Alex Callinicos

 

Trotzkismus

 

4. Ketzereien

 

4.1 Max Shachtman und das Reich der Bösen

„Wir alle auf der amerikanischen trotzkistischen Linke sind Kinder der Spaltung 1940,“ schrieb vor kurzem der Veteran Tim Wolforth. (1989: 45) Die Gründung der Workers’ Party (WP) im April von Max Shachtman und anderen dissidenten Führern der amerikanischen SWP sollte tatsächlich langfristige politische Auswirkungen haben. (Für eine Geschichte der Shachtmanschen Bewegung s. Fisk 1977) Obwohl die WP formell bei der 4. Internationale bis 1948 blieb, wurde die Idee, daß die UdSSR eine neue Form der Klassengesellschaft – der bürokratische Kollektivismus – sei, Shachtman und die Mehrheit seiner Anhänger sehr weit vom Trotzkismus und zwar von der marxistischen Tradition überhaupt führen.

Der Ausdruck „bürokratischer Kollektivismus“ stammt nicht von Shachtman, der ihn erst 1941 annahm, sondern von Bruno Rizzi. Rizzi argumentierte: „Die UdSSR stellt eine neue Art Gesellschaft dar, die von einer neuen sozialen Klasse geherrscht wird ... Das Kollektiveigentum gehört effektiv dieser Klasse, die ein neues und überlegenes Produktionssystem eingeführt hat.“ (Rizzi 1985: 54) Die Produktionsverhältnisse unterschieden sich von denen des Kapitalismus sowie des Sozialismus. Eigentlich, sagt Rizzi, „passiert [die Ausbeutung] genau wie in einer Sklavengesellschaft“ und „der Arbeiter des heutigen Rußlands“ zeige jetzt „die Merkmale eines Sklaven“, der zum Status eines „Viehs [reduziert wird], um das man kümmern muß, das man behausen muß und dessen Reproduktion für den Meister von großer Bedeutung ist“. (Rizzi 1985: 80) Rizzi erkannte das gleiche im Nazideutschland und im faschistischen Italien auftauchende Muster: „In diesen Regimes kündigt eine neue sich bildende Managerklasse an, daß das Kapital zur Verfügung des Staats steht.“ (Rizzi 1985: 60) James Burnham, der am Anfang Partei mit Shachtman gegen Trotzki und Cannon im Fraktionskampf 1939-40 ergriff aber im Laufe der Debatte mit dem Marxismus brach (Burnham 1940), entwickelte eine Analyse, die sich der von Rizzi sehr ähnelte, in einem berühmten erst 1941 veröffentlichten Buch, The Managerial Revolution. Auch er spürte eine weltweite [globale] am vollsten in der UdSSR realisierte Tendenz dazu, den Kapitalismus durch eine neue Produktionsweise – die „Managergesellschaft“ – zu ersetzen, aber konsequenter als Rizzi zog er die Schlußfolgerung. „den Sozialismus kann man nicht in der jetzigen Periode erringen oder sogar ihm in etwa entsprechen“. (Burnham 1962: 53) Diese Analyse erlaubte See Burnham, sich rasch nach rechts zu bewegen, und bis Ende der 1940er Jahre wurde er ein Befürworter eines präventiven Atomkriegs gegen die Sowjetunion. (Wald 1987: 189-90) Es scheint, daß Rizzi, ein Handelsreisender für Schuhe, bloß am Rande der trotzkistischen Bewegung stand und der Lob, den er Hitler und Mussolini wegen ihres Antisemitismus gab – „Wir müssen antijüdisch weil antikapitalistisch werden“ – läßt sich vorschlagen, daß seine wirkliche im „nationalrevolutionären“ Flügel des europäischen Faschismus war – obwohl das nicht Bettino Craxi, Führer der Sozialistischen Partei Italiens Ende der 1970er Jahre, daran gehindert hat, sich für ihn einzusetzen. (s. Westoby 1985)

Anders als Burnham und Rizzi stellte Shachtman sich der Schlußfolgerung entgegen, daß der bürokratische Kollektivismus in Rußland die Welle der Zukunft eher als eine „Sackgasse“ darstelle. (Shachtman 1962: 291) Eigentlich ist es bemerkenswert, wie sehr seine frühen Schriften über das Thema bloß Trotzkis Analyse des Stalinismus übernahmen und sich von ihr hauptsächlich in einigen äußerst wichtigen theoretischen Schlußfolgerungen unterschieden. So atmet Shachtman mit Trotzki überein, das stalinistische Rußland sei eher eine nachkapitalistische Gesellschaft als eine Variante des Kapitalismus. Der Staatskapitalismus im sinne einer Gesellschaft, wo alle Produktionsmittel verstaatlicht seien, die aber immer noch der Dynamik des Kapitalismus unterworfen bleibe, sei unmöglich.: „Die Norm des Kapitalismus ist das Privateigentum des Kapitals.“ (Shachtman 1962: 279; vgl. Trotzki 1970: 245-8) Shachtman stimmte aber nicht mit Trotzki überein, das die Verstaatlichung eine ausreichende Bedingung für das Bestehen eines Arbeiterrats sei. Im Gegenteil: „Die Verhältnisse des Proletariats zum Eigentum, zum neuen kollektivistischen Eigentum sind mit ihren Verhältnissen zum Staat, d.h. zur politischen Macht unteilbar verbunden.“ (Shachtman 1962: 41) Daraus folgt: „Die in Trotzkis Analyse definierte politische Enteignung des Proletariats ist nichts anderes als die Vernichtung der Klassenherrschaft der Arbeiter, das Ende des Arbeiterrats.“ (Shachtman 1962: 46) Ein Arbeiterstaat, worin, wie Trotzki zugab, die Arbeiterklasse nicht mehr die politische Macht hätte, sei ein Widerspruch an sich.

Shachtman hatte mehr Erfolg dabei, die Widersprüchlichkeiten in Trotzkis Analyse bloßzulegen, als dabei, sie durch eine bessere Theorie zu ersetzen. Im historischen Materialismus sind Produktionsweisen von kennzeichnenden Formen der Entfernung des Überflusses, der Kontrolle über die Produktivkräfte und der Verhältnisse unter den Ausbeutern charakterisiert, von denen man bestimmte Tendenzen (“Gesetze der Bewegung“) ableiten kann. (Callinicos 1987a: Kap.2) Trotzdem erfolgte keine ausgearbeitete Darstellung dieser Merkmale des bürokratischen Kollektivismus. Shachtman folgte Rizzi, indem er die Arbeiterklasse in der UdSSR als „moderne Sklaven“ beschrieb, „denen jede politische Macht überhaupt und deshalb alle ökonomische Macht entzogen wurden“. (Shachtman 1962: 279) Aber diese Behauptung faßte die Tatsachen um, daß man die sehr hohe Ebenen der Beweglichkeit der Arbeit ignorierte –besonders während des Ersten eines Fünfjahrplans (1928-32) –, was Beweismaterial für das Bestehen eines Arbeitsmarkts auch beim Höhepunkt der Nötigung der Masse der Bevölkerung seitens des Regimes, und daß man die Wichtigkeit der Arbeitslager Überbetonte, die zur Zeit ihrer weitesten Verbreitung ein Nebenmerkmal der sowjetischen Wirtschaft waren. (s. z.B. Filtzer 1986) Shachtmans Darstellung der gesellschaftlichen Prioritäten der Produktion in der UdSSR war ebenso unzulänglich. Er schrieb: „Im stalinistischen Staat wird die Produktion geführt und ausgedehnt, um die Bedürfnisse der Bürokratie zu befriedigen.“ (Shachtman 1962: 58) Trotzki hatte ähnlich argumentiert aber für Shachtman bestand die Implikation darin, daß das Ziel der Ausbeutung unter dem bürokratischen Kollektivismus – wie laut Marx es unter dem Feudalismus war – der Konsum der herrschenden Klasse sei. Das eindeutigste Problem mit so einer Ansicht bestand im riesigen Anteil des sowjetischen Nationaleinkommens, der für die Produktion von Kapitalgütern bestimmt war, was eine Widerspiegelung der auf der die Schwerindustrie und das Militär gelegten Prioritäten war. Dieses Muster deutet der Reihe nach darauf hin, genau wie die Herrscher der UdSSR selbst den Zwängen unterworfen waren, die von ihrer Verwicklung im internationalen Staatensystem der gegenseitig konkurrierenden Militärmächte ableiteten. Aber solche Faktoren spielten bei Shachtmans Analyse keine Rolle.

Diese Schwächen der Theorie des bürokratischen Kollektivismus – die Tony Cliff zusammenfaßte, als er sagte: „Sie definiert nicht die ökonomischen Gesetze der Bewegung des Systems, erklärt nicht die innewohnenden Widersprüche sowie die Motivation des Klassenkampfs.“ (Cliff 1982: 99) – gab ihr eine Unklarheit, die wichtige politische Konsequenzen haben wurde. Shachtmans Bestehen darauf, daß die UdSSR eine neue Form der Klassengesellschaft sei, die von den Widersprüchen des Kapitalismus produziert worden sei, aber daß der Sozialismus immer noch auf der Tagesordnung stehe als eine Lösung dieser Widersprüche, die dem bürokratischen Kollektivismus überlegen sei, machte einen dramatischen politischen Salto möglich. Am Anfang blieb die WP für die bedingte Verteidigung der UdSSR im Krieg engagiert mit der folgenden beim Konvent 1941 zusammengefaßten Begründung: „Vom Standpunkt des Sozialismus ist der bürokratisch-kollektivistische Staat eine reaktionäre Gesellschaftsordnung; im Verhältnis zur kapitalistischen Welt steht er auf einer historisch fortschrittlicheren Ebene.“ (zit. in Cliff 1982: 87) Nach dem deutschen Einmarsch in die UdSSR Juni 1941 entschied aber die WP, eine revolutionär-defätistische Haltung, ähnlich Lenins während des Ersten Weltkriegs, zu halten, mit der Begründung, daß Rußland ein „Vasall“ des westlichen Imperialismus geworden sei. (Cliff 1982: 88-9) Ein solches Argument konnte nicht das überleben, was Shachtman selbst als die stalinistische „Konterrevolutionäre Revolution“ in Osteuropa beschrieb. Bis 1947 argumentierte Shachtman, daß, weit davon entfernt, fortschrittlicher als den Kapitalismus zu sein, „der Stalinismus ... genau eine der Formen der Barbarei [ist], die sich im Laufe des Zerfalls einer Gesellschaft manifestiert, wo das Proletariat noch nicht dabei Erfolg gehabt hat, sie auf einer vernünftigen Ebene abzuschaffen“. (Shachtman 1962: 87)

Der Begriff „Barbarei“ hat eine sehr bestimmten Sinn [eine sehr bestimmte Bedeutung] innerhalb der marxistischen Tradition; man verwendet ihn, um von Formen der gesellschaftlichen Rückentwicklung zu sprechen, von Rückgängen unter das Niveau der bislang errungenen Entwicklung der Produktion. Den Stalinismus wie Shachtman „die neue Barbarei“ zu nennen (Shachtman 1962: 32), ließ darauf schließen, daß Sozialisten mit dem Kapitalismus Partei gegen den bürokratischen Kollektivismus nehmen sollten, mit der höheren gegen die niedrigere Form des historischen Fortschritts. Die Shachtmansche Gruppe, die als die International Socialist League (ISL) in Einklang mit gesenkten Erwartungen nach dem Krieg umbenannt wurde, folgte dieser Logik in ihrer Politik in der amerikanischen Arbeiterbewegung, wo die Kommunistische Partei etwas Einfluß bis zum ende des Kriegs errungen hatte. Shachtman argumentierte, daß von den beiden großen Feinden des Sozialismus, dem Kapitalismus und dem Stalinismus, sei „innerhalb der Arbeiterklasse und ihrer Bewegung ... der Stalinismus der größere und gefährlichere der beiden“, „eine reaktionäre totalitäre antibürgerliche und antiproletarische Strömung in der Arbeiterbewegung, aber nicht von der Arbeiterbewegung“, die nur durch „die Vernichtung der Arbeiterklasse“ erfolgreich sein könnte. Deshalb sollte die ISL „die Führung der Reformisten, die in ihrer Weise darauf zielen, eine Arbeiterbewegung zu wahren, vor der Führung der stalinistischen Totalitären bevorzugen, die darauf zielen, sie auszurotten“, als Teil des Prozesses der „Ausschaltung“ des stalinistischen „Gifts“, der „den ersten Anspruch auf die Aufmerksamkeit jedes Militanten erhebt“. (Shachtman 1962: 308-9)

Diese Analyse des Stalinismus als anfangende Barbarei widerspiegelte sehr die Stimmung eines Teils der westlichen Linke während der 1940er Jahre. Schon zu ende der 1930er Jahre hatte eine Zahl von amerikanischen Intellektuellen, die früher dem Trotzkismus wohlwollend waren –unter ihnen Max Eastman, Sydney Hook und Edmund Wilson –, damit angefangen, sich als Reaktion auf dem Stalinismus in Richtung der Sozialdemokratie zu bewegen. (Burnham u. Shachtman 1939) Die Siege der Nazis im ersten Teil des Kriegs ermutigten einige deutsche Trotzkisten im Exil dazu, die „Entwicklung eines modernen Sklavenstaats“ als Teil eines allgemeineren Prozesses der sozioökonomische Rückentwicklung zu erkennen. (IKD Komitee im Ausland 1943) Der Triumph des Totalitarismus über eine zerfallende Zivilisation ist natürlich das Hauptthema von 1984 (Orwells Erfahrungen in Spanien hatten ihn früher zu einer antistalinistischen Variante des Marxismus angelockt), aber man kann es auch in den früheren Romanen von Norman Mailer finden – besonders im Roman Barbary Shore, der seinen kurzen Flirt mit dem Trotzkismus widerspiegelt. (s. Cannons vernünftige Diskussion des Romans in Cannon 1973b: 212-7) Trotzki hatte die politische Konsequenz solcher Ansichten – die Stalinophobie, die zur Unterstützung des westlichen Kapitalismus führt – unter seinen Verbündeten im Fraktionskampf in der amerikanischen SWP wahrgenommen. Bei seinem letzten Treffen mit der SWP-Führung Juni 1940 griff Trotzki sie für eine „passive Anpassung“ an pro-Rooseveltsche „Progressive“ innerhalb der Teamsters Union (Gewerkschaft der LKW-Fahrer) an und bestand gegen Cannons Widerstand darauf, „die Stalinisten sind ein legitimer Teil der Arbeiterbewegung“, die „überhaupt nicht von anderen oppositionellen Arbeiterbürokratien zu unterscheiden“ seien. (Trotzki 1973d: 280, 282) Es war aber Shachtman, der Ende der 1940er Jahre die Stalinophobie zu ihrer logischen Schlußfolgerung trieb, indem er argumentierte, die westlichen Kommunistischen Parteien seien lediglich die Agenten [Vermittler] der bürokratischen Revolution. Der Mangel dieser Analyse bestand darin, daß sie die von Trotzki (z.B. 1974: 70-2) bemerkte Tendenz der Kommunistischen Parteien sehr unterschätzte, sich von ihrer Unterordnung zum russischen Staat zu lösen und Wurzeln der gleichen auf Kontrolle eines Gewerkschaftsapparats basierten Art und eine ähnliche Wahlstrategie zu entwickeln wie die sozialdemokratischen Parteien – eine Tendenz, die mit der Entstehung des Eurokommunismus während der 1970er Jahre offenkundig wurde. (Für eine Kritik der Shachtmanschen Analyse s. Hallas 1971)

Die politische Bedeutung des Arguments war viel direkter in der USA am Ende der 1940er Jahre. Die Unterstützung Shachtmans für die „Ausschaltung“ des Stalinismus aus der Arbeiterbewegung stimmte mit der Kampagne überein, die Gewerkschaften von Anhänger der Kommunisten säubern, eine notwendige für die Entradikalisierung der amerikanischen Arbeiterklasse nach dem Krieg. (s. z.B. Davis 1986: Kap.2) Daher unterstützte die WP Walter Reuther in seinem Kampf dafür, die Kontrolle über die United Auto Workers (Gewerkschaft der Autobauer) von den Kommunisten und ihren Verbündeten 1946-7 zu gewinnen, was eine wichtige Episode in diesem Prozeß war. (Fisk 1977: 22-4) Das war der Anfang der allgemeineren Identifikation der Shachtmaniten mit dem Atlantikbündnis gegen den Ostblock. Ende der 1940er Jahre veranließen die Desillusionierung mit der UdSSR und die Hysterie des Kalten Kriegs viele früher radikale weltoffene Intellektuelle dazu, überstürzt in die Arme der amerikanischen Regierung zu fallen. Die davon ergebende Erscheinung des „CIA-Sozialismus“ läßt sich durch eine später von Lionel Trilling erinnerte Szene zusammenfassen. Bei einem Treffen des American Committee for Cultural Freedom rief Norman Thomas, Führer der Socialist Party, Allen Dulles, den Direktor der CIA an, um ihn erfolgreich um Geld zu bitten, so daß das Komitee weiter machen könnte. (Bloom 1986: 24) Die Shachtmaniten stammten zum großen Teil aus dem Milieu der New Yorker Intellektuellen und wurden deshalb sehr stark von dieser Entwicklung zum „liberalen Antikommunismus“ beeinflußt. (Bloom 1986: Kap.10-11; Wald 1987: Kap.6-9) Die ISL löste sich 1959 in die Socialist Party-Social Democratic Federation auf, was sich bloß als eine Etappe zum Eintritt in die Democratic Party bewies, wo Shachtman ein getreuer Anhänger der Kalten Krieg betreibenden Rechte wurde, die US-Intervention in Vietnam unterstützte und sogar Richard Nixon in der Präsidentschaftswahl 1972 billigte.

Eine von Hal Draper geführte Minderheit stellte sich dieser Evolution entgegen und gründete 1964 die Independent Socialist Clubs (ISC), die neue Mitglieder aus der Studenten- und aus der Antikriegsbewegung gewannen und 1969 die International Socialists wurden. Aber die International Socialists waren immer noch von den Mehrdeutigkeiten des Begriffs des bürokratischen Kollektivismus verfolgt, die Shachtman laut Wolforth zum „ursprünglichen Theoretiker des Reichs der Bösen“ machten. (Wolforth 1988b: 44) Die Suche nach einem „dritten Lager“ hinderte die ISC daran, eine effektive Kampagne gegen den Vietnamkrieg zu organisieren. (Fisk 1977: 42-5) Seit Mitte der 1970er Jahre entwickelten die International Socialists zusammen mit einem großen Teil der übrigen amerikanischen Linke eine ziemlich unkritische Begeisterung für Bewegungen in der Dritten Welt wie die Sandinisten, obwohl man diese ebenso plausibel als bei den Vietcong als Agenten [Vermittler] der bürokratisch-kollektivistischen Revolution bezeichnen könnte. Das ermöglichte es 1985 den International Socialists sowie einer anderen Gruppierung Shachtmanscher Herkunft, Workers Power, zusammen mit dissidenten Mitgliedern der amerikanischen SWP eine neue breitere linksradikale Organisation zu bilden [gründen].

Die Idee, daß die UdSSR und ihresgleichen nachkapitalistische Klassengesellschaften seien, hat Unterstützung außerhalb der Shachtmanschen Bewegung woanders auf der amerikanischen Linke (z.B. Wright 1983) und unter dissidenten Marxisten im Ostblock selbst. (s. vor allem Kagarlitzki 1988; Bahro 1978) Aber die Geschichte von Shachtman und seinen Anhängern deutet darauf hin, daß in Ermangelung einer zusammenhängenden Theorie der neuen Produktionsweise der Begriff des bürokratischen Kollektivismus hauptsächlich als Mittel fungiert hat, wodurch ihre Anhänger sich an die derzeitige [aktuelle] Stimmung auf der dortigen Linke anpassen konnten.

 

 

4.2 C.L.R. James und die Vorteile der Spontaneität

Seit der Zeit der Linken Opposition in den 1920er Jahren hatte es aber immer Trotzkisten gegeben, die diese Voraussetzung in Frage stellten und argumentierten, die UdSSR und ihre Nachbildungen stellten nicht eine neue Produktionsweise dar, sondern eine Variante der aktuellen, nämlich den Staatskapitalismus. Die Johnson-Forest-Tendenz in den USA – so genannt nach den Pseudonymen ihrer zwei wichtigsten Führer, C.L.R. James (J.R. Johnson) und Raja Dunajewskaja (Freddie Forest) – lieferte eine einflußreiche Formulierung dieser Idee; in einem Dokument, das sie dem Konvent der amerikanischen SWP 1950 vorlegten, argumentierten sie: „Das Staatseigentum und die Gesamtplanung sind nichts anders all die absolute Unterordnung des Proletariats dem Kapital.“ (James 1986a: 51) Die Johnson-Forest-Tendenz hatte ursprünglich die SWP 1940 mit den Shachtmaniten gelassen. aber als Reaktion auf den Drang der WP nach rechts trat sie wieder in die SWP ein, aber schließlich brach sie 1950 mit der 4. Internationale. Danach überlebte sie als eine kleine aber lebendige Gruppe von Arbeitern und Studenten, die ihre Hauptstützpunkt in Detroit hatte. Ursprünglich Correspondence genannt erfuhr die Gruppe eine Reihe Spaltungen, vor allem in 1955, als Dunajewskaja austrat, um ihre eigene Publikation News and Letters zu gründen. Trotzdem übte sie einen bedeutenden wenn auch diffusen Einfluß aus auf einer der wichtigsten Bewegungen der 1960er Jahre, die League of Revolutionary Black Workers, die einen großen größeren Eindruck in einigen Detroiter Autobetrieben am Ende des Vietnamkriegs machte. (Georgakas 1986)

C.L.R. James ist eins der wichtigsten Gegenbeispiele gegen die Anklage des Eurozentrismus, die manchmal gegen die trotzkistische Bewegung erhoben wird. Eigentlich zogen Trotzkis Ideen seit den frühen Jahren der Linken Opposition Unterstützung von außerhalb der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, zuerst in China. (Wang 1980) Die vietnamesischen Trotzkisten genossen populäre Unterstützung in Saigon, bis sie September 1945 von der Kommunistischen Partei physisch unterdrückt wurden. Der Trotzkismus erschien während des Zweiten Weltkriegs zum ersten Mal auf dem indischen Subkontinent und konnte – obwohl unter seltsamen Bedingungen und mit tragischen Ergebnissen – eine größere Kraft in der Politik Sri Lankas werden. (Ervin 1988-9) Die trotzkistische Bewegung in Südafrika lieferte der britischen RCP einige ihrer wichtigsten Führer (Ted Grant, Millie Lee) und hat durch die Unity Movement und kürzlicher durch die Cape Action League einen dauerhaften Einfluß in den Townships des Westkaps ausgeübt. (Callinicos 1988: Kap.4) Im Nahen Osten zog der Trotzkismus eine solche beeindruckende Persönlichkeit an wie Dschabra Nicola, einen Führer der Kommunistischen Partei Palästinas. (s. Mandel 1979b: xii; Cliff 1987: 14)

James war aber einzigartig. Cricketspieler, Romanschriftsteller, Theoretiker, Agitator, Kritiker – James hatte durch die Vielfalt seiner Begabungen, die Kraft seiner Persönlichkeit und die Überzeugungskraft seiner Redekunst eine dauerhafte Auswirkung auf denjenigen, deren Leben er berührte. (Buhle 1986; 1988) Bald nach seiner Ankunft in Großbritannien aus Trinidad in 1932 las er Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution, eins der zwei Bücher (das andere war Spenglers Untergang des Westens), die ihn zum Marxismus bekehrten. James trat in die Marxist Group ein, eine trotzkistische Gruppe, die 1934 in die Independent Labour Party eingetreten war, er wurde rasch ein führendes Mitglied und spielte eine wichtige Rolle in der Kampagne gegen den italienischen Einmarsch in Abessinien. (Bornstein u. Richardson 1986a: Kap.6, 8-10) Trotzki hatte geschrieben: „Was den Bolschewismus in der nationalen Frage charakterisiert, ist, daß in seiner Haltung zu unterdrückten Nationen, auch den rückständigsten, er sie nicht nur als Objekt sondern auch als das Subjekt der Politik betrachtet.“ (Trotzki 1971a: 203) Diese Haltung unterliegt ein Hauptthema der Arbeit von James – sein Anliegen für die Befreiung der Kolonialvölker, besonders in Afrika und in der afrikanischen Diaspora in Amerika. Während der 1930er Jahre drückte sich das aus in seiner Zusammenarbeit mit George Padmore im International African Service Bureau, eine wichtige Quelle des Panafrikanismus, (James 1983: 268-70) und in seinen Diskussionen mit Trotzki darüber, wie man die SWP an der Schwarzenbefreiungsbewegung beteiligen könnte, die nach den Erwartungen der beiden in den USA entwickeln würde. (Trotzki 1972c) Aber bei weitem war James’ größte Leistung zur Rechtfertigung der Schwarzen als Agenten [Vermittler] der eigenen Befreiung eher als bloß Opfer der Unterdrückung sein zuerst 1938 veröffentlichtes Meisterwerk The Black Jacobins [Die schwarzen Jakobiner]. Hier setzte er den großen Sklavenaufstand von 1791, der Sainte Domingue von einer französischen Kolonie in die Republik Haiti verwandelte, in den Kontext der atlantischen Weltwirtschaft und der Französischen Revolution, indem er die Wechselwirkung zwischen Auf- und Abschwung der populären Mobilisierung in der Karibik und in Paris demonstrierte und solche große schw Shachtman teilte mit dem orthodoxen Trotzkismus die folgende Voraussetzung, mit den Worten von Ted Grant: „Wo man die völlige Verstaatlichung hat, ändert sich die Quantität in die Qualität, der Kapitalismus ändert sich in seinen Gegensatz.“ (Grant 1989: 217-8) Seit arze Führer wie Toussaint Louverture und Dessalines der von E.P. Thompson genannten „großen Herablassung der Nachwelt“ rettete. Ein Klassiker der marxistischen Geschichtsschreibung, The Black Jacobins war ein größerer Einfluß auf Werken wie Capitalism and Slavery [Kapitalismus und Sklaverei] von Eric Williams und ein Vorgriff der von Thompson und anderen britischen Marxisten nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten „Geschichte von unten“. Aber es war auch als politische Intervention beabsichtigt, es wurde inmitten „des Donners der Francoschen Schwerartellerie, des Knatterns der stalinistischen Exekutionskommandos und der heftigen schrillen Hektik der nach Klarheit und Einfluß strebenden revolutionären Bewegung“ geschrieben (James 1963: xi) und besonders darauf gezielt, den Kampf um die Befreiung Afrikas von der Kolonialherrschaft zu fördern. (James 1983: 267-8)

James fuhr 1938 in die USA auf einer Redenrundreise für die SWP und verbrachte die nächsten fünfzehn Jahre da. Seine Behauptungen, eine besondere Version des Marxismus entwickelt zu haben, müssen sich auf dieser Periode beruhen. Die Theorie, die er in der Johnson-Forest-Tendenz entwickelte, faßte eine philosophische Methode, eine Analyse des Kapitalismus und eine Vorstellung der revolutionären Organisation um. James selbst betrachtete seine Notes on Dialectics [Notizen über die Dialektik] – ursprünglich eine Reihe Briefe über Hegels Logik, die er 1947 schrieb – als sein wichtigstes Werk. (1986b: 165) Eigentlich ist außer der gelegentlichen glänzenden Einsicht das Buch philosophisch gesehen uninteressant, es besteht hauptsächlich aus langen Auszügen aus Hegel, die James dann erläutert und zu illustrieren versucht, indem er sie auf Debatten in der 4. Internationale anwendet. Was James hauptsächlich von Hegel erfuhr, war eine Seite der Dialektik, die häufig von anderen Marxisten kritisiert wird, nämlich die Einverleibung aller Aspekte der Realität in einem integrierten Ganzen in so einer Weise, daß jedes Ereignis, auch das offenbar destruktivste, als Teil eines Prozesses zu verstehen sei, die unwiderstehlich nach seinem innewohnenden Ziel anstrebe. (s. Callinicos 1983: Kap.1-3) So sagte James seinen Anhängern: „Der Stalinismus ist ein bitteres Hindernis. Aber man soll ihn als Teil eines Prozesses betrachten.“ (James 1980: 30) Die Geschichte schien zu James, wie zu Hegel zu Zeiten, als eine objektive Teleologie, deren Ergebnis prädeterminiert [vorherbestimmt] sei, worin die „Unvermeidlichkeit des Sozialismus ... eine Notwendigkeit des logischen dialektischen Denkens“ sei. (James 1980: 97)

Teleologische Versionen der Geschichte sind oft für Revolutionäre anziehend [attraktiv] in Zeiten der Niederlage wie zu Ende der 1940er Jahre, da sie anscheinend die Sicherheit des Endsiegs anbieten. (Gramsci 1971: 336 ff.) Aber James’ Griff zu Hegel faßte mehr um. Sein Anliegen war es, Trotzkis Analyse des Stalinismus herauszufordern, wonach der Stalinismus eine Abweichung [Anomalie] sei, dessen internationaler Einfluß die Täuschung und den Verrat der Weltarbeiterklasse umfasse. Der Stalinismus sei vielmehr „eine notwendige, eine unvermeidliche Entwicklungsform der Arbeiterbewegung. Die Arbeiter sind nicht falsch. Sie werden nicht getäuscht ... Sie machen eine Erfahrung, die für die eigene Entwicklung notwendig ist.“ (James 1980: 30) Die soziale [gesellschaftliche] Basis des Stalinismus besteht aus dem Kleinbürgertum, das in der Ära des Staatskapitalismus weit davon entfernt, das Privateigentum verteidigen zu wollen, versucht, es abzuschaffen, mit der Unterstützung der Arbeiterklasse. (James 1980: 182 ff.) „Wie die Sozialdemokraten die Arbeiterbürokratie der Ära des Monopolkapitalismus war, sind die Stalinisten die Arbeiterbürokratie der Ära der ‚staatskapitalistischen Trusts und Syndikate‘.“ (James 1986a: 6-7)Weit davon entfernt, daß die stalinistischen Verratstaten aus dem Druck des Privatkapitals im Westen auf der russischen Bürokratie entstehen, seien sie Ergebnis [Konsequenz] der Bildung des Staatskapitalismus in der Sowjetunion, der selbst ein Extremfall der globalen Tendenzen sei. Der Staatskapitalismus sei nicht eine Erscheinung, die der UdSSR und ihren Satelliten exklusiv seien, sondern ein allgemeines Merkmal der Weltwirtschaft im Westen sowie im Osten. In der Tat: „Die stalinistische Bürokratie ist die zu ihrer endgültigen und logischen Schlußfolgerung durchgeführte amerikanische [Arbeiter-]Bürokratie, und beide sind Produkte der kapitalistischen Produktion in der Epoche des Staatskapitalismus.“ (James 1986a: 43)

Diese Analyse war vom folgenden Glauben durchdrungen: „Das neue Produktionssystem des Sozialismus unterscheidet sich in erster Linie durch eine ganz neue Organisation der Arbeit innerhalb des Produktionprozesses selbst, in einer Neuorganisierung der Gesellschaft, die im Betrieb anfängt, dem Zentrum der Produktionsverhältnisse.“ (James 1986a: 31) Der Fehlschlag Trotzkis und seiner orthodoxen Anhänger liege darin, daß sie sich stattdessen auf das abstrakte Kriterium des verstaatlichten Eigentums veranließen und die grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen dem Produktionsprozeß in der UdSSR und im Westen ignorierten. (James 1980: 127 ff.) Diese Kritik war Teil einer allgemeinen Ablehnung des Trotzkischen Denkens: „Trotzki ... machte keinen Beitrag zum Kampf um den internationalen Sozialismus. In jeder ernsthaften Frage war er falsch.“. (James 1980: 137) Diese Verachtung von Trotzki datierte anscheinend auf James’ persönliche Begegnungen mit ihm zurück. Als er sich an ihr Treffen in Mexiko April 1939 erinnerte (James 1986b: 166), machte James das merkwürdige Eingeständnis, er „beachtete nicht“ einige von Trotzkis interessantesten Überlegungen über die Schwächen der 4. Internationale. (Trotzki 1974: 249-59; s. Teil 1.1 oben) Jedenfalls verließ James sich jetzt für Inspiration auf Lenin, dessen Schriften von 1917-23 „größtmögliche Quelle des theoretischen Verständnisses und der Einsicht in die heutige Welt“ seien. Der Jamessche Lenin war aber ein merkwürdiger, dessen Staat und Revolution die Ablehnung jeder Avantgarde-Partei darstelle. (James 1980: 140-1) In der Epoche des Staatskapitalismus bestehe die vorherrschende Tendenz darin, daß die Unterscheidung zwischen der revolutionären Partei und der Arbeiterklasse zusammenbreche. James war besonders von der Kommunistischen Partei Italiens beeindruckt, die nach seiner Behauptung Ende der 1940er Jahre 6-7 Millionen Mitglieder hatte: „In Italien ist die Partei schon die Masse. In diesem Sinne ist der Widerspruch [zwischen Partei und Klasse] auf dem Weg zum Verschwinden..“ (James 1980: 119) Revolutionäre sollten nicht mehr versuchen, Avantgarde-Parteien nach dem bolschewistischen Muster aufzubauen. Im Gegenteil: „Die Aufgabe besteht darin, Organisation abzuschaffen. Die Aufgabe heute besteht darin, die Spontaneität aufzurufen, zu lehren, zu illustrieren, zu entwickeln – die freie Schaffungstätigkeit des Proletariats.“ (James 1980: 117) James feiert die Ungarische Revolution von 1956, eine deren „größten Errungenschaften ... war es, die Legende zu zerstören, die Arbeiterklasse könnte nicht erfolgreich handeln außer unter der Führung einer politischen Partei“. (James u.a. 1974: 10) Die tagtäglichen Kämpfe der sich gegen die Ausbeutung in den Betrieben wehrenden Arbeiter, die sich z.B. in der britischen Shop-Stewards-Bewegung manifestierten, „bilden die sozialistische Gesellschaft und den grundsätzlichen Kampf für den Sozialismus“, worauf Revolutionäre sich „ausrichten“ sollten, statt zu versuchen, ihn zu führen. (James u.a. 1974: 113, 125)

Diese Analyse des Kapitalismus und der „aufstrebenden sozialistischen Gesellschaft“, die an der Arbeit darin in den spontanen Revolten in den Betrieben [Werkstätten] [der Basis] sei, widerspiegelte James’ hegelsche Vertrauen an einem historischen Prozeß, der unvermeidlich die beziehende Ordnung untergraben würde, indem er die unwahrscheinlichsten Werkzeuge dafür verwende. Das erklärt vielleicht seine Begeisterung für die Kommunistische Partei Italiens, deren Führer revolutionäre Impulse unter ihren Anhängern am Ende des Zweiten Weltkriegs systematisch unterdrückt hatten. Es könnte auch solche katastrophale Fehleinschätzungen erklären wie seine Unterstützung für Kwame Nkrumah, den er „einen der größten lebenden Politiker“ und den „Lenin“ der afrikanischen Revolution nannte, oder seinen Lob für den „Humanismus“ von Kenneth Kaunda, weil er „in enger Harmonie mit den ursprünglichen Vorstellungen und Zielen des Marxismus“ stehe. (Buhle 1988: 136-42) James blieb nichtsdestoweniger bis zu seinem Tod in der marxistischen Tradition verwurzelt und bestand darauf: „Die Idee, daß die Befreiung der Arbeiter die Arbeit der Arbeiter selbst sein wird, ist die reine und absolute Wahrheit.“ (James u.a. 1974: 91) Er stellte sich den Drängen vieler seiner Bewunderer entgegen, die unter dem Einfluß des schwarzen Nationalismus argumentierten, daß die Befreiung der Schwarzen nur von einer Bewegung errungen werden könnte, die autonom [unabhängig] von der Arbeiterklasse sei, und er argumentierte dagegen, daß man die weißen Arbeiter zum Kampf gegen den Rassismus gewinnen müsse. (James u. Glabermann 1986) Die in The Black Jacobins beteuerte Allgemeingültigkeit [Universalität] der menschlichen Befreiung war dem Jamesschen Denken bis zum Ende zentral.

 

 

4.3 Cornelius Castoriadis und der Triumph des Willens

Die UdSSR als staatskapitalistisch zu betrachten, erlaubte es James, die Marxsche Identifikation des Sozialismus mit der Selbstbefreiung wiederherzustellen. Es machte es aber in einer Form, die eine sehr starke Ähnlichkeit mit dem „Rätekommunismus“ von Anton Pannekoek und Hermann Görter hatte, die während der frühen Jahre der Komintern das bolschewistische Modell herausforderten und stattdessen dazu tendierten, die Vorrangstellung der Entwicklung der Arbeiterräte aus dem Klassenkampf an der Produktionsstelle zuzuschreiben. Die rigoroseste Version dieser Reaktion auf der Krise der trotzkistischen Bewegung entstand in Frankreich von Cornelius Castoriadis und der Gruppe Socialisme ou Barbarie. Castoriadis – jahrelang unter solchen Pseudonymen wie Paul Cardan und Pierre Chaulieu bekannt – brach mit der Kommunistischen Partei Griechenlands und wurde 1942 Trotzkist. Nach drei risikoreichen Jahren in Athen unter deutscher und dann britischer Besetzung zog er am Ende des Kriegs nach Paris um, wo er sich an einer Fraktion der französischen Sektion der 4. Internationale, der PCI, beteiligte, die sich parallel zu, und in Dialog mit, der Johnson-Forest-Tendenz entwickelte (so spät wie 1959 trug Castoriadis zu James’ Schlüsseldokument Facing Reality bei). Castoriadis und Claude Lefort traten 1949 aus der 4. Internationale aus, um die Zeitschrift Socialisme ou Barbarie zu gründen. Die Gruppe um diese Zeitschrift übte bis zur Auflösung 1966 einen Einfluß aus, der in keinem Verhältnis zur Größe der Gruppe stand, und zählte unter ihren Mitgliedern etliche Persönlichkeiten, die eine wichtige Rolle in der Pariser intellektuellen Szene annehmen wurden – außer Castoriadis und Lefort vor allem den Philosophen Jean-François Lyotard. (s. Curtis 1988)

Wie James argumentierte Castoriadis, der Stalinismus stelle nicht einen historischen Zufall dar, der den Druck des westlichen Kapitalismus auf einem rückständigen revolutionären Staat widerspiegele, sondern eine neue Phase in der Entwicklung des Kapitalismus. Indem sie sich auf der Arbeiterbürokratie und den Mittelschichten beruhten, folgten die Kommunistischen Parteien „einer gleich unabhängigen politischen Linie und einer autonomen Strategie, die sich denen der Bourgeoisie nicht weniger als denen des Proletariats entgegenstellen“. (Castoriadis 1988a, I: 37) Anfänglich betrachtete Castoriadis sie ähnlich wie Shachtman als die Agenten [Vermittler] einer „dritten historischen Lösung, über den Kapitalismus und den Sozialismus hinaus“, als „eine moderne Barbarei ohnegleichen, die eine ungehemmte rationalisierte Ausbeutung der Massen, ihre absolute politische Enteignung und den Zusammenbruch der Kultur erforderlich macht“. (Castoriadis 1988a, I: 50) Später kam Castoriadis aber zur Schlußfolgerung, die UdSSR und die anderen „sozialistischen Länder“ stellten eine Form des „bürokratischen Kapitalismus“ dar. Castoriadis 1988a, I: 67-8) „Die ständige Fusion des Kapitals und des Staats“ sei eine allgemeine [universale] Tendenz, die im Westen völlig wirksam, aber im Osten näher zur Vollendung sei, und sie widerspiegelte „eine identische gesellschaftliche und historische Notwendigkeit“ für

die absolute Konzentration der Produktivkräfte auf der nationalen und internationalen Ebene, die „Planung“ der so konzentrierten Produktion, die Weltherrschaft, die Fusion der Wirtschaft mit dem Staat, die Verstaatlichung der Ideologie und das absolute Zwingen des Proletariats zum Status eines Rädchens im Produktionsapparat.

Der Ausgang dieses Prozesses der Konzentration werde die gewaltsame Bildung „der weltweiten Herrschaft eines einzelnen Staats“. (Castoriadis 1988a, I: 186) Anfang der 1950er Jahre erwartete Castoriadis, daß der Dritte Weltkrieg, den er als bevorstehend betrachtete, die Frage darüber entscheiden würde, welche Supermacht als Oberste hervorgehen würde. Er glaubte, die UdSSR genieße einen größeren Vorteil in diesem Kampf, da ihre „Produktionsverhältnisse ... Ausbeutungsverhältnisse [sind], die die höchst entwickelte Form der Herrschaft des Kapitals über die Arbeit ausdrücken“ (Castoriadis 1988a, I: 187), und 1954 sagte er voraus, daß, falls man die Fortsetzung der damaligen Tendenz annehme, „die russische Produktion würde die amerikanische Produktion übertreffen“ innerhalb eines „relativ kurzen Zeitraums“. (Castoriadis 1988a, I: 265)

Castoriadis’ Verwendung des Ausdrucks „bürokratischer Kapitalismus“, um von der neuen sozioökonomischen Epoche zu sprechen, die der Stalinismus am klarsten darstellte, war in einem bestimmten Sinn irreführend. Er lehnte den Begriff Staatskapitalismus ab mit der Begründung: „Er führt einen zum Gedanken, daß die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus weiter nach dem Verschwinden des Privateigentums, des Markts und der Konkurrenz gelten, was absurd ist.“ (Castoriadis 1988a, I: 9-10) Im Gegensatz dazu: „Der bürokratische Kapitalismus bedeutet lediglich die extreme Entwicklung der tiefsitzenden Gesetze des Kapitalismus, die zur inneren Negation dieser Gesetze führt.“ (Castoriadis 1988a, I: 126) Der bürokratische Kapitalismus war also nicht der Kapitalismus im Sinne, daß von den von Marx formulierten Bewegungsgesetzen der kapitalistischen Produktion bestimmt werde – im Gegensatz dazu: „Die russische bürokratische Wirtschaft hat sich schon von solchen Gesetzen befreit und bildet jetzt ein neues Ganzes, das den Kapitalismus negiert.“ (Castoriadis 1988a, I: 71) –, sondern im Sinne, daß er das Ergebnis des Funktionierens dieser Gesetze sei, besonders der Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Castoriadis kam immer mehr dazu, den bürokratischen Kapitalismus im Westen sowie im Osten als die Phase der historischen Entwicklung zu betrachten, worin der kollektive Wille – hauptsächlich der Bürokratie, aber auch der Arbeiterklasse – die von Marx im Kapital untersuchten objektiven ökonomischen Prozesse ersetze.

Die damit verbundene voluntaristische Gesellschaftstheorie kann man auf drei Ebenen der Castoriadisschen Analyse des bürokratischen Kapitalismus betrachten. Erstens legte er wachsende Betonung auf die Tatsache, daß „im Westen ... der Staat eine ständige Politik der bewußten Intervention [hat], die darauf gezielt ist, die wirtschaftliche Ausdehnung aufrechtzuerhalten“. (Castoriadis 1988a, II: 234) Keynesianische Verfahren der Verwaltung der Nachfrage, die durch die Bürokratisierung des „Privat-“Kapitalismus ermöglicht würden, hätten den Aufschwung nach dem Krieg verursacht. Folglich, anstatt eine in der kapitalistischen Produktionsweise innewohnende Tendenz zu sein, seien „ökonomische Krisen der Überproduktion ... eine relativ oberflächliche Erscheinung, die lediglich einer bestimmten Phase des Kapitalismus gehörten“. (Castoriadis 1988a, II: 252) An sich war dieses Argument identisch mit dem von solchen Theoretikern der rechten Sozialdemokratie in der Zeit nach dem Krieg wie Anthony Crosland und John Strachey. Castoriadis glaubte aber nicht, der bürokratische Kapitalismus sei weniger unterdrückend oder unvernünftig als seine Vorgänger. Er argumentierte zweitens, der Aufschwung nach dem Krieg habe nicht „den grundsätzlichen Widerspruch des Kapitalismus, ob in seiner privaten oder bürokratischen Fromm“ überwunden, „der darin besteht, daß er das Subjekt der Produktion als ein Objekt behandelt“. (Castoriadis 1988a, II: 41) Die zentrale Stoßkraft der kapitalistischen Ausbeutung beste darin, daß sie die Funktionen der Führung und der Ausführung streng voneinander trenne, der Arbeit jegliche Kreativität entziehe und die Kontrolle über den Produktionsprozeß ausschließlich in den Händen des Managements konzentriere. Dieses Projekt lasse sich aber nicht durchführen:

Kein moderner Betrieb könnte für 24 Stunden ohne diese spontane Organisation funktionieren, die Gruppen von Arbeitern unabhängig vom offiziellen Management des Unternehmens durchführen, indem sie die Lücken in den offiziellen Produktionsweisungen decken, indem sie auf dem Unerwarteten und auf regelmäßige Zusammenbrüche der Ausrüstung vorbereiten, indem sie für die Fehler des Managements kompensieren, usw. (Castoriadis 1988a, II: 68)

Das Bestehen dieses, des „wirklichen Subjekts der modernen Produktion, ... einer Kollektivität von Arbeitern“, die anwesend sei in den „elementaren Gruppen“, die sich spontan in den Betrieben „zum Zweck der Produktion und ... zum Zweck des Kampfs“ bildeten. (Castoriadis 1988a, II: 166, 167, 169), bildet das dritte Thema der Castoriadisschen Analyse des bürokratischen Kapitalismus. Der Sozialismus sei lediglich die selbstbewußte organisierte Entwicklung des Widerstands der Arbeiter an der Produktionsstelle, ob dieser Kampf sie in den Konflikt mit der herrschenden Bürokratie im Osten oder mit Managers und Gewerkschaftsfunktionären im Westen gerate. Also: „Die Inhalt der sozialistischen Organisation der Gesellschaft ist erstens die Leitung der Produktion durch die Arbeiter“, die die politische Form der Regierung durch Arbeiterräte nehme, aber sich durch „die Abschaffung jedes getrennten Leitungsapparats und die Rückgabe eines solchen Apparats an die Gemeinschaft der Arbeiter“ bilde. (Castoriadis 1988a, II: 95, 102) Die bürokratische Herrschaft würde in Rußland ermöglicht durch die Ablehnung der Bolschewiki, die Arbeiterkontrolle aufrechtzuerhalten, die sich zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution entwickelt hatte. (Castoriadis 1988a, II: Während „revolutionäre Organisation“ im Kampf gegen das Kapital notwendig sei, sollte ihre Form sich so weit wie möglich der Art dezentralisierter Demokratie ähneln, die in den Arbeiterräten vorherrschen würde. (Castoriadis 1988a, II: 213-4) Sonst würde sie das Muster wiederholen, wodurch die „von der Arbeiterklasse für ihre Befreiung geschaffene Organisationen ... zu Rädchen im Ausbeutungssystem geworden [sind]“. (Castoriadis 1988a, II: 193)

Die Castoriadissche Analyse des bürokratischen Kapitalismus ermöglichte es der Gruppe Socialisme ou Barbarie – wie der Socialist Review Group in Großbritannien (s. Kap.5 unten) und der Johnson-Forest-Tendenz in den USA aber anders als den orthodoxen Trotzkisten – eine der wichtigsten Entwicklungen im Westen nach 1945 zu erkennen, nämlich die Entstehung der Militanz in den Werkstätten von Arbeitern an der Basis, die unabhängig von ihren offiziellen Führern handelten – eine Erscheinung am Herzen der gesellschaftlichen Explosionen (vor allem der Ereignisse von Mai-Juni 1968 in Frankreich), die das Ende des Aufschwungs nach dem Krieg ankündigten. Dieser Zug widerspiegelte einen Widerspruch im Kern seines Denkens. Wenn es, wie er behauptete, „eine autonome Bewegung zum Sozialismus“ gebe, „die im Kampf der Arbeiter gegen die kapitalistische Organisation der Produktion entsteht“ (Castoriadis 1988a, II: 199), was motivierte diesen Kampf in einer Ära, wo die staatliche Intervention die ökonomische Krise überholt [obsolet] gemacht hatte? Als die Castoriadisschen Kritiken der marxistischen Wirtschaftstheorie radikaler wurden (Castoriadis 1988a, II: 242-57), tendierte er dazu, die Tendenz des Kapitalismus dazu zu betonen, „die Gesellschaft völlig [zu] bürokratisieren“, was, behauptete er, „bloß ihre Widersprüche überall verbreitet“. (Castoriadis 1988a, II: 281, 282) Aber da, wie er merkte, die Bürokratisierung des gesellschaftlichen Lebens Apathie und Privatisierung unter den westlichen Massen erzeugte (Castoriadis 1988a, II: 226-7), warum sollte man den Schluß ziehen – wie etwa zur gleichen Zeit Marcuse argumentierte –, daß die Arbeiterklasse in den Kapitalismus integriert worden sei und deshalb ihr revolutionäres Potential verloren habe?

Castoriadis löste dieses Dilemma, indem er den Voluntarismus radikalisierte, die in seiner Vorstellung des bürokratischen Kapitalismus als „innere Negation“ der Bewegungsgesetze des Kapitalismus implizit war. Den Klassenkampf müsse man als einen Prozeß betrachten, worin die Aktionen der Arbeit und des Kapitals „Anlaß zu einer historischen Schaffung, einer Erfindung neuer Organisationsformen, Kampfformen, Lebensformen [geben], die keineswegs in den früheren Zuständen [Umständen] enthalten wurden“. (Castoriadis 1988a, II: 264) In einem zuerst 1964-5 als Serie veröffentlichten Aufsatz machte Castoriadis aus dieser Einsicht die Grundlage einer neuen Geschichtsphilosophie. Er gab jetzt explizit den Marxismus auf und verurteilte ihn als einen „objektiven Rationalismus“ (Castoriadis 1987: 41), dessen Determinismus die wirkliche Dynamik der gesellschaftlichen Änderung verzerre und dessen innere Widersprüchlichkeiten eine wachsende Verlegenheit auch für die Orthodoxen seien. Trotzdem deuteten bestimmte „Intuitionen“ – vor allem vom jungen Marx und von Lukacs – auf ein wirklich „revolutionäres Element“ hin, das sich dem orthodoxen Marxismus „radikal entgegengestellt“ sei (Castoriadis 1987: 57), und das Castoriadis entwickeln wollte. Die Geschichte sei nicht ein objektiver Prozeß durch die Entwicklung der Produktivkräfte, sondern das Werk „des Imaginären, das die Schaffung ex nihilo [aus dem Nichts] ist“, so daß die Veränderung „das Postulieren einer neuen gesellschaftlichen Herrschaft, ... die Erfindung eines neuen Objekts oder einer neuen Form sei – kurz gesagt, ... eine Entstehung oder eine Produktion, die man nicht auf der Basis einer früheren Situation folgern kann“. (Castoriadis 1987: 3, 44) Das den historischen Prozessen zugrunde liegende Muster sei nicht die Dialektik der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse, sondern dasjenige, das von der Tendenz der Institution dazu entstehe, autonom von der Gesellschaft zu werden, bis sie durch eine neue kreative Intervention der Phantasie aufgelöst werde, die selbst unvermeidlich in einem frischen Entfremdungsprozeß verlorengehen werde.

Die Logik des Castoriadisschen Kritik des Marxismus (1988a: 32 ff.) führte ihn dazu, die Auflösung der Gruppe Socialisme ou Barbarie im Winter 1965-6 zu initiieren. Sein Einfluß als Philosoph und Gesellschaftstheoretiker wuchs während der 1970er und 1980er Jahre. Zum Teil widerspiegelte das die Weise, wie seine Politik jetzt dem härteren Klima des Zweiten Kalten Kriegs paßte – besonders in Paris, wo die nouveaux philosophes eine Reaktion gegen den Marxismus führten, die mit der der New Yorker Intellektuellen eine Generation früher vergleichbar war. Entsprechend seiner früheren Ansicht über die UdSSR als fortgeschrittenste Form des bürokratischen Kapitalismus beschrieb Castoriadis die Gorbatschowschen Reformen als eine „Pause“ in einem viel langfristigeren Prozeß, die von einem vordringlichen Ziel bestimmt werde – der „Ansammlung der Gewalt [Macht] zum Zweck der äußeren Ausdehnung oder: Rußland als eine vorherrschende Weltmacht“. (Castoriadis 1988b: 77) Aber Castoriadis hatte mehr anzubieten als eine politische Analyse, die den Washingtoner Neokonservativen sehr angenehm war. Er entwickelte die Geschichtsphilosophie, die er zuerst Mitte der 1960er Jahre skizziert hatte – vor allem im Buch The Institutional Imagination of Society [Die institutionelle Phantasie der Gesellschaft], das den Lob und die Kritik von Habermas an sich lenkte. (Castoriadis 1987: 327-35) Eigentlich ist dieses willentlich schwer verständliches Buch bloß ein Beispiel einer allgemeinen Tendenz in der heutigen Gesellschaftstheorie dazu, die philosophische Anthropologie von Marx vom historischen Materialismus loszulösen und sie in eine allgemeine Theorie der Aktion umzuwandeln, die eine transhistorische [überhistorische] menschliche Fähigkeit postuliert, Gesellschaftsstrukturen zu stürzen. Anthony Giddens (1981) und Roberto Unger (1987) bieten verständlichere und wohl interessantere Versionen dieser Art voluntaristischer Gesellschaftstheorie an. Die hiesige Relevanz der Castoriadisschen Variante besteht darin, daß sein Weg dazu anscheinend darauf andeutet, daß die Erhaltung des Engagements für den Sozialismus als Selbstbefreiung die Aufgabe der Substanz der Marxsche Geschichts- und Kapitalismustheorien benötige [verlange] – vielleicht auch die Akzeptanz [Annahme] der westlichen bürgerlichen Demokratie. Betrachten wir schließlich einen Versuch, diese Schlußfolgerung zu vermeiden.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.12.2007