Jürgen Ehlers

 

Wie stark ist die Arbeiterbewegung heute?

(1995)


Aus Sozialismus von unten (erste Serie), Nr.3, März 1995, S.21-26.
Copyright © 1995 Verein für Geschichte und Zeitgeschichte der Arbeiterbewegung (VGZA) e.V.
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Die Situation ist paradox. Auf der einen Seite standen 1992 mehr Arbeiter und Angestellte als je zuvor in einem einzigen Jahr seit Endes des Zweiten Weltkrieges im Streik. Aber während sich die mehr als 598.000 Streikenden erfolgreich gegen eine von Regierung und Arbeitgebern angestrebte „tarifpolitische Wende“ zur Wehr setzten, waren und sind viele Diskussionsbeiträge um die Zukunft der Gewerkschaften von einem pessimistischen Grundton geprägt.

Wenn von „handfesten Schwächezeichen“ und einem „Erosionsprozeß“ der Kampfkraft und des Einflusses der Gewerkschaften die Rede ist, dann ist das in diesem Fall nicht das Frohlocken aus dem Arbeitgeberlager, sondern es sind Wortmeldungen aus den eigenen Reihen. [1]

Steckt die Gewerkschaftsbewegung in einer Krise und verliert damit die Arbeiterbewegung an politischem Gewicht?

Arbeitskämpfe waren in den zurückliegenden Jahrzehnten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, immer nur die Begleitmusik zu Tarifverhandlungen und liefen nach festen Regeln unter der Kontrolle der Gewerkschaftsführungen ah. Sie waren nicht vergleichbar mit den Streikbewegungen in England und Frankreich im letzten Jahrhundert, die das Weltbild von Marx und Engels stark beeinflußten und sie zu der Überzeugung kommen ließen, daß die Arbeiterklasse unter bestimmten Voraussetzungen in der Lage sein könnte, sich selbst zu befreien und die Gewerkschaften mit ihrem Kampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen dabei eine „Schule des Klassenkampfs“ sind.

Die langsame, aber kontinuierliche Erhöhung des Lebensstandards seit Mitte der fünfziger Jahre schien denen, die die Sozialpartnerschaft an die Stelle des Klassenkampfs gesetzt hatten, endgültig recht zu geben.

Diese Erfahrungen prägten eine ganze Generation von Arbeitern und Angestellten. Der „soziale Frieden“ wurde zu einem Markenzeichen für das Verhältnis von Kapital und Arbeit in Deutschland und zu einem der wichtigsten politischen Fundamente der westdeutschen Gesellschaft. Dieses „Modell Deutschland“, wie die Sozialpartnerschaft vom letzten sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt 1979 genannt wurde, bewahrte sich für die Arbeitgeber auch, als Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre die Zahl der Arbeitskämpfe in ganz Europa anstieg. Zwar spitzten sich die Arbeitskämpfe auch in Deutschland zu, blieben aber im Vergleich zu anderen westeuropäischen Industriestaaten auf einem wesentlich niedrigerem Niveau. [2]

 Land

Streikende in 1.000

Streiktage in 1.000

1966/69

1970/73

1966/69

1970/73

BRD

     371

     967

       690

   5.327

GB

  5.173

  6.216

  16.721

55.880

Frankreich

17.505

  9.077

159.260

13.443

Italien

16.500

29.281

   70.106

74.643

Die Folgen der Wiedervereinigung haben, zusammen mit der schwersten Wirtschaftskrise in Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkrieges in den Jahren 1992/93, noch einmal sehr deutlich gemacht, daß der Sozialpartnerschaft schrittweise der Boden entzogen wurde.

Der infolge der Wiedervereinigung drastisch angestiegenen Staatsverschuldung und der hohen Arbeitslosigkeit stehen Wachstumsraten der Wirtschaft gegenüber, die gemessen an denen zurückliegender Jahrzehnte kleiner ausfallen.

Als die hohen staatlichen Subventionen in Ostdeutschland und die Vergrößerung des Binnenmarktes um 16 Millionen Menschen im Westen 1990 einen Wirtschaftsboom auslösten, war die Steigerung des Bruttoinlandprodukts von 4,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr die höchste seit 1976.

Aber während 1976 in Westdeutschland rund 1 Million Menschen ohne Arbeit waren, sind heute 3,8 Millionen Arbeitslose in ganz Deutschland registriert, nach Berechnungen des DGB ist die tatsächliche Arbeitslosenzahl viel höher und liegt bei über 6 Millionen.

 

 

Ende der Sozialpartnerschaft?

Die Kapitaleigner sehen nicht nur keinen Spielraum für Zugeständnisse mehr, sondern wollen angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen drastische Abstriche von Leistungen durchsetzen, die einmal die Erhöhung des Lebensstandards der Arbeiter und Angestellten und damit deren Identifikation mit der Sozialpartnerschaft begründet haben.

Dieser Klassenkampf von oben, als „Wende in der Tarifpolitik“ angekündigt, macht deutlich, daß den Untemehmem die Sozialpartnerschaft zu teuer geworden ist, die ihnen ab Mitte der fünfziger bis Mitte der siebziger Jahren, so lange es keine Arheitslosigkeit gab, dazu dienen sollte, den Kampf um die Höhe der Ausbeutungsrate, der als Verteilungskampf zwischen Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten wahrgenommen wird, berechenbar zu gestalten. Die Streiks im September 1969, von ihnen als „wilde Streiks“ bezeichnet, waren für sie das beste Argument, sich mit den Gewerkschaftsvertretern zu arrangieren und auch wenn das bedeutete, Zugeständnisse machen zu müssen.

Heute sind sie bereit, härtere Konflikte mit den Gewerkschaften zu riskieren, um die Lohnkosten zu senken, weil ihnen die hohe Arbeitslosigkeit ausreichend Druckmittel in die Hände spielt. Sie wollen die Sozialpartnerschaft zwar erhalten, jedoch ohne den bisherigen Preis dafür zu zahlen, d.h. ihn soweit wie möglich zu senken oder ganz wegfallen zu lassen.

Die Anhänger von der Vorstellung einer schrittweisen Durchsetzung von immer mehr „Gerechtigkeit“ im Kapitalismus für die abhängig Beschäftigten, geraten in Erklärungsnot. Die daraus resultierende Verunsicherung ist der eigentliche Beweggrund, der unter ihnen zu vermehrten Diskussionen führt, die sich um die Zukunft der Gewerkschaftsbewegung drehen.

^Der Ausgangspunkt ihrer Argumentation ist [3], daß sich die sozialen Verhältnisse, dank ihres Engagements für die abhängig Beschäftigten, inzwischen so stark verändert hätten, daß man von einer Arbeiterklasse im traditionellen Sinne heute so einfach nicht mehr sprechen könne.

 

 

Individualisierung?

„Individualisierung“ und eine daraus resultierende „Entsolidarisierung“ sind die beiden Stichworte, die immer wieder fallen. Das Bild von einer Zwei-Drittel-Gesellschaft wird in diesem Zusammenhang gerne bemüht.

Danach gäbe es eine Mehrheit unter den abhängig Beschäftigten, die den in Not geratenen Arbeitslosen etwas abgeben könnte, ohne selbst in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten.

Aber für die überwiegende Mehrheit der abhängig Beschäftigten hat die Höhe des monatlichen Einkommens nichts oder nur sehr wenig von ihrem „existentiellen Charakter“ verloren. Sozialwissenschaftler haben auf der Grundlage von Umfragen ermittelt, daß das monatliche Durchschnittseinkommen eines Arbeiters bzw. Angestellten in Westdeutschland 1992 bei netto 1.708 DM lag und in Ostdeutschland sogar nur bei 1.246 DM. [4]

Eine Studie an der Universität Bremen über Armut in Deutschland, die im letzten Jahr veröffentlicht worden ist, kam zu dem Ergebnis, daß eine wachsende Zahl von Menschen in einer bestimmten Lebenssituation für einige Zeit von Armut betroffen ist. Von 1984 bis 1992 waren „insgesamt 31 Prozent der Bevölkerung zeitweise oder, seltener, länger von Armut betroffen.“ [5] D.h., daß es nicht ein klar umrissenes „unteres Drittel“ gibt, sondern daß ein wachsender Teil vor allem der Arbeiter und einfachen Angestellten von zeitweiliger Armut bedroht ist.

1994 beantragten etwa 6 Millionen Arbeitnehmer Arbeitslosengeld. Bei einer durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit von knapp über 6 Monaten bedeutet dies, daß vermutlich etwa 7 Millionen Menschen zumindest zeitweise arbeitslos waren, von der versteckten Arbeitslosigkeit abgesehen. Mehr als jeder fünfte der 32,7 Millionen Arbeiter und Angestellten in Deutschland mußte also Erfahrungen mit – offizieller – Arbeitslosigkeit sammeln.

Die Arbeitslosigkeit macht heute nicht mehr vor den hochqualifizierten Angestellten und berufserfahrenen, jüngeren Facharbeitern halt. 1993 erhöhte sich die Arbeitslosigkeit von Facharbeitern gegenüber dem Vorjahr um 32,4 Prozent, eine Steigerung, die deutlich über dem durchschnittlichen Zuwachs der Arbeitslosigkeit von 28,3 Prozent lag. [6]

Das ist der Hintergrund, vor dem sich auch unter denen die noch Arbeit haben, eine immer stärkere Verunsicherung breit macht. Die Hoffnung vom langsamen, aber kontinuierlichen sozialen Aufstieg, die die Sozialpartnerschaft. begründete, ist durch die Krise von 1993 besonders stark, aber nicht zum erstenmal erschüttert worden.

 

 

Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften

Diese Verunsicherung muß keine Schwächung der Gewerkschaften bedeuten. Die sinkenden Mitgliederzahlen z.B. bedeuten nicht, daß der Organisationsgrad sinkt, er ist heute in fast allen Einzelgewerkschaften höher als je zuvor in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg lag er zwischen 7 Prozent hei den Maurern und 30 bei den Buchdruckern, 1920 waren etwa 40 Prozent aller Arbeiter und Angestellten organisiert, aber ein Teil dieser Verbände vor allem der Angestellten war sehr stark berufsständisch orientiert.

Der Organisationsgrad sagt nichts darüber aus, wie eng die Bindung der Mitglieder an die Gewerkschaft ist und oh es Richtungskämpfe gibt, die ihre Kampfkraft schwächen können. Aber die Entwicklung des Organisationsgrades ist ein Indikator dafür, wie stark das kollektive, gewerkschaftliche Bewußtsein unter den Arbeitern und Angestellten in einer Branche entwickelt ist und wie ernst die Gewerkschaften von den Arbeitgebern genommen werden.

Vor allem die Entlassungswellen in Ostdeutschland, wo der Organisationsgrad immer noch höher als im Westen ist, haben dazu geführt, daß alle Gewerkschaften von 1992 auf 1993 zusammen rund 700.000 der 11 Millionen Mitglieder verloren haben. [7]

Organisationsgrad in Prozent

1963

1994

ÖTV

24,6

um die 40

DPG

73,8

ungefähr 70

GdED

82,1

knapp 75

IG Metall

37,7

knapp 40

IG Chemie

44,8

um die 65

IG Medien

36,9

gut 50

IG BSE

17,0

etwa 30-35

HBV

  3,9

rund 14

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Angestellten ist in allen Branchen niedriger als der der Arbeiter, der z.B. in der Papier- und Kautschukindustrie zwischen 70 und 80 Prozent liegt und in Teilen des Öffentlichen Dienstes 90 Prozent erreicht, während der Organisationsgrad der Angestellten in der Industrie unter 20 Prozent liegt und nur im Öffentlichen Dienst in einigen Bereichen 40 Prozent erreicht. Eine wichtige Ursache für diesen auffälligen Unterschied ist, daß sie im Gegensatz zu den meisten Arbeitern in kleineren Gruppen zusammenarbeiten, in denen eine ausgeprägte Hierarchie herrscht. Das erschwert die Solidarität untereinander und die Nähe zum Vorgesetzen erhöht die Angst, sich einem Streik anzuschließen, weil man persönliche Sanktionen fürchtet. Daneben spielt aber auch die unter Angestellten immer noch weit verbreitete Illusion des individuellen Aufstiegs eine Rolle, bei dem die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft als Hindernis angesehen wird.

Der steigende Anteil von Angestellten an allen abhängig Beschäftigten, muß nicht zwangsläufig bedeuten, daß der Organisationsgrad der Gewerkschaften in Zukunft tendenziell sinkt. Die genannten Faktoren, die eine Solidarisierung erschweren, verlieren an Bedeutung, weil viele Angestellte in Tätigkeitsfeldern eingesetzt werden, die sich von den betrieblichen Alltagserfahrungen der Arbeiter gar nicht oder nur sehr wenig unterscheiden. So wie es in großen Teilen des Öffentlichen Dienstes, z.B. bei Krankenschwestern, Kindergärtnerinnen und Busfahrern der Fall ist.

Die härtere Gangart der Arbeitgeber gegenüber ihren Beschäftigten kann es den Gewerkschaften sogar erleichtern, größere Teile der Angestellten zu organisieren, weil damit ihre Loyalität gegenüber der Geschäftsleitung auf eine harte Probe gestellt wird. So z.B. 1992 im Bankgewerbe, wo der Streik dazu führte, daß sich 4.000 neue Mitglieder der HBV anschlossen und sich der bescheidene Organisationsgrad in dieser Branche auf 20-24 Prozent erhöhte, oder 1993 im Computerunternehmen Digital Equipment: Als es dort zu einem mehrwöchigen Streik kam, gelang es der IG Metall, 35 Prozent der zum Teil sehr hoch bezahlten Angestellten zu organisieren.

Aber nicht nur bei den Angestellten gibt es einen engen Zusammenhang der Bereitschaft, sich zu organisieren, mit dem Charakter der Gewerkschaftspolitik angesichts der Angriffe der Arbeitgeber. So stimmt es nicht, daß es generell schwieriger geworden ist, Berufsanfänger für die Gewerkschaft zu gewinnen. Der IG Chemie gelang es nach eigenen Angaben 1993 in Großbetrieben leicht, bis zu 90 Prozent der Auszubildenden zu organisieren, während es ihr ein Jahr später wesentlich schwerer fiel und die Organisierungsquote nur halb so hoch ausfiel. Zwischen diesen beiden

Jahren lag der Tarifabschluß vom Januar 1994, in dem die IG Chemie gegenüber den Arbeitgebern weitreichendere Zugeständnisse machte als jede andere Gewerkschaft. Vor allem Berufsanfänger und Arbeitslose sind von der vereinbarten Regelung betroffen, die es den Arbeitgebern ermöglicht, bei Neueinstellungen den Tariflohn bis zu 10 Prozent zu senken. In dieser Regelung ist sicher der wichtigste Grund zu sehen, warum sich die jungen Arbeiter und Berufsanfänger schwer tun, der IG Chemie beizutreten.

Der teilweise sehr hohe Anteil von Rentnern und Pensionären unter den Gewerkschaftsmitgliedern, z.B. in der GdED mit 31 Prozent, ist ebenfalls kein Beweis für eine wachsende Skepsis gegenüber Gewerkschaften.

Er ist vor allem das Ergebnis eines drastischen Personalabbaus, der so gestaltet wird, daß keine Neueinstellungen für pensionierte Eisenbahner vorgenommen werden. Es gibt also keine jungen Leute, die die Gewerkschaft gewinnen kann.

 

 

Arbeitskämpfe

Die Situation heute unterscheidet sich in vieler Hinsicht von der der achtziger Jahre. Ein Vergleich mit der jüngeren Vergangenheit machen das Ausmaß und den Charakter dieser Veränderungen deutlich. Welche Bedeutung die Streikbewegung 1992 für das größere Selbstbewußtsein der Gewerkschaftsbewegung gehabt hat wird am deutlichsten, wenn man sie mit 1984, dem letzten großen Streikjahr, vergleicht. [8]

Streiks 1984/1992

Nicht nur gemessen an der Streikbeteiligung ist 1992 ein Rekordjahr gewesen. Auffällig waren auch die relativ wenigen verlorenen Arbeitstage und die sehr hohe Zahl der bestreikten Betriebe, der höchsten seit 1952. Viele kurze Streiks in einer großen Zahl von Betrieben bestimmten das Bild. Es entstand in diesem Jahr eine Streikbewegung, die einem Staffellauf glich. Der ÖTV-Streik endete mit einem politischen Sieg über Kohl, der die „tarifpolitische Wende“ durchsetzen wollte, und ermutigte so die anderen Gewerkschaften. 1992 waren mehr Beschäftigte an Streiks beteiligt, und es gingen dadurch mehr Arbeitstage verloren als in den fünf Jahren von 1985 bis 1989 zusammen.

1984 war die Situation ganz anders. Die Zahl der Streikenden liegt um ein Drittel unter der von 1992, die Zahl der bestreikten Betriebe ist nicht einmal halb so hoch und der mit 2,9 Millionen höchste Verlust an Arbeitstagen durch Streik seit Ende des Zweiten Weltkrieges weist auf sehr lange Arbeitskämpfe hin.

Trotz des langen Kampfes entstand keine Bewegung, die auf mehr Betriebe und Branchen übergegriffen und so den Druck auf die Arbeitgeber erhöht hätte. Bestätigt wird dieser Eindruck durch die 3,5 Millionen Arbeitstage, die 1984 durch Aussperrungen verloren gingen, soviel wie noch nie seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Es gingen also wesentlich mehr Arbeitstage durch Aussperrungen als durch Streiks verloren, d.h. die Arbeitgeber waren in der Offensive.

 

 

Aussperrung

In diesen nüchternen Zahlen spiegelt sich die Niederlage von 1984 im Kampf um die 35-Stunden-Woche wieder. Die Arbeitgeber reagierten auf den Streikbeginn der IG Metall sofort mit einer „heißen“ Aussperrung. Die Gewerkschaftsführung hatte kein Konzept, um dieser Offensive zu begegnen. Anstatt den Streik auszuweiten oder Betriebsbesetzungen zu unterstützen, um so aus der Defensive herauszukommen, blieb es bei Protestaktionen vor Arbeitsämtern, Demonstrationen und Warnstreiks in anderen Betrieben. Da das keine unmittelbare Wirkung auf das Verhalten der Arbeitgeber zeigte und das vielen Arbeitern keine angemessene Reaktion auf deren Aussperrung zu sein schien, nahm die Bereitschaft, sich an diesen Aktionen zu beteiligen, rasch ab.

Die ganze Tragweite dieser Ereignisse wird erst deutlich, wenn man sich die Geschichte des Kampfes für die 35-Stunden-Woche von Anfang an vor Augen führt.

Der Kampf der Stahlarbeiter 1978/79 für die „35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich“ sollte ursprünglich weitere Massenentlassungen in der von Krisen geschüttelten Stahlindustrie verhindern. Die Forderung war als „tarifpolitisches Ziel Nummer eins“ [9] innerhalb der IG Metall umstritten und wurde von Teilen der Basis gegen den Willen des Vorstandes durchgesetzt. Kein einziges Vorstandsmitglied beteiligte sich an der Diskussion zu dieser Forderung auf dem Gewerkschaftstag 1977. Der damalige Vorsitzende der IG Metall Eugen Loderer zog es vor, den Delegierten seine ablehnende Haltung über die Presse mitzuteilen.

Der Kampf der Stählarbeiter war von diesem Konflikt in den eigenen Reihen überschattet. Die Arbeitgeber reagierten auf den Streik sofort mit der Aussperrungen von 188.000 Arbeitern. Da die Führung der IG Metall vor einer Radikalisierung des Streiks zurückscheute und nicht hinter seinen Zielen stand, stimmte sie einem Verhandlungsergebnis zu, das mit der ursprünglichen Forderung nichts mehr zu tun hatte. Für Nachtarbeiter und ältere Beschäftigte wurden Freischichten vereinbart, die zusammengerechnet für etwa zwei Drittel bis drei Viertel der in der Eisen- und Stahlindustrie Beschäftigten eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden zum Ergebnis hatten.

Damit wurde eine folgenschwere Niederlage besiegelt. Die 35-Stunden-Woche als Antwort auf die Massenarbeitslosigkeit wurde damit, bis auf weiteres bedeutungslos, ohne daß eine andere Perspektive in Sicht gewesen wäre.

Bei der Urabstimmung lehnten 45 Prozent das Ergebnis ab. Ein Zeichen dafür, daß ein großer Teil der Stahlarbeiter bereit gewesen wäre, den Kampf weiter zu führen. Der Streik war auch für die Diskussion in den anderen Gewerkschaften von großer Bedeutung, weil im Zusammenhang mit der ersten schweren Rezession seit Ende des Zweiten Weltkrieges, der sogenannten Ölkrise von 1974/75, die Arbeitslosigkeit drastisch anstieg. Während 1974 rund 270.000 Arbeitslose registriert waren, was einer Arbeitslosenquote von 1,2 Prozent entsprach, so waren es 1975 plötzlich 4,7 Prozent, d.h. über 1 Million Arbeitsuchende.

 

 

Massenarbeitslosigkeit

Die Rezession von 1981/82 ließ die Arbeitslosenzahlen noch einmal auf 2,2 Millionen in die Höhe schnellen, die Verunsicherung unter den Gewerkschaftsmitgliedern wuchs, und nur gelegentlich kam es zu Widerstand in Form von Betriebsbesetzungen gegen Entlassungen.

Über Sozialpläne wurde der Sturz in die Arbeitslosigkeit, je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit, etwas abgefedert. Die Sozialpläne wirkten wie ein süßes Gift, das die Einheit im Kampf gegen Entlassungen zerstörte, weil sich vor allem für den älteren Stamm der Facharbeiter so hohe Summe ergaben, daß sie der Versuchung erlagen und die Sozialpläne befürworteten, obwohl die jüngeren Kollegen, vor allem die Angelernten, dabei das Nachsehen hatten.

Die Niederlage von 1978/79 führte so zu einem Niedergang der Gewerkschaftsbewegung. Der mit 48,8 Prozent aller abgegebenen Stimmen höchste Wahlsieg der CDU seit 1957 bei der Bundestagswahl 1983 spiegelte diese Verschiebung auf politischer Ebene wider. Die Teile der Arbeiterklasse, die nicht zum harten Stammwählerkern der SPD gehörten, waren vom „Modell Deutschland“ des Helmut Schmidt enttäuscht und verweigerten ihm ihre Stimme.

Der bisher größte Erfolg der SPD, mit einem Stimmenanteil von 45,8 Prozent hei den Bundestagswahlen von 1972, war der Ausdruck einer vollkommen umgekehrten Stimmungslage und von Kräfteverhältnissen, die sich mit den Streiks in den Jahren 1969-1971, damals wurden die höchsten Reallohnsteigerungen seit Kriegsende durchgesetzt, ganz klar zu Gunsten der Arbeiterklasse verschoben hatten.

Beim zweiten Anlauf im Kampf um die 35-Stunden-Woche 1984 von IG Metall und IG Druck hatten sich die Gewerkschaftsführungen zwar die Forderung nach vollem Lohnausgleich zu eigen gemacht, doch signalisierten sie den Arbeitgebern gleichzeitig Kompromißbereitschaft. Angesichts dieser Haltung und den Erfahrungen von 1978/79 fiel es den Gewerkschaftsführungen anfangs schwer, ihre Mitglieder zu mobilisieren. Die Arbeitgeber reagierten 1984 auf den Streikbeginn in der Metallindustrie. wie schon 1978/79, mit massiven Aussperrungen, auf die die IG Metallführung zu defensiv reagierte und der Kampf so verloren ging.

Der langsame Einstieg in die Arbeitszeitverkürzung wurde mit Zugeständnissen bei der Flexibilisierung der Arbeitszeiten erkauft. Diese Form der Arbeitszeitverkürzung war keine Antwort auf die Massenarbeitslosigkeit, das drückte die Stimmung in der Arbeiterklasse trotz der kleinen, aber kontinuierlichen Wachstumsraten der Wirtschaft zu der Zeit.

Aber so wie der Aufschwung der Gewerkschaftsbewegung in Westdeutschland zu Beginn der Siebziger im internationalen Maßstab relativ klein ausfiel, so waren auch die Niederlagen und der Abschwung in den Achtzigern nicht so dramatisch wie z.B. in England mit der Niederlage im Bergarbeiterstreik. Das drückte sich zu Beginn der Neunziger darin aus, daß die Streikbereitschaft der Gewerkschaften in Deutschland höher ist als z.B. in England oder Frankreich, zwei Länder in denen die Zahl der streikenden Arbeiter zu Beginn der Siebziger zehnmal so hoch gewesen ist wie in Westdeutschland. [10]

Streiktage je 1000 Arbeitnehmer

 

 

Trendwende

Der Stimmungsumschwung von den Achtzigern zu den Neunzigern begann sich 1989 abzuzeichnen, als es zu einem regelrechten Boom in der von Krisen geschüttelten Stahlindustrie kam. An der Basis der IG Metall wurden Forderungen laut, die Tarifverhandlungen vorzuziehen. Die große Tarifkommission der IG Metall machte sich diese Forderung unter dem Druck von unten zu eigen, nur das Veto des Hauptvorstandes gegen dieses Vorhaben konnte eine Konfrontation mit den Arbeitgebern verhindern. Damals leisteten die Stahlkonzerne angesichts der drohenden Zuspitzung eine Sonderzahlung von 1.000 DM, um den Protesten die Spitze zu nehmen.

Die rasch steigenden Profite und das Gefühl, unbedingt gebraucht zu werden, waren auch in anderen Branchen, besonders im Öffentlichen Dienst, der Auslöser für Druck von unten. Krankenschwestern streikten, Erzieherinnen und Lehrer gingen auf die Straße. Für viele, besonders für jüngere Arbeiter und Angestellte, war es das erste Mal, daß sie die Erfahrung machten, wie notwendig es ist, sich gewerkschaftlich zu organisieren und daß es sich lohnt, für seine Interessen solidarisch mit seinen Kollegen zu kämpfen. Als Folge dieser Kampfbereitschaft konnten 1991 in Westdeutschland Lohnerhöhungen um die 7,5 Prozent durchgesetzt werden.

Die gegenläufige Konjunktur in Ost- und Westdeutschland war der zentrale Grund für die Streikwelle, die 1992 folgte, obwohl die Erwartungen an die Lohnerhöhungen wegen der abflauenden Konjunktur niedriger waren als im Jahr zuvor. Während in Westdeutschland den kräftigen Umsatzsteigerungen im Vorjahr höhere Abgaben und Gebühren bei den Arbeitern und Angestellten gegenüberstanden, fühlten sich die Beschäftigten im Osten von der Bundesregierung und den Arbeitgebern verraten, deren Treuhandpolitik Millionen in die Arbeitslosigkeit stürzte. Die Regierungspropaganda, die die Tarifrunde 1992 begleitete und darauf abzielte, die Bereitschaft zu Verzicht für die Wiedervereinigung zu wecken, blieb vor diesem Hintergrund ohne Wirkung.

Die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit verschoben sich infolge der zahlreichen Proteste und erfolgreichen Streiks zum ersten Mal seit der Wahl von Helmut Kohl zum Bundeskanzler 1983 wieder zu Gunsten dem Arbeiterklasse. Auf Grund der gewandelten Situation mehrten sich die Stimmen, die das Ende der Ara Kohl spätesten mit der Bundestagswahl 1994 voraussagten. Die SPD gewann, als Folge der verschobenen Kräfteverhältnisse, eine Reihe von wichtigen Landtagswahlen.

Die SPD konnte diese Stimmung gegen Kohl bei der Bundestagswahl im Oktober 1994 nur in geringem Umfang in Stimmengewinne für sich umsetzen, weil sie sich bis zur für sie enttäuschenden Europawahl im Juni gegen die Proteste und Kämpfe der Arbeiter und Angestellten in Ost- und Westdeutschland stellte.

 

 

SPD gegen Streiks

Der Streik der Metaller 1993 gegen den Versuch der Arbeitgeber im Osten, über Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen langfristig auch das Lohnniveau im Westen zu senken, war nur begleitet von Warnungen führender Sozialdemokraten, den Konflikt nicht eskalieren zu lassen.

Nicht besser erging es der Postgewerkschaft ein Jahr später in ihrem Kampf gegen den Sozialabbau bei der Post im Rahmen der geplanten Privatisierung.

Der Abschwung der Gewerkschaftskämpfe am Ende der siebziger Jahre, läutete, rückblickend betrachtet, ein Jahrzehnt des politischen Niedergangs ein. Die Arbeiterklasse wurde totgesagt, und in den Gewerkschaften begann eine bis heute nicht abgeschlossene Zukunftsdiskussion, deren Ergebnisse bisher nicht sehr ermutigend waren. Im Vordergrund stand dabei oft das Bemühen scheinbar objektive Gründe für den Niedergang anzuführen, damit verband sich stillschweigend der Versuch, die Verantwortung für Fehler in der Gewerkschaftspolitik abzulehnen.

Die neunziger Jahre haben die Situation verändert. Die totgesagte Arbeiterklasse ist zu neuem Leben erwacht. Es ist noch kein Aufschwung, der mit dem zu Beginn der siebziger Jahre verglichen werden könnte, aber der Niedergang der Arbeiterbewegung seit der Niederlage von 1978/79 ist beendet.

 

 

Anmerkungen

1. Detlef Hensche, Gewerkschaftsreform zwischen Sachzwängen und utopischen Entwürfen, in FR 13.02.94

2. Tabelle nach: W. Elsnner, Die EWG-Herausforderung und Antworten der Gewerkschaften, Köln 1974

3. Hier z.B. Franz Steinkühler, Der Krise den Beigeschmack der Katastrophe nehmen, in FR 02.03.93

4. Walter Hanesch u.a., Armut in Deutschland, Hamburg 1994

5. Teile der Studie veröffentlicht in: Die Zeit,18.11.94

6. Die Zeit, 11.03.94

7. Die folgende Zusammenstellung basiert auf Angaben der zuständigen Referenten der Einzelgewerkschaften, die Informationen wurden telefonisch eingeholt.

8. Zahlen nach: Michael Kittner, Gewerkschaftsjahrbuch 1994, Köln 1994

9. Michael Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, Bonn 1989

10. Zusainmnenstellung der Tabelle nach: Wirtschaftswoche, 04.03.94

 


Zuletzt aktualisiert am 25.7.2001