen sie ihre Opposition zur Gründung der Vierten Internationale bei der Gründungskonferenz 1938 beruhte. (Reisner 1973: 296-7; Deutscher 1970c: 421, Anm. 1) Während seines Exils in Großbritannien ist er aus der trotzkistischen Bewegung herausgeschlittert. Ob Ursache oder Konsequenz dieser Entscheidung, lieferte Deutschers reife Analyse ihr bestimmt mit einer logischen Grundlage.

Shachtman bemerkte: „Deutscher überwältigend von ... Analogien zwischen den bürgerlichen Revolutionen (besonders der Französischen) und der Bolschewistischen Revolution fasziniert – man könnte auch besessen sagen.“ (Shachtman 1962: 270) Diese Analogien spielen die Funktion, daß sie eine breite Übereinstimmung der Struktur zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Revolution beweisen. Diese so postulierte Übereinstimmung ist aus zweierlei politischen Gründen politisch wichtig. Erstens postuliert Deutscher ein allgemeines historisches Gesetz; wonach Revolutionen sich von einer Phase der populären Mobilisierung, worin die Revolutionären Massenunterstützung genießen, zu einer Phase bewegen, worin sie von Ereignissen dazu gezwungen werden, eine Minderheitsdiktatur zu bilden, die die Errungenschaften der Revolution erhalte, auf Kosten der Repression, die sich gegen, unter anderem, eine extreme Linke wende, die den Verrat der ursprünglichen Ideale des Aufstands verurteile. Das Auftauchen von Stalin, wie vor ihm Cromwell und Napoleon, sei historisch notwendig gewesen. Außerdem vertrete er nicht den Verrat der Revolution, sondern ihre Fortsetzung. In der Diskussion der Zwangsmethoden und der bewaffneten Ausdehnung, die während des Bürgerkriegs von den bolschewistischen Führern verwendet wurden, verfolgte Deutscher:

den Faden der unbewußten historischen Kontinuität, die von Lenins zögernden und betretenen Versuchen in der Revolution durch Eroberung zu den von Stalin dem Eroberer arrangierten Revolutionen. Ein ähnlicher feiner Faden verbindet Trotzkis Innenpolitik dieser Jahre mit den späteren Praktiken seines Kontrahenten. Trotzki sowie Lenin erscheinen, je in einem unterschiedlichen Bereich, als Stalins unwissentliche Inspirateure und Vorläufer. Sie wurden beide von Umständen außer ihrer Kontrolle und von den eigenen Illusionen dazu gezwungen, bestimmte Haltungen anzunehmen, wo die Umstände und die eigenen Skrupel sie daran hinderten, weiter zu machen – Haltungen, die ihrer Zeit voraus waren, die mit der aktuellen bolschewistischen Mentalität fehl am Platze waren, und die sich nicht mit den Hauptthemen ihres Lebens harmonierten. (Deutscher 1970a: 515)

Stalins eigentümlicher Vorteil liege genau in seinem Mangel an Skrupeln und an der Sympathie mit der klassischen marxistischen Tradition, die es ihm erlaubten, als der „Hüter und Treuhänder der Revolution“ in seiner konservativen Phase zu handeln, indem er Ende der 1920er Jahre die „zweite Revolution“ der Kollektivierung und der Industrialisierung einführte und Osteuropa nach 1945 „‚von oben und von außen‘ – durch Eroberung und Besetzung“ umwandelte. (Deutscher 1970c: 257) Hier kann man ein zweites Aspekt der von Deutscher gezogenen Analogie zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Revolution merken. Die Englische und die Französische Revolutionen waren bürgerlich, nicht weil sie von Kapitalisten geführt worden seien – im Gegenteil, „die Führer waren in England ‚Gutsbesitzer‘ und in Frankreich Rechtsanwälte, Ärzte, Journalisten und andere Intellektuelle“ –, sondern wegen der Vorteile, die sie der Bourgeoisie brachten: „Die bürgerliche Revolution schafft die Bedingungen, worin das bürgerliche Eigentum blühen kann.“ (Deutscher 1967: 22) Anderson zog die Implikation davon heraus, wenn man diese Eigenschaft der bürgerlichen Revolution zu seinem sozialistischen Gegenüber ausdehnt: „Der Kapitalismus braucht nicht automatisch oder überall eine siegreiche industrielle Bourgeoisie, um ihn einzuführen – ebensowenig wie der Sozialismus ein siegreiches industrielles Proletariat braucht, um ihn aufzuzwingen.“ (Anderson 1966: 232) Viel expliziter, als es in der trotzkistischen Hauptrichtung war, erkannte man so den Stalinismus als revolutionäre Kraft an und gab den klassischen Begriff des Sozialismus als proletarische Selbstbefreiung auf. Deutscher trotzkistische Kritiker forderten sehr schnell seine Identifikation der bürgerlichen und der sozialistischen Revolution heraus und argumentierten, die Arbeiterklasse könne wegen ihrer Trennung von den Produktionsmitteln unter dem Kapitalismus erst ökonomisch herrschen, indem sie die politische Macht übernehme. (Shachtman 1962: Kap 12 u. 13; s. allgemeiner Callinicos 1989)

Stalin wird bei Deutschers Interpretation der Russischen Revolution nicht die Abweichung (Anomalie), wie Trotzki ihn betrachtete, sondern zum Werkzeug der historischen Notwendigkeit. In einer aufschlußreichen Passage führt Deutscher Plechanow, den großen Theoretiker der Zweiten Internationale, ins Feld, um Trotzkis „überraschende Schlußfolgerung“ zu widerlegen, daß ohne Lenin die Oktoberrevolution nicht stattgefunden hätte. Alasdair MacIntyre bemerkte: „Man kann sehen, warum das notwendig für [Deutschers] ... ganzes Argument ist. Wenn von Zeit zu Zeit die Geschichte uns wirkliche Alternativen bietet, dann bin ich nicht bloß Teil eines unvermeidlichen historischen Fortschritts.“ (MacIntyre 1971: 59, s. auch Callinicos 1987a: 79-82) Während Trotzkis Marxismus, auch wenn er am nächsten daran kam, den unvermeidlichen Zusammenbruch des Kapitalismus Ende der 1930er Jahre vorherzusagen, große Betonung auf den „subjektiven Faktor“, die Rolle der bewußten menschlichen Vermittlung in der Umwandlung der Gesellschaft legte (s. Teil 1.3 oben), war es Deutscher lieber, Ereignisse angesichts einer sich entfaltenden historischen Notwendigkeit zu erklären. Das hatte direkte politische Konsequenzen. In der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg, argumentierte Deutscher, führe man „den Klassenkampf, der auf seiner traditionell geführten Ebene unterdrückt war, ... auf einer anderen Ebene und in anderen Formen, als Rivalität zwischen Machtblöcken und kalten Krieg“. (Deutscher 1970c: 518) Obwohl Deutschers Sympathien in diesem Kampf mit dem sowjetischen Block lagen, bevorzugte er vor jeder Form der politischen Tätigkeit den Rückzug in „einen Wachturm“, wovon er „mit Abstand und Aufmerksamkeit diese Welt des hochhievenden Chaos beobachtet, scharfen Anschau danach hält, was daraus auftauchen wird, und es sine ira et studio interpretieren kann“. (Deutscher 1984: 57.8) Die positivste Entwicklung, die Deutscher aus seinem Wachturm spürte, war die Entstehung nach Stalins Tod von Reformern, von denen Deutscher erwartete, daß sie von oben die politische Revolution durchführen würden, die laut Trotzki von unten kommen würde.: Deutscher gab zuerst Berja, dann Malenkow und schließlich Chruschtschow die Rolle des Führers dieser Revolution. (s. Cliff 1982: 166-91) Deutscher verurteilte daher den Berliner Aufstand 1953 – der sich in den Arbeitergebieten konzentrierte, die während der Weimarer Ära die Kommunisten unterstützt hatten – als „objektiv konterrevolutionär“, weil er „die Idee einer allmählichen Lockerung des stalinistischen Regimes kompromittierte [gefährdete]“, die von solchen „Reformisten“ wie Berja befürwortet worden sei.

Obwohl Deutschers gewählte Rolle als kritischer Beobachter der Ereignisse jeden Versuch seinerseits ausschloß, eine politische Organisation aufzubauen, bieten seine Ideen seit seinem Tod 1967 weiter einen Einfluß wegen ihrer Auswirkung auf eine begabte Gruppe von jungen britischen Intellektuellen, die 1962 die New Left Review (NLR) übernahm und sie während der nächsten zwei Jahrzehnten sie in die vielleicht wichtigste Zeitschrift der Gesellschaftstheorie in der englischen Sprache verwandelten. (Über die Geschichte der NLR bis 1983 s. Birchall 1980) Perry Anderson, Redakteur der NLR bis 1983, ist am besten für die zwei bislang erschienenen Bände seiner Genealogie des modernen Staats bekannt. (Anderson 1974a; 1974b) Aber er ist auch der wichtigste Vertreter einer Deutscherschen Version des orthodoxen Trotzkismus. Er stellte den Trotzkismus dem westlichen Marxismus gegenüber als die Fortsetzung der klassischen Tradition (Anderson 1976: 96-101) und lobte ihn, weil er allein ... sich zu einer reifen Meinung über den Sozialismus auf einem Weltausmaß fähig bewiesen“ hätte. (Anderson 1980: 156) Trotzdem behielt Anderson eine kritische Distanz von der trotzkistischen Bewegung bei – obwohl andere Redakteure der NLR (vor allem Tariq Ali, Robin Blackburn und Quentin Hoare) für einen großen Teil der 1970er Jahre führende Mitglieder der britischen Sektion der VSVI, der International Marxist Group waren. Während er von Trotzkis „Grundhypothesen“ schrieb, daß sie „bis zum heutigen Tag als Rahmen für die Untersuchung der sowjetischen Gesellschaft unübertroffen“ seien (Anderson 1980: 117), kritisierte er sie, weil sie den Stalinismus als „bloß eine ‚außerordentliche‘ oder ‚anomale‘ Refraktion der allgemeinen Gesetze des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus“ darstellten. Im Gegenteil, „die unter Stalin gebannten Strukturen der bürokratischen Macht und Mobilisierung bewiesen sich als eine dynamischere sowie allgemeinere Erscheinung auf der internationalen Ebene, als Trotzkis je vorstellte. (Anderson 1984a: 125-6) In der Tat:

Der Stalinismus ... bewies sich nicht nur als Apparat, sondern als Bewegung – die nicht nur fähig war, die Macht in einer rückständigen von Mangel beherrschten Umwelt (in der UdSSR) zu behalten, sondern auch in noch rückständigeren und mittelloseren Umwelten (in China, in Vietnam) die macht tatsächlich zu erobern. (Anderson 1984a: 127)

In Einklang mit dem Gegensatz zwischen dem Osten und Westen, der ein Hauptthema in Andersons historischen Schriften ist, scheint es, daß, während eine klassische revolutionäre Strategie den bürgerlichen Demokratien des fortgeschrittenen Kapitalismus angemessen bleibe (Anderson 1976-7), der Stalinismus die normale von antikapitalistischen Bewegungen in der Dritten Welt angenommene Form sei. (s. z.B. die verdächtig Andersonschen Töne der Kritik der „sektiererischen Arbeitertümelei“ der Arbeiterpartei Brasiliens in Sader 1987)

Andere Redakteure der NLR zogen ausgesprochen Deutschersche Schlußfolgerungen aus dieser Analyse. So argumentierte Fred Halliday, der Zweite Kalte Krieg, der Ende der 1970er Jahre ausbrach, sei eine Fortsetzung des Deutscherschen „Großen Wettkampfs“, ein „zwischensystemischen Konflikt zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus“, worin die Sympathien der westlichen Linke mit dem Ostblock als der wie auch immer bürokratisch verzerrten Verkörperung des Weltproletariats im weltweiten Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit sein sollten. (Halliday 1983) Und als die Spannungen zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt mindestens befristet in der Ära des Glasnost und der Perestroika gelindert wurden, bejubelte Tariq Ali – der den Einfluß von Isaac Deutscher, Leo Trotzki und Ernest Mandel (in dieser Ordnung) zugab – Gorbatschow als Vermittler der „politischen Revolution“ (die schon im Gänge sei) in der UdSSR, einer „Revolution von oben“, die durch die Abhängigkeit des Überlebens der Sowjetunion von der „Abschaffung der bürokratischen Kaste“ diktiert werde. (Ali 1988: ix, xii) Die Verbindung zwischen dieser Schlußfolgerung, die die stalinistischen Staaten auf einer Weltebene und den Reformflügel der sowjetischen Bürokratie im inneren als fortschrittliche Kräfte darstellt, und der orthodox-trotzkistischen Theorie der bürokratischen Arbeiterstaaten soll angesichts des jetzigen Kapitels sowie des letzten klar sein. Betrachten wir jetzt die Ideen derjenigen Trotzkisten, die die Theorie ablehnten, um solche Schlußfolgerungen zu vermeiden.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.12.2007