Alex Callinicos

 

Trotzkismus

 

5. Neuorientierungen

 

5.1 Tony Cliff und die Theorie des Staatskapitalismus

Trotzkis politisches Projekt faßte vor allem den Versuch um, die klassische marxistische Tradition fortzusetzen und ihre Identifikation des Sozialismus mit der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten. Die letzten zwei Kapitel deuten anscheinend darauf, daß dieses Projekt eigentlich unmöglich sei. Die orthodoxen Trotzkismus wahrte den Buchstaben von Trotzkis Schriften aber auf Kosten, daß er ihnen die Substanz entzog, da andere Kräfte als die Arbeiterklasse jetzt als die Agenten [Vermittler] der sozialistischen Revolution betrachtet wurden. Andererseits tendierten diejenigen, die die trotzkistische Orthodoxie in Frage stellten – besonders die Idee, daß die UdSSR, China und der Ostblock Arbeiterstaaten seien –, später dazu, mit dem Marxismus tout court [einfach/ohne Erklärung ?] zu brechen, und einige wie Shachtman einer so akuten Stalinophobie erlagen, daß sie sie in die Arme des amerikanischen Außenministeriums trieb. Die natürliche Schlußfolgerung, die man daraus ziehen könnte, wäre, daß der Trotzkismus, und mit ihm der Marxismus selbst, als intellektuelle Tradition erschöpft sei. Am Ende seines einflußreichen Buchs After Virtue [Nach der Tugend] erinnert sich Alasdair MacIntyre an Trotzkis Behauptung September 1939, daß, wenn seine Vorhersagen der Revolution nach dem Krieg nicht erfüllt würden, der Marxismus selbst widerlegt würde (s. Teil 2.2 oben): Das Ergebnis nach 1945 zeige, „aus Trotzkis eigenen Prämissen [Voraussetzungen] folgte, daß die Sowjetunion nicht sozialistisch war, und daß die Theorie, die den Weg zur menschlichen Befreiung erhellen [beleuchten] sollte, tatsächlich [eigentlich] zur Dunkelheit geführt hatte.“ (MacIntyre 1981: 243-4)

Diese Schlußfolgerung setzte voraus, daß Trotzki recht dabei hatte, das folgende Dilemma vorzulegen: Entweder sei die stalinistische Bürokratie eine nicht stabile parasitäre Formation, die bei einem rückständigen Arbeiterstaat schmarotzte, oder sie sei die herrschende Klasse einer neuen Gesellschaftsform, die den Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital obsolet [überholt] mache. Aber wie wäre es, wenn diese Wahl nicht die Alternativen erschöpfe, wenn die UdSSR und ihresgleichen eine Variante des Kapitalismus seien? Die im letzten Kapitel diskutierten Versionen dieser Idee entwickelten ihre Möglichkeiten nicht viel. Die Jamessche Theorie des Staatskapitalismus war sehr wenig ausgearbeitet, während die Castoriadissche Alternative Darstellung des bürokratischen Kapitalismus tatsächlich viel enger am Burnham-Rizzi-Shachtmanschen Begriff des bürokratischen Kollektivismus war, da sie eine Gesellschaft bezeichnete, die nicht mehr von den Bewegungsgesetzen des Kapitalismus bestimmt werde. Tony Cliff entwickelte eine viel zusammenhängendere Theorie des Staatskapitalismus, die sich im Kapital und in der Arbeit späterer marxistischer Ökonomen wurzelte.

Von zionistischen Eltern im von Großbritannien beherrschten Palästina erzogen, wurde Cliff Mitte der 1930er Jahre Trotzkist. Er verließ Palästina 1946 und ließ sich in Großbritannien nieder, wo er in die Führung der RCP eintrat. Ein wichtiger Grund für seine Reise nach Europa war der Wunsch, ein Buch zu schreiben, das die Krise der trotzkistischen Bewegung nach dem Krieg lösen würde, indem es zeigte, die Sowjetunion sowie die Staaten Osteuropas seien degenerierte Arbeiterstaaten. Nachdem er sechs Monate auf dem Buch gearbeitet hatte, kam er zur Schlußfolgerung, Trotzki sei falsch und die UdSSR sowie die übrigen Ostblockländer seien bürokratisch-staatskapitalistische Gesellschaften. Ursprünglich 1948 in einem internen Dokument der RCP ausgegeben, das die Basis von Cliffs zuerst 1955 veröffentlichtem Buch Staatskapitalismus in Rußland wurde, lieferte diese Analyse die politische Basis, worauf die Socialist Review Group sich bildete, nachdem Cliff und seine Anhänger aus der 4. Internationale ausgeschlossen wurden. (s. Teil 2.2 oben) Die so gegründete Variante des Trotzkismus ist allgemein als die Internationale Sozialistische Tradition bekannt nach der 1960 gegründeten Zeitschrift International Socialism. Die meisten Gruppen, die sich mit dieser Tradition identifizieren, nennen sich Internationale Sozialisten, obwohl die britische Gruppe (verwirrenderweise) sich seit 1977 die Socialist Workers’ Party nennt. (s. Cliff 1987 für eine Darstellung der eigenen Entwicklung und der der International Socialists/SWP)

Cliffs Theorie des Staatskapitalismus hat zwei Seiten. Erstens versuchte er negativ, die Unrichtigkeit von Trotzkis Analyse zu beweisen, indem er sich auf seine Identifikation des Staatseigentums mit einem Arbeiterstaat konzentrierte:

Von der aus den Produktionsverhältnissen abstrahierten Eigentumsform allein – ob Privat-, Anstalts- oder Staatseigentum – ist es unmöglich, den Klassencharakter eines Gesellschaftssystems zu definieren. Dafür ist es Notwendig, das Verhältnis zwischen Menschen und dem Produktionsprozeß, die Verhältnisse zwischen Arbeitenden und den Produktionsmitteln zu wissen ... „Zu versuchen, eine Definition des Eigentums als unabhängiges Verhältnis, getrennte Kategorie zu geben – eine abstrakte ewige Idee – kann nichts anders sein als eine Illusion der Metaphysik oder der Rechtswissenschaft.“ [Marx] (Cliff 1948: 7)

Cliff lieferte detaillierte empirische Beweise, um zu zeigen, daß in der UdSSR „das Verhältnis zwischen Menschen und der Kontrolle über die Produktion“ davon gekennzeichnet [charakterisiert] sei, den Arbeitern die elementarsten Organisationsrechte abzulehnen, geschweige denn jede breiteren politischen Rechte, durch die Ausübung der diktatorischen Kontrolle durch die Manager in den Betrieben als Teil der systematischen Unterordnung des Konsums zur Produktion und durch das Bestehen der durchdringenden sozioökonomischen Ungleichheiten. (Cliff 1975: Kap.1) Diese Merkmale der russischen Gesellschaft machten es unmöglich, die UdSSR als Arbeiterstaat zu beschreiben, egal wie degeneriert.

Dieses Argument bewies höchstens, daß die UdSSR eine Klassengesellschaft sei, im marxistischen Sinne einer Gesellschaft, wo die unmittelbaren Produzenten von der Kontrolle über die Produktivkräfte durch eine Minderheit von Ausbeutern ausgeschlossen werde. Aber was für eine Klassengesellschaft? Die Johnson-Forest-Tendenz argumentierte, die UdSSR sei staatskapitalistisch ganz aufgrund des Bestehens einer „Hierarchie im Produktionsprozeß selbst“, (James 1986a: 37) Das setze voraus, wie James argumentierte, daß“der Betrieb [die Fabrik] ... das Zentrum der Produktionsverhältnisse“ sei. (James 1986a: 31) Aber das faßte anscheinend eine zu enge Vorstellung des Kapitalismus um. Marx selbst unterschied zwischen der Analyse des „Kapitals im allgemeinen, im Unterschied zu den besonderen [einzelnen] Kapitalien“ und der Analyse der „vielen Kapitalien“. (Marx 1973: 449) „Das Kapital im allgemeinen“ bezog sich vor allem auf den im Kapital Band I analysierten unmittelbaren Produktionsprozeß, wo die kapitalistische Kontrolle über den Arbeitsprozeß das herausholen der Mehrwert von den Arbeitern ermögliche, die zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen werden, um ihre Existenzmittel zu sichern. Aber „das Kapital existiert und kann nur als viele Kapitalien existieren.“ (Marx 1973: 414) Die kapitalistische Wirtschaft werde [sei] notwendigerweise unter konkurrierenden Firmen geteilt. dieser Konkurrenzprozeß sei kein bloß sekundäres Merkmal der kapitalistischen Produktionsweise. Im Gegenteil: „Der Einfluß der einzelnen Kapitalien aufeinander hat genau die Auswirkung, daß sie sich als Kapital benehmen müssen.“ (Marx 1973: 657) Insbesondere zwinge die Konkurrenz Kapitalien zur Akkumulation, zur Wiederinvestition der Mehrwert in der Ausdehnung der Produktion und in der Verbesserung der Produktivität. Der Akkumulationsprozeß liege der Reihe nach den Haupttendenzen der kapitalistischen Produktionsweise zugrunde, vor allem der Zentralisation und der Konzentration des Kapitals und der Tendenz zum Fall der Profitrate, die das Kernstück des Kapitals Band III bildet. (Die oben skizzierte Interpretation des Kapitals findet man am vollsten im Meisterwerk des ukrainischen Trotzkisten Roman Roßdolski (1977) entwickelt; s. auch Callinicos 1982a: Kap.3.)

Die Marxsche Analyse des Kapitalismus faßt somit eine Theorie der Verhältnisse unter den Ausbeutern sowie derjenigen zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten um. Diese Überlegung liegt das bestehen von Trotzki und seinen orthodoxen Anhängern sowie von Burnham, Shachtman und Castoriadis darauf zugrunde, daß die völlige Verstaatlichung einer Wirtschaft ihre Befreiung von den Bewegungsgesetzen des Kapitalismus zur Folge habe. Eine vom Staat gesteuerte Wirtschaft sei eine, worin der Markt unterdrückt worden sei, und dadurch sei der Konkurrenzprozeß beseitigt worden, wodurch die einzelnen Produktionseinheiten dazu gezwungen würden, „sich als Kapital zu benehmen“. Cliffs Lösung dieses Problems war einfach. Isoliert von der übrigen Welt betrachtet könnte man das innere Funktionieren der sowjetischen Wirtschaft so verstehen, als ob „Rußland eine große Fabrik sei, die direkt von einem Zentrum aus gesteuert werde. (Cliff 1975: 208) Die „vielen Kapitalien“ seien innerhalb der UdSSR ausgeschaltet worden. Aber natürlich sei Rußland eigentlich Teil des internationalen Staatensystems und den Konkurrenzzwängen untergeordnet, die darin arbeiten. Diese Zwänge nähmen hauptsächlich die Form der militärischen Rivalitäten zwischen der UdSSR und dem westlichen Kapitalismus – während der Periode zwischen den Weltkriegen hauptsächlich mit Großbritannien und dann mit Deutschland, nach 1945 mit den USA und ihren Verbündeten –, aber die Auswirkungen seien denjenigen gleich, die vom Markt entstünden. Die militärische Konkurrenz zwinge die russische Bürokratie dazu, die Priorität der Schwerindustrie und der Rüstungssektor zu geben. Das Argumentierte Cliff, sei eine Form der Kapitalakkumulation, worin der Konsum der Produktion untergeordnet sei. Die Periode des Ersten Fünfjahrplans (1928-32) kennzeichne den Wendepunkt vom von Lenin benannten „Arbeiterstaat mit bürokratischen Deformationen“ zum Staatskapitalismus. Zum Aufbau der industriellen Basis verpflichtet, die notwendig sei, um die militärische Herausforderung des Westens zu decken,

mußte die Bürokratie, die sich zur Personifikation des Kapitals gewandelt hatte und für die die Kapitalakkumulation das ein und alle war , alle Hindernisse der Arbeiterkontrolle loswerden, mußte sie die Überzeugung im Arbeitsprozeß durch den Zwang ersetzen, die Arbeiterklasse atomisieren und das gesamte gesellschaftliche und politische Leben in eine totalitäre Form pressen. (Cliff 1975: 137-8)

Die Greuel der 1930er Jahre widerspiegelten die äußerst konzentrierte Weise, wie die „Urakkumulation des Kapitals“, die in Großbritannien 200 Jahre dauerte, in der UdSSR in zehn Jahre eingepackt worden sei.

Cliffs Analyse des Stalinismus folgte der Trotzkischen Theorie der permanenten Revolution, indem sie das kapitalistische Weltsystem als ihr Bezugssystem nahm: „Betrachtet man Rußland ... im Rahmen sehr Weltwirtschaft, so erkennt man die grundlegenden Merkmale des Kapitalismus: ‚Die Anarchie der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und die Despotie der Arbeitsteilung im Werkstatt bedingen sich gegenseitig ...‘“ (Cliff 1975: 209) Indem er die Auswirkungen der globalen Konkurrenz als notwendige Bedingung des Bestehens des Staatskapitalismus in der UdSSR betrachtete, vermied Cliff den wichtigsten Fehler der Jamesschen Version der Theorie. James ortete den Staatskapitalismus völlig im „Produktionsprozeß selbst“. er hatte folglich keine Erklärung, warum die sowjetische Bürokratie „die Despotie der Arbeitsteilung im Werkstatt“ schuf. Der Kapitalismus wurde also auf den Willenskonflikt zwischen Arbeitern und Management [Leitung] in der Fabrik [im Betrieb] gebracht [reduziert]. Die Castoriadissche Theorie des „bürokratischen Kapitalismus“ machte den Voluntarismus klar [deutlich], der in jeder Analyse implizit war, die wie die Jamessche die kapitalistische Produktionsverhältnisse auf den Klassenkonflikt im unmittelbaren Produktionsprozeß bringt [reduziert]. (Die deutsche „Logik-des-Kapitals“-Schule ist ein anderes Beispiel dieses Ansatzes: s. Callinicos 1982a: Kap.6) Im Gegensatz dazu konnte Cliffs Analyse die Unterordnung der Arbeiterklasse in der Dynamik der Kapitalakkumulation erklären, indem er das stalinistische Regime in seinem globalen Zusammenhang, dem internationalen von der militärischen Konkurrenz beherrschten [dominierten] Staatensystem setzte.

Außer Marx und Trotzki, auf welche anderen Herkünfte innerhalb des Marxismus konnte Cliffs Theorie sich berufen? Anderson nennt den sozialdemokratischen Theoretiker Karl Kautsky „den Vater des ‚Staatskapitalismus‘“. (Anderson 1984a: 125) Eigentlich haben die Theorien von Cliff und Kautsky wenig miteinander gemein außer der Verwendung des Ausdrucks „Staatskapitalismus“. Kautsky taufte das bolschewistische von 1917 an als staatskapitalistisch aufgrund der Tatsache, daß die Oktoberrevolution in einem rückständigen für den Sozialismus unreifen Land stattgefunden und mit der parlamentarischen Demokratie gebrochen habe. (Salvadori 1979: Kap.VIII, IX) Die Gründe widerspiegelten mehr Kautskys evolutionäre Geschichtstheorie und reformistische politische Strategie als eine ausgearbeitete Analyse der UdSSR. Im Gegensatz dazu betrachtete Cliff die Oktoberrevolution als sozialistische Revolution und datierte die Konterrevolution am Ende der 1920er Jahre. Seine eigene Theorie zeigte eine Verwandtschaft mit – und wurde zum Teil beeinflußt von – Bucharins Schriften während des Ersten Weltkriegs und gleich danach. So früh wie 1915 argumentierte Bucharin, daß die Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals, deren Höhepunkt Hilferding als „Finanzkapital“ – die Zusammenschmelzung des Bank- und des Industriekapitals – beschrieb, eine Tendenz zur Zusammenschmelzung des Staats- und des Privatkapitals umfasse, die der Reihe nach „die Umwandlung jedes entwickelten ‚Nationalsystems‘ in einen staatskapitalistischen Trust umfasse. Gleichzeitig: „Der Schwerpunkt im Konkurrenzkampf wird in den Weltmarkt übertragen, während innerhalb des Landes die Konkurrenz ausstirbt.“ (Bucharin 1982: 18) Dadurch tendiere die Konkurrenzform dazu, sich zu ändern, als die Rivalitäten der Privatfirmen auf dem Markt dem militärischen Kampf zwischen Staatskapitalien untergeordnet werde, ein Prozeß, der im Ersten Weltkrieg kulminiert habe. Aus dieser Perspektive könnte man die stalinistische Industrialisierung der Sowjetunion nicht als die ökonomische Konsolidierung eines Arbeiterrats betrachten, sondern als eine extreme Form einer Tendenz zum militarisierten Staatskapitalismus, die von der Weltwirtschaftskrise der beschleunigt worden sei und die noch einmal zum Ausbruch des Krieges am Ende des Jahrzehnts geführt habe. (Harman 1984: Kap.2)

Was waren die politischen Implikationen der Theorie des Staatskapitalismus? Cliff schloß die originelle Version der Theorie mit der Vorhersage: „Der Klassenkampf im stalinistischen Rußland muß unvermeidlich sich in riesigen spontanen Explosionen von Millionen ausdrücken,“ die die „ersten Kapitel der siegreichen proletarischen Revolution“ sein würden, eine Perspektive, die er in späteren Jahren gegen diejenigen wie Deutscher verteidigte, die erwarteten, daß die Bürokratie sich selbst reformieren würde. (z.B. Cliff 1982: 118-34, 166-91) Aber wie wäre es mit dem Westen? Anderson argumentiert, daß die UdSSR als „Klassengesellschaft“ zu beschreiben, notwendigerweise eine Anpassung zum westlichen Kapitalismus habe, da der letztere die im Osten fehlenden „demokratischen Freiheiten“ habe und deshalb anscheinend „der kleinere –weil nichttotalitäre – Übel“ sei. (Anderson 1984a: 124) Shachtmans endgültiges Schicksal als Anhänger der Democratic Party im Kalten Krieg enthülle die politische Wahrheit der Theorie des Staatskapitalismus sowie des bürokratischen Kollektivismus: „Die Logik dieser Interpretationen ... tendierte immer letztlich (obwohl mit individuellen weniger konsequenten Ausnahmen) dazu, ihre Anhänger nach rechts zu schieben [bewegen].“ (Anderson 1984a: 125) Andersons Logik scheint nicht überzeugend [zwingend] zu sein. Trotzki hatte es abgelehnt, ein Unterschied des politischen Regimes die Basis dafür zu machen, eine Gruppe kapitalistischer Mächte gegen eine andere zu unterstützen. Auch im Juni 1940 nach dem Zusammenbruch Frankreichs hatte er das Argument abgelehnt, daß das bestehen der parlamentarischen Demokratie in Großbritannien es zum kleineren Übel als den deutschen Faschismus machte, und hatte argumentiert, daß die Widersprüche, die vom Versuch der Nazis umgefaßt wurden, das Kontinent durch Gewalt zu herrschen, umgefaßt wurden, revolutionäre Explosionen provozieren würde. (Trotzki 1973d: 296-9) Die Socialist Review Group nahm einen ähnlichen Ansatz während des Kalten Kriegs, indem sie es ablehnte, entweder den Ost- oder den Westblock zu unterstützen, und beruhte stattdessen ihre Hoffnungen auf der Revolte der Arbeiterklasse von unten – eine Haltung, die in der Parole zusammengefaßt wurde: „Weder Washington noch Moskau, für den internationalen Sozialismus.“ Den Konflikt als Kampf zwischen zwei Imperialisten zu betrachten, ließ auf den von Lenin während des Ersten Weltkriegs entwickelten revolutionären Defätismus schließen eher als auf Shachtmans Stalinophobie.

Allgemeiner gesehen machte Cliffs Theorie des Staatskapitalismus es möglich, die Idee der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse in die ihr von Marx gegebene zentrale Wichtigkeit wieder einzusetzen. Wenn nicht nur die Sowjetunion sondern auch die osteuropäischen Staaten, China, Vietnam und Kuba nicht einen deformierten Sozialismus darstellten, sondern eine Variante des Kapitalismus, dann gab es keine Frage, daß man den Sozialismus ohne die Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse erringen könnte. Es war auch möglich eine ziemlich orthodoxe Version des klassischen revolutionär-sozialistischen Tradition zu verteidigen, wie sie von solchen Persönlichkeiten wie Lenin, Luxemburg und Trotzki entwickelt worden war. die von James und Castoriadis vorgebrachten voluntaristischen Theorien des Staats- bzw. des bürokratischen Kapitalismus tendierten dazu, den Sozialismus mit den spontanen Revolten in den Werkstätten gleichzusetzen und deshalb die Theorie einer Avantgarde-Partei und die damit verbundene insbesondere von Lenin und Trotzki entwickelte Strategie und Taktik abzulehnen. Cliffs Version der Theorie des Staatskapitalismus brauchte keinen solchen Bruch, wie seine größere Studie über Lenin zeigt (Cliff 1975-9), obwohl das implizierte Engagement für den Aufbau einer revolutionären Partei mit einer luxemburgischen Betonung auf der wesentlichen und kreativen Rolle, die spontane Explosionen der Revolte der Arbeiterklasse spielt, kombiniert [verbunden] wurde.

 

 

5.2 Eine fortschrittliche Problemverschiebung?

Eine gegebene Tatsache wird wissenschaftlich erklärt, erst wenn eine neue Tatsache damit erklärt wird,“ schrieb Lakatos. Ein Forschungsprogramm, das Nova [neuartige Tatsachen] vorhersagt und von dessen Vorhersagen mindestens einige bestätigt werden, sei eine „fortschrittliche Problemverschiebung“ in der Geschichte der Wissenschaft. (Lakatos 1978, I: 33-4) Der orthodoxe Trotzkismus stellte im Gegensatz dazu eine „degenerierende Problemverschiebung“ dar, da – wie in Kapiteln 2 und 3 gesehen – er versuchte, Trotzkis Analyse des Stalinismus vor der Widerlegung durch eine Reihe Verteidigungsmanöver zu retten, die die Tatsachen zurückblieben, anstatt sie vorherzusagen. Wie gut hält die von Cliff entwickelte Variante des Trotzkismus einer Verwendung der gleichen Kriterien stand? Um diese Frage zu beantworten, muß man zuerst Elie Zahars Klarstellung des Wesens der Nova in acht nehmen, die nach Lakatos’ Maßstab ein fortschrittliches Programm Vorhersagen sollte. Auf der Basis einer Diskussion der Einsteinschen Verwandlung der modernen Physik argumentiert Zahar, ein Novum müsse nicht etwas sein, das zur Zeit der Formulierung der vorhersagenden Theorie unbekannt sei. Vielmehr: „Eine Tatsache wird als Novum in bezug auf einer gegebenen Hypothese betrachtet, wenn sie nicht der Problemsituation gehört hat, die den Aufbau der Hypothese bestimmt hat.“ (Zahar 1973: 103) Also, wenn eine Theorie, die formuliert wurde, um ein spezifisches wissenschaftliches Problem zu lösen, eine anerkannte Tatsache mit sich als Folge bringe, habe sie erfolgreich ein Novum vorhergesagt.

Diese Überlegungen sind für den traurigen Zustand des Trotzkismus nach dem Krieg relevant. Den die 4. Internationale stand nicht einfach dem Triumph des Stalinismus im Osten gegenüber, sondern auch der Ausdehnung des Kapitalismus. Cliff, der Großbritannien nach dem Krieg aus der Perspektive des kolonialen Palästinas betrachtete, wurde von folgender Tatsache getroffen:

Der Lebensstandard der Arbeiter war hoch. Als ich zum ersten Mal das Haus eines Arbeiters besuchte – bloß ein normales Haus –, fragte ich ihn über seine Arbeit und er war „engineer“ [Metallarbeiter]. Mein Englisch war nicht sehr gut, also dachte ich, er meinte, er sei Ingenieur mit einem Hochschulabschluß. aber er war ein angelernter Metallarbeiter. Es war ein absoluter Schock. Kinder waren besser daran als während der 1930er Jahre. Das einzige Mal, das ich Kinder in Europa ohne Schuhe sah, war in Dublin. Kinder holten sich Rachitis nicht mehr. Das half mir zum Verständnis, daß die Endkrise nicht um die Ecke war. (Cliff 1987: 15)

Cliffs erster großer Beitrag zur britischen trotzkistischen Bewegung war eine 1947 geschriebene Kritik der Mandelschen Versuche, das bestehen einer ökonomischen Erholung nach dem Krieg zu leugnen. (Cliff 1982: 24-37) Trotzdem spielte die Tatsache, daß „die Endkrise nicht um die Ecke war“, keine Rolle in der mit der Formulierung der Cliffschen Theorie des Staatskapitalismus verwickelten „Problemsituation“. Sie wurde vielmehr davon definiert, was Cliff als den „unüberbrückbaren Antagonismus zwischen der Definition Rußlands als Arbeiterstaat und grundsätzlichen Elementen des Marxismus wie ... der Selbstmobilisierung und der selbstbewußten Tätigkeit der Massen als notwendiges Element für die sozialistische Revolution“ betrachtete. (Cliff 1948: i)

Implizit aber in der Cliffschen Analyse des Staatskapitalismus war eine Erklärung des Aufschwungs nach dem Krieg. Diese Analyse identifizierte die militärische Konkurrenz zwischen dem Osten und dem Westen als den wichtigsten Mechanismus, der die Dynamik der Kapitalakkumulation der UdSSR aufzwinge. Die Eskalation des Kalten Kriegs führte zu hohen Rüstungsausgaben ohnegleichen in Friedenszeiten, besonders bei den beiden Supermächten. Militärische Ausgaben entsprächen 1962 der Hälfte der weltweiten Bruttokapitalformation [Bruttokapitalbildung]. (Kidron 1970: 49) Nun habe die Rüstungsproduktion vom Standpunkt der marxistischen Wirtschaftstheorie eigentümliche Eigenschaften. Sie liefere weder neue Produktionsmittel (Abteilung I) noch trage sie dem Konsum der Arbeiterklasse (Abteilung IIa) bei. Die Produktion des Rüstungssektors [der Rüstungsbranche] leite weder direkt noch indirekt an die weitere Produktion zurück. Sie sei eine Form des unproduktiven Konsums, der dem Luxuskonsum der Kapitalisten selbst analog [ähnlich] sei (Abteilung Iib oder III) – Cliff nennt die Rüstung „den kollektiven Konsum der kapitalistischen Klasse, der dieser Klasse durch militärische Ausdehnung ermöglicht, neues Kapital, neue Akkumulationsmöglichkeiten zu bekommen“. (Cliff 1948: 121-2) Man könne zeigen, daß, weil Rüstung im Gegensatz zu Kapital oder Lohngütern nicht in den Produktionszyklus wieder hineingehe, die Profitrate im Rüstungssektor [in der Rüstungsbranche] nicht zur Bildung der Profitrate Beiträge. Das habe die sehr wichtige Folge, daß, wenn nichts dazwischen komme, die Rüstungsproduktion eine stabilisierende Auswirkung auf der kapitalistischen Wirtschaft habe – aus folgenden Gründen: Erstens tendiere die Ablenkung des Mehrwerts in militärischen Investitionen dazu, die Akkumulationsrate zu verlangsamen, und dadurch die Tendenz zur Steigerung der organischen Zusammensetzung (das Verhältnis zwischen dem in den Produktionsmitteln investierten Kapital und dem in der Arbeitskraft investierten Kapital), da nach Marx nur die Arbeit Profit schaffe, was die allgemeine Profitrate senke; zweitens verursache eine überdurchschnittliche Zusammensetzung des Kapitals im Rüstungssektor [in der Rüstungsbranche] eine Steigerung der allgemeinen Profitrate; und drittens stimuliere die Rüstungsproduktion die Nachfrage, indem sie unverwendete Faktoren verwende, mit den Folgen für Produktion und Beschäftigung [Arbeit], die man nach der Keynesianische Wirtschaftstheorie [Ökonomie] erwarten würde. (s. Harman 1984: 35-46)

Cliff stützte sich auf einigen dieser stabilisierenden Eigenschaften, um die Ansätze einer Erklärung zu geben, warum der russische Staatskapitalismus nicht den klassischen für die Marktwirtschaften charakteristischen Zyklus von Aufschwung und Rezession erfahre. (Cliff 1948: 121-5, was in späteren Versionen viel gekürzt wurde; vgl. Cliff 1975: 224-5) Nur später bemerkte er, daß diese Eigenschaften auch die Ansätze einer Erklärung des langen Aufschwungs geben könnten. Seine eigene 1957 veröffentlichte Version dieser Erklärung beruhte sich auf dem dritten oben erwähnten Faktor: Die hohen Ebenen der Rüstungsproduktion nach dem Krieg hätten die volle Beschäftigung durch ihre Auswirkung zur Stimulierung der Nachfrage gesichert. (Cliff 1982: 101-7) Michael Kidron, Cliffs engster Mitarbeiter während der 1950er Jahre und am Anfang 1960er Jahre, entwickelte eine voll ausgearbeitete Theorie der „permanenten Rüstungswirtschaft“, die in dieser Hinsicht der ursprünglichen Cliffschen Diskussion der militärischen Ausgaben treuer auf die Rolle der Rüstungsproduktion beim Ausgleich der Tendenz zum Fall der Profitrate konzentrierte. (Kidron 1970; 1974; 1989) Die rigoroseste Formulierung der Theorie wurde viel später von Chris Harman geliefert. (Harman 1984) Die Theorie der permanenten Rüstungswirtschaft erlaubte es den International Socialists, die Realität des Aufschwungs der 1950er und der 1960er Jahre zu erkennen und die Arten Reaktion zu vermeiden, die dem orthodoxen Trotzkismus typisch waren – die katastrophalen Phantasien von Healy und die apologetischen Manöver von Mandel. Gleichzeitig sagte die Theorie jedoch vorher, der Kapitalismus erfahre bloß eine befristete Stabilisierung. Cliff hatte darauf hingedeutet, daß durch die Ablenkung des Mehrwerts von der Produktion die Rüstungsausgaben dazu tendierten, Rezessionen zu vermeiden auf Kosten einer langfristigen Tendenz zur Stagnation. (Cliff 1948: 121-5) Diejenigen Wirtschaften mit relativ hohen Rüstungsausgaben würden, wenn sie sich im Nachteil im Konkurrenzkampf fänden, darauf reagieren, indem sie den Anteil der von den zivilen Industrien genommenen Investition steigerten, und dadurch es den Tendenzen zum klassischen Konjunkturzyklus erlauben, sich erneut zu bekräftigen. (s. z.B. Cliff 1948: 106-7) Mach dieser Analyse waren dann die wachsenden Rivalitäten zwischen einerseits den USA und andererseits Japan und Westdeutschland eine vorhersehbare Konsequenz der ungleichen Teilung der Rüstungsbürden in der NATO, deren Ergebnis – niedrigere amerikanische militärische Ausgaben – nur zu einem Fall der Profitrate und weltweiten Rezessionen wie denen von 1974-75 sowie 1979-82 führen könne. (s. Harman 1984: 93-9)

Die Cliffsche Theorie des Staatskapitalismus – sowie seine Erweiterung in der Theorie der permanenten Rüstungswirtschaft – hatte zwei weitere Konsequenzen. Erstens lieferten sie eine Basis für das Verständnis der Entwicklungen in der Dritten Welt. Kidron (1974: Kap.6) und Nigel Harris (1971) forderten bestimmte Elemente der Leninschen Theorie des Imperialismus heraus, insbesondere die Idee, daß die Kolonien (bis dann immer mehr die ehemaligen Kolonien) eine wesentliche Rolle für die fortgeschrittenen Länder spielten als Märkte, Quellen der Rohstoffe und Investitionsstellen. Harris versuchte ziemlich ausführlich zu zeigen, daß als Ergebnis des Triebs zur Autarkie seitens der größeren Mächte während der 1930er Jahre und der Rüstungswirtschaft nach dem Krieg die größeren Flüsse des Handels und der Investition im Weltmarkt unter [zwischen] den fortgeschrittenen Ländern stattfanden. Die Dritte Welt sei im großen und ganzen von abnehmender wirtschaftlicher Bedeutung für die westlichen Metropole. Die Änderung des globalen wirtschaftlichen Schwerpunkts habe das relativ friedliche Demontieren [den relativ friedlichen Abbau] der europäischen Kolonialreiche nach 1945 ermöglicht; sie deute auch auf eine trübe Zukunft für die neulich unabhängigen Staaten, die wirtschaftliche Entwicklung verfolgten, während ihnen den Zugang zu den im Westen konzentrierten Produktivressourcen verwehrt werde. Manchmal zogen Kidron und Harris die extreme Schlußfolgerung, daß jede Entwicklung in der Dritten Welt unmöglich sei, eine Behauptung, die durch den Aufstieg der neuindustrialisierenden Länder widerlegt wurde. (s. Harris 1986 u. Callinicos 1987b) Trotzdem erlaubte ihre Modifizierung der Leninschen Theorie des Imperialismus es ihnen, den auf der westlichen Linke von den 1950er Jahren an sehr einflußreichen glauben herauszufordern, daß die Nationalbefreiungsbewegungen in der Dritten Welt die Herausforderung zum Kapitalismus darstellten. Cliff lieferte eine Kritik der Leninschen Theorie der Arbeiteraristokratie (Cliff 1982: 108-17), die oft verwendet wird, um diesen Glauben zu rechtfertigen mit der Begründung, die westliche Arbeiterklasse sei politisch einverleibt worden, weil sie einen Anteil der Früchte der Ausbeutung der Kolonien bekomme. Die wichtigste Trennung in der Welt, beteuerten Cliff und Kidron, sei die Trennung zwischen dem internationalen Kapital und der internationalen Arbeit, unabhängig von den nationalen Stellen ihres Kampfs. Für Sozialisten im Westen sei deshalb „der beste Verdienst, den wir leisten können, ... dabei zu helfen, die Feuer zu Hause zu schüren“. (Kidron 1974: 164)

Aber wie paßten die großen Revolutionen der Dritten Welt – China, Vietnam, Kuba – in dieser Analyse? Orthodoxe Trotzkisten betrachteten sie als Bestätigung der Trotzkischen Theorie der permanenten Revolution und argumentierten, sie hätten zu neuen aber deformierten Arbeiterstaaten geführt. (s. Teil 3.2 oben) Cliff lehnte diese Schlußfolgerung ab, da sie implizierte, der Sozialismus könne ohne die Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse errungen werden. Die Theorie der permanenten Revolution hatte angenommen, daß die vom ausländischen Kapital abhängige und vor der eigenen Arbeiterklasse ängstliche Kolonialbourgeoisie nicht dem Kampf gegen den Imperialismus führen würde, und daß das Proletariat deshalb die Aufgaben der bürgerlich-demokratischen sowie der proletarischen Revolution übernehmen würde. (s. Teil 1.1 oben) Aber was würde passieren, wenn auch die Arbeiterklasse die Bewegung für die nationale Befreiung führe? Cliff erbrachte verschiedene Faktoren – vor allem die politische Unterordnung der Arbeiterklasse in den rückständigen Ländern, ihre Beherrschung durch die Politik der Klassenkollaboration, normalerweise durch die Vermittlung des Stalinismus –, um die politische Passivität des Proletariats in der Dritten Welt zu erklären. Die daraus ergebende Leere sei durch eine andere gesellschaftliche Kraft gefüllt worden, die durch die Mangel und Demütigungen der Kolonialherrschaft radikalisierte städtische Intelligenz, die vom scheinbaren Erfolg des stalinistischen Rußlands bei der Industrialisierung des Landes auf der Basis der nationalen Autarkie inspiriert worden sei. Nationalbefreiungsbewegungen, die von solchen Intellektuellen geführt würden und unter dem Banner des „Marxismus-Leninismus“ marschierten, führten Bauernkriege, die unter günstigen Bedingungen den ausländischen Griff auf ihren Ländern brechen könnten. Die neuen Regimes seien aber überhaupt keine Arbeiterstaaten, sondern vielmehr neue bürokratische Staatskapitalismen, die das originelle stalinistische Muster [stalinistische Originalmuster] wiedergegeben [reproduziert] hätten. Cliff bezeichnete diesen Prozeß als „umgelenkte permanente Revolution“: Die von Trotzki analysierte gesellschaftliche Dynamik führte in der Abwesenheit der Arbeiterbewegungen zu einer eigentümlichen Variante der bürgerlichen Revolution. (Cliff 1971: 1-22)

Was waren zweitens die Implikationen der von Cliff und seinen Mitarbeitern [Mitstreitern] entwickelte Analyse des modernen [aktuellen/gegenwärtigen/ heutigen] Kapitalismus für die westliche Arbeiterklasse? Eine sehr wichtige Auswirkung des langen Aufschwungs, argumentierten sie, sei „eine Verschiebung des Schauplatzes [der Arena] des Reformismus“. (s. z.B. Cliff u. Barker 1966; Barker 1973; Cliff 1982: 218-38) Die Vollbeschäftigung erlaube es den Arbeitern, bedeutende Verbesserungen ihres Lebensstandards durch begrenzte Auseinandersetzungen über Tarife [Lohnkämpfe] in einzelnen Betrieben oder sogar in einzelnen Werkstätten zu erringen. Folglich seien die auf der parlamentarischen Reform orientierten [gerichteten] Sozialdemokratischen und Kommunistischen Parteien für die Arbeiter an der Basis [in den Werkstätten] weniger wichtig geworden. Die intensivsten Loyalitäten der letzteren seien stattdessen den informellen Institutionen [Organisationen] in den Betrieben wie den britischen Shop Stewards [etwa Vertrauensleute] angehaftet worden, die direkt auf die Drücke der Gewerkschafter reagierten und effektive Werkzeuge des Guerillakampfs in den Betrieben seien, die die Löhne unabhängig von den nationalen Tarifverhandlungen hochtrieben. Die politische Apathie des „wohlhabenden Arbeiters“, die von vielen Gelehrten [Akademikern] und Kommentatoren am ende der 1950er Jahre dokumentiert und beklagt wurde, bedeuteten aber, daß die herrschende Klasse dazu gezwungen worden sei, diesen „Do-It-Yourself-Reformismus“ [selbstgebastelten Reformismus] in den Werkstätten zu beschneiden – durch z.B. die Verhängung von Lohnkontrollen. Die daraus ergebende Konfrontation zwischen der kapitalistischen Offensive und einer militanten selbstbewußten Basisbewegung würde explosiv sein, besonders wegen des Verfalls der reformistischen Massenorganisationen:

Der Begriff Apathie oder Privatisierung ist kein statischer [konstanter] Begriff. Bei einer bestimmten Entwicklungsstufe – wo der Weg der individuellen Reformen verengt [beschränkt] oder gesperrt wird – kann die Apathie sich ins Gegenteil umwandeln, in die rasche Massenaktion. Diese neue Wende kommt jedoch als Auswuchs der früheren [vorherigen] Stufe; Epilog [Nachwort/Nachspiel] und Prolog [Vorwort/Vorspiel] schließen sich zusammen. Arbeiter, die ihre Loyalität zu den über die Jahre als paralysiert bewiesenen traditionellen Organisationen verloren haben, werden allein in extrem explosive Kämpfe gezwungen. (Cliff 1982: 234)

 

 

5.3 Die Erfahrung der Niederlage

Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre bestätigte Großbritannien anscheinend diese Perspektive reichlich. Die zuerst von der Labour-Regierung Huhn dann von der Konservativen Regierung verhängte Einkommenspolitik führte zur Umwandlung der dezentralisierten Lohnmilitanz in landesbreite [nationale] Streiks, die immer mehr die Form von Konfrontationen zwischen Gewerkschaftsbewegung und Staat Annahmen. In 1972 führte ein von unten durch Aktivisten an der Basis geführter Bergarbeiterstreik zur demütigenden Niederlage der Heath-Regierung und gleich danach verachteten die Hafenarbeiter erfolgreich dem Industrial Relations Act (Gesetz zur Beschränkung der Rechte der Gewerkschaften); ein zweiter Streik der Bergarbeiter am Anfang 1974 stürzte die Regierung. In diesem Klima der hochpolitisierten Arbeiterkämpfe wuchsen die durch viele radikalisierte Studenten während des ungewöhnlichen Jahrs 1968 angewachsenen International Socialists rasch und erreichten bis zum Sturz von Hat eine Mitgliedschaft von über 3.000 und viele von ihnen waren Shop Stewards [Vertrauensleute] in militanten betrieben. Ihre Erfahrung war keineswegs einzigartig. Die Jahre 1968-76 sahen den größten Aufschwung des Klassenkampfs, den Westeuropa seit der Zeit direkt nach der Russischen Revolution erfahren hatte – den französischen Generalstreik von Mai-Juni 1968, den italienischen „heißen Herbst“ von 1969, die Portugiesische Revolution 1974-75, die Streiks, die zum Todeskampf des Franco-Regimes in Spanien beitrugen. Die europäische radikale Linke konnte unter diesen Bedingungen wachsen und eine kleine aber ansehnliche Arbeiterbasis bilden. Der größte Nutznießer der Maoismus, der wichtigste Einfluß in z.B. Italien, wo die drei wichtigsten Organisationen der radikalen Linke zu ihrem Höhepunkt insgesamt 30.000 Mitglieder hatten und jede eine Tageszeitung veröffentlichte. Nichtsdestoweniger erfuhren auch trotzkistische Gruppen vergleichbares Wachstum. – die International Socialists in Großbritannien und die Sektionen der VSVI in Frankreich und Spanien. (s. Harman 1988 für eine allgemeine Darstellung des Aufschwungs am Ende der 1960er Jahre und seine politische Konsequenzen)

Nichts war für die radikale Linke natürlicher als die Annahme, daß dieser Prozeß sich fortsetzen würde und daß die dadurch entstandenen eskalierenden Arbeiterkämpfe den Aufbau von revolutionären Massenorganisationen ermöglichen würden, die fähig wären, die Sozialdemokratischen und Kommunistischen Parteien für die Führung der westlichen Arbeiterbewegung herauszufordern. Sogar der ziemlich distanzierte Halbtrotzkist [Trotskysant] Perry Anderson konnte 1974 schreiben: daß die „Vorzeichen“ der „Wiedervereinigung der Theorie und der Praxis in einer von bürokratischen Fesseln befreiten revolutionären Arbeiterbewegung sichtbar“ seien. (Anderson 1976: 101) Solche Erwartungen wurden während der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zunichte gemacht. Statt einer fortschreitenden Radikalisierung der Arbeiterbewegung konnten neue oder wiederbelebte Sozialdemokratische Parteien sich als die herrschende Kraft auf der Linke bilden, die Militanz der Arbeiter in Grenzen halten und in die Richtung der Wahlpolitik umleiten – ein Prozeß, der zu den Siegen von François Mitterrand in Frankreich, von Felipe Gonzalez in Spanien und von Andreas Papandreou in Griechenland führte. (Birchall 1986) In Großbritannien konnte die Labour-Regierung von 1974-79 dank dem Solidarpakt, den sie mit den Führern der Trades Union Congress (Dachverband der Gewerkschaften) verhandelte, die Militanz in den Werkstätten [an der Basis] entschärfen, die die Heath-Regierung gebrochen [gestürzt] hatte. Die Analyse der International Socialists vom Verfall der reformistischen Massenorganisationen hatte zwar deren Schwinden als institutionellen Rahmen des Lebens der Arbeiterklasse genau eingefangen, hatte jedoch die Reste der politischen Loyalität [Treue] auch der militantesten Gewerkschafter gegenüber der Labour Party unterschätzt, und diese Loyalität konnte unter Bedingungen des ökonomischen und politischen Durcheinanders eine entscheidende Rolle spielen. Als er auf die Situation Anfang der 1970er Jahre zurückschaute, bemerkte Cliff:

Wir verstanden die [politische] Verallgemeinerung gemäß den Sachen, die die Arbeiter nicht wollten. Sie wollten keine Einkommenspolitik; sie wollten kein Industrial Relations Act (Gesetz zur Beschränkung der Gewerkschaften); sie wollten nicht die Tories (Konservativen). Aber wir waren überhaupt nicht darüber im klaren, was die Arbeiter in einem positiven Sinne wollten. Als sie „Hat raus!“ riefen, verstanden wir nicht, daß sie Labour rein wollten. Also waren wir nicht darüber im klaren, was die Auswirkung einer Labour-Regierung sein würde. (Cliff 1987: 19)

Der Wiederbelebung der traditionellen reformistischen Parteien während der zweiten Hälfte der 1970er Jahre folgte die Einführung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, die, ob sie von der Thatcher-Regierung in Großbritannien oder von der Mitterrand-Regierung in Frankreich eingeführt worden war, viele Reformen der Periode nach dem Krieg unterminierte. Dieses immer ungünstigere politische Klima sowie die Enttäuschung ihrer früheren Hoffnungen stürzten die europäische radikale Linke in eine Tiefe Krise. (Harman 1979; Harman 1988: Kap.6) Die maoistischen Organisationen wurden am härtesten getroffen, sowohl wegen der normalerweise ziemlich groben [primitiven] stalinistischen Basis ihrer Theorie als auch unter der Wirkung der außerordentlichen Umkehrungen der chinesischen Politik nach dem Tode Maos, aber die trotzkistischen Gruppen litten auch. Die Ligue Communiste Revolutionaire, die französische Sektion des VSVI, verlor einen ihrer begabtesten [talentiertesten] Führer, Henri Weber, zur Sozialistischen Partei (s. Weber 1988) und erlitt einen Rückgang der Mitgliedschaft, des Zusammenhalts und des Einflusses. Die britischen International Socialists (ab 1977 die SWP) machten am Ende der 1970er Jahre eine akute Krise durch, worin die wichtigsten Fragen folgende waren: Erstens war genau die Frage, ob die Krise, die Hat gestürzt hatte, vorbei sei, und zweitens war das Problem, wie man die „neuen sozialen Bewegungen“, die auf verschiedenen Formen der Unterdrückung (von Frauen, Schwarzen, Schwulen usw.) reagierten, in Verbindung mit dem Kampf der Arbeiterklasse um den Sozialismus bringen sollte. Schließlich wurden diese Probleme gelöst und die SWP konnte zehn Jahre des Thatcherismus mit einer Mitgliedschaft von etwa über 4.000 in guter politischer Laune überstehen. Einige andere trotzkistische Organisationen nahmen auch nicht ab – z.B. Lutte Ouvriere in Frankreich, die einzige Organisation von Bedeutung, die der originellen [ursprünglichen] Position der 4. Internationale nach 1945 treu blieb, wonach die UdSSR ein Arbeiterstaat sei, die osteuropäischen Staaten jedoch bürgerlich. Diese Analyse war so offensichtlich ganz inkonsequent, daß Lutte Ouvriere eine Verachtung der theoretischen Diskussion kultivierte [entwickelte] und stattdessen sich darauf konzentrierte, Gruppen ihrer Anhänger in den Betrieben aufzubauen.

Diejenigen trotzkistischen Organisationen wie die britische SWP und Lutte Ouvriere, die aus den 1980er Jahren in relativ gutem Zustand kamen, befanden sich in einer beträchtlich schwierigeren Umwelt [Situation] als der am Ende der 1960er oder am Anfang der 1970er Jahre. Die westliche Arbeiterbewegung blieb ziemlich ruhig, teilweise dank der langen Erholung, die die meisten fortgeschrittenen Länder nach der Rezession am Anfang der 1980er Jahre genossen. Normalerweise beherrschten ziemlich rechte Versionen der Sozialdemokratie politisch auf der Linke. Das intellektuelle Klima war von der heftigsten Ablehnung des Marxismus gekennzeichnet, die man seit den Tagen des liberalen Antikommunismus am Anfang des Kalten Kriegs gesehen hatte – eine Ablehnung, die oft die Form eines vermutlich radikaleren „Postmarxismus“ bzw. sogar „Postmodernismus“ annahm. Die Reaktion der Trotzkisten darauf war das Argument, die 1980er Jahre seien nur eine Pause, eine befristete Stabilisierung des westlichen Kapitalismus, deren Grundlagen viel zerbrechlicher seien als die des langen Aufschwungs der 1950er und 1960er Jahre seien, und weitere Wirtschaftskrisen und gesellschaftliche Explosionen lägen in der Zukunft. (s. z.B. Krivine u. Bensaid 1988; Harman 1988; Callinicos 1990) Sie konnten auch etwas anders sagen.

Sicherlich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, und wohl seitdem Blanqui den Gradualismus [?] der utopischen Sozialisten zur Zeit Louis Philippes herausforderte, beteiligt sich die sozialistische Bewegung an einer Debatte zwischen den Befürwortern der Reform und denen der Revolution, zwischen denjenigen, die glauben, eine friedliche Umwandlung des Kapitalismus sei möglich, und denjenigen, die argumentieren, die Arbeiterklasse müsse den bürgerlichen Staat mit Gewalt stürzen. Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg boten die klassischen Darstellungen dieser beiden gegensätzlichen Argumente, aber die Auseinandersetzung hat sich regelmäßig wiederholt, z.B. in der durch das Buch The Future of Socialism von Anthony Crosland provozierten Kontroverse Ende der 1950er Jahre. Seit den 1930er Jahren liefert der Trotzkismus die konsequentesten Darstellungen des revolutionären Arguments aus zweierlei Gründen. Erstens erweiterten und verallgemeinerten Trotzkis Schriften über Strategie und Taktik die Argumente von früheren revolutionären Sozialisten wie Marx, Lenin und Luxemburg. Zweitens benötigte die Entstehung von Regimes, die behaupten, sie seien sozialistisch, aber innenpolitisch repressiv und außenpolitisch konservativ sind, die Formulierung einer Variante des Marxismus, die eine Analyse dieser Regimes sowie eine Strategie für ihren Sturz anbot – der revolutionäre Sozialismus könnte man erst dann aufrechterhalten, wenn man ihn zur Kritik des Stalinismus sowie des Kapitalismus erweitere; noch einmal gab Trotzki den Anstoß zu dieser Kritik. Die politische und intellektuelle Erbschaft, die er seinen Anhängern ließ, war – wie gesehen – keineswegs unproblematisch. Dieses Buch hat sich darauf gewidmet, die verschiedenen von den drei Hauptvarianten des Trotzkismus geschaffenen Lösungen der Dilemmas dieser Erbschaft zu untersuchen. Wie bei den Alternativen Ausgängen des Romans The French Lieutenant’s Woman wird meine Meinung über die zulänglichste Reaktion durch die Wahl angedeutet, welche ich als letzte darstellen sollte. Aber wie auch immer das sein mag, bleibt die Tatsache, daß, solange dir Dialog zwischen Reform und Revolution andauert, der Trotzkismus seinen eigenen Platz als Fortsetzung der klassischen marxistischen Tradition mit ihrer Orientierung auf der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse von unten beanspruchen wird. Es wäre ein voreiliger Gesellschaftstheoretiker, der erklärte, die große Debatte über die Umwandlung des Kapitalismus sei vorbei.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.12.2007