John Molyneux

 

Marxismus und die Partei

 

3. Lenin: Vom russischen Bolschewismus zur
Kommunistischen Internationale

(Teil 1)

 

Wie wir gezeigt haben hatte Lenin bis 1904 mehrere Vorstellungen entwickelt, die einen bestimmten Fortschritt über die allgemein akzeptierte Ansicht über die Partei bildeten. Deswegen und wegen der historischen Kontinuität der bolschewistischen Fraktion von der 1903er Spaltung bis zur 1917er Revolution hat man im allgemeinen angenommen, daß Lenin fast von Anfang an die eigene ausgearbeitete Theorie der Partei gehabt hatte, die sich total von der der Sozialdemokratie im Westen unterschied. Aber dabei macht man den Fehler, daß man in die Geschichte Vorstellungen zurückliest, die erst viel später klar wurden. In Wirklichkeit war Lenin zu diesem Zeitpunkt nicht davon bewußt, daß er in einer grundsätzlichen Weise von der sozialdemokratischen Orthodoxie abwich. Er identifizierte die Menschewiki mit dem Bernsteinschen „Revisionismus“ und sich mit der Hauptströmung der SPD um Bebel und Kautsky.

Die Zitate von Kautsky als der marxistische Autorität sind in Lenins Werken dieser Zeit Legion und bleiben so während der ganzen Periode vor dem Krieg. Auch Kautskys Tendenz dazu, die Menschewiki zu unterstützen, wird nicht erlaubt, diese Beurteilung zu beeinflussen; sie wird immer Kautskys Mangel an Wissen über die wirkliche Lage in Rußland zugeschrieben. [1] So spät wie August 1913 konnte Lenin sich auf Bebel als „Vorbild eines Arbeiterführers“ [2] beziehen, und ihn als Ausarbeiter der „Grundlagen der Parlamentstaktik der deutschen (und internationalen) Sozialdemokratie, die den Gegnern nicht einen Fußbreit Boden überläßt ... (und) stets auf die Verwirklichung des Endziels gerichtet“ sei. [3] Was das Wahrnehmen des Konservatismus der SPD betrifft, waren nicht bloß Luxemburg, die ihre Führer aus erster Hand sah, aber auch Trotzki Lenin weit im voraus. So früh wie 1906 warnte Trotzki:

Die europäischen sozialistischen Parteien, insbesondere die größte unter ihnen, die deutsche, haben einen eigenen Konservatismus entwickelt, der um so stärker ist, je größere Massen der Sozialismus ergreift, je höher der Organisationsgrad und die Disziplin dieser Massen sind. Infolgedessen kann die Sozialdemokratie als Organisation, die die politische Erfahrung des Proletariats verkörpert, in einem bestimmten Moment zum unmittelbaren Hindernis auf dem Weg der offenen Auseinandersetzung zwischen den Arbeitern und der bürgerlichen Reaktion werden. [4]

Dieser Punkt wird betont als Korrektiv zur weit verbreiteten Tendenz dazu, die „Einheit“ des Leninschen Denkens zu überschätzen, aus seine Ideen ein völlig konsequentes System zu machen, worin alles vom Anfang bis zum Ende ordentlich hineinpaßt. [5] Wie Trotzki einmal bemerkte: „Wenn Lenin 1903 alles verstanden und formuliert hätte, die für die kommenden Zeiten benötigt war, dann hätte den übrigen Teil seines Lebens bloß aus Wiederholungen bestanden. In Wirklichkeit war das überhaupt nicht der Fall.“ [6] Es gibt eine große Lücke zwischen Lenins Theorie der Partei in den Jahren 1903-04 und die des Jahres 1919 bei der Gründung der Kommunistischen Internationale. Lenin entwickelte diese Theorie nicht alle auf einmal, sondern durch eine Reihe von Reaktionen auf und Verallgemeinerungen aus dem Verlauf des Klassenkampfs. Folglich, wie mit Marx, läßt sich ein Verständnis dieser Theorie nicht aus eine oder zwei Schlüsseltexten herausholen, sondern man muß es aus einer Untersuchung der Leninschen Praxis als Ganzes herausziehen.

 

 

1. Die Auswirkung des Jahres 1905

Nach der 1903er Spaltung war das nächste Ereignis, das eine größere Auswirkung auf Lenins Theorie der Partei hatte, die 1905er Revolution. Die erste Wirkung des Jahres 1905 bestand darin, die Spaltung zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki zu vertiefen. Ursprünglich betraf die Trennung bloß die Frage der Organisation, offenbar ohne Bezug auf Fragen des Programms oder der Strategie, aber jetzt entstand eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit in der Schätzung der Triebkräfte der Revolution. Lenin, wie oben gezeigt, akzeptierte das bürgerliche Wesen der Revolution, aber wegen der konservativen, schwachen und feigen Natur der russischen Bourgeoisie hielt er, daß die bürgerliche Revolution durch das Proletariat verbündet mit der Bauernschaft durchgeführt werden müßte. Im Versuch, diese Position zwecks der revolutionären Aktion zu konkretisieren, argumentierte Lenin, daß die Sozialdemokraten dahin arbeiten sollten, den Einfluß der bürgerlichen Liberalen (der Kadetten usw.) über die Bauernschaft zu brechen, und dann einen gemeinsamen proletarisch-bäuerlichen Aufstand organisieren, um die Autokratie zu stürzen. Aus einem erfolgreichen Aufstand würde eine provisorische revolutionäre Regierung entstehen, die aus der revolutionären Arbeiterpartei (den Sozialdemokraten) und der Partei der revolutionären Bauernschaft (den Sozialrevolutionären) bestehen würde und die die „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ darstellen würde. Nach einer kurzen Periode der energischen Maßnahmen, um jeden Überbleibsel des Feudalismus wegzufegen, würde die provisorische revolutionäre Regierung eine verfassunggebende Versammlung einberufen, die wegen der bäuerlichen Mehrheit der Bevölkerung unvermeidlich antisozialistisch sein würde, und die Sozialdemokraten würden dann eine Oppositionspartei werden, die den Kampf um den Sozialismus führen würde. In dieser Weise, argumentierte Lenin, würde die russische Revolution durchgreifend sein (wie die große Französische Revolution, eher als eine schäbiger Kompromiß wie Deutschland 1848), und würde die bestmöglichen Bedingungen für die künftigen Kämpfe des Proletariats sichern. [7]

Die Menschewiki lehnten jedoch diese Perspektive ab. Immer mehr neigten sie zur Ansicht, daß, weil die Revolution bürgerlich war, jeder Triebkraft die Bourgeoisie sein müßte, wobei nur eine Nebenrolle dem Proletariat zugeschrieben würde. Die Rolle der Sozialdemokraten bestand darin, die bürgerlichen Liberalen unter Druck zu setzen, um sie zu „revolutionieren“, aber gleichzeitig sollte man sie nicht erschrecken. Sie lehnten die Formel der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ und die Teilnahme an einer provisorischen revolutionären Regierung ab, da es wahrscheinlich war, daß diese „die bürgerlichen Klassen veranlassen würde, von der Revolution abzuschwenken, wodurch der Schwung der Revolution geschwächt würde“. [8] Während des Aufstiegs der Revolution wurden die Menschewiki zum großen Teil durch die Ereignisse mitgerissen, aber sobald die Bewegung anfing, abzuebben, drückten sie immer mehr Bedauern über die extremen Positionen und Aktionen aus, in die sie gezwungen worden waren – ein Prozeß, der in Plechanows berüchtigter Bemerkung zuspitzte: „Wir hätten nicht zu den Waffen greifen sollen.“ [9]

Lenins Beobachtung des Verhaltens der Menschewiki überzeugte ihn von der Verbindung zwischen dem Opportunismus in der Organisation und dem Opportunismus in der Politik. Also, obwohl die gemeinsame Tätigkeit der bolschewistischen und der menschewistischen Arbeiter in den revolutionären Kämpfen großen Druck für die Vereinigung verursachte, den Lenin formell nachgab, wurde er entschlossener denn je, die unabhängige Organisation der eigenen Tendenz zu verstärken. In seinem Artikel von 1910 über „Der historische Sinn des innerparteilichen Kampfes in Rußland“, konzentriert Lenin auf die Frage der Rolle des Proletariats in der Revolution und schreibt: „Der Bolschewismus war im Frühjahr und im Sommer 1905 ... als Richtung schon völlig herausgebildet.“ [10]

Die zweite Wirkung der Revolution bestand darin, eine Verschiebung der Betonung in Lenins Vorstellung des Verhältnisses zwischen der Partei und der Klasse zu verursachen. In Was tun? hatte Lenin seine Vorstellung der Partei mit dem Argument gerechtfertigt, daß der Sozialismus in die Arbeiterklasse „von außen“ eingeführt werden müßte und daß spontan die Arbeiterklasse nicht über das Niveau der gewerkschaftlichen Organisation steigen könnte. Angesichts der gewaltigen und spontanen revolutionären Errungenschaften der russischen Arbeiterklasse ändert sich der Ton der Schriften Lenins völlig.

Es unterliegt keinen Zweifel, daß die Revolution den Arbeitermassen in Rußland den Sozialdemokratismus beibringen wird ... In einem solchen Augenblick drängt die Arbeiterklasse instinktiven zur offenen revolutionären Aktion ... [11]

Die Arbeiterklasse ist instinktiv und spontan sozialdemokratisch ... [12]

Jetzt bemerkt Lenin, „wie der elementare Instinkt der Arbeiterbewegung die Konzeptionen der genialsten Denker zu berichtigen weiß“, [13] und ab diesem Zeitpunkt wird er über die Formulierungen von Was tun? umsichtig. „Was tun?“, schreibt er 1907, „korrigiert polemisch den Ökonomismus und es ist falsch, den Inhalt der Broschüre außerhalb dieser Aufgabe zu betrachten.“ [14] Diese Neubewertung beinhaltete nicht jedoch eine Wiederkehr an eine spontaneistischen bzw. fatalistischen Haltung zu den aufgaben der Partei – ganz im Gegenteil, gerade aus diesem Grund griff Lenin die Menschewiki am stärksten an. „Gute Marschierende [Demonstranten], aber schlechte Führer, sie setzen die materialistische Vorstellung der Geschichte herab, indem sie den aktiven, führenden und leitenden Teil in der Geschichte, die von Parteien gespielt werden kann und muß, die die materiellen Voraussetzungen einer Revolution verstehen und die sich an der Spitze der fortschrittlichen Klassen gestellt haben.“ [15] Der Bruch mit dem ökonomistischen Fatalismus, der in Was tun? und Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück errungen wurde, wird erhalten und entwickelt, aber von der elitären Grundlage befreit, die Lenin ihm zuerst gegeben hatte. Die Formulierungen in Zwei Taktiken sind überaus dialektisch. „Kein Zweifel, daß die Revolution uns belehren und daß den Volksmassen belehren wird. Doch für die kämpfende politische Partei steht jetzt die Frage so: Werden wir die Revolution etwas lehren können?“ [16]

Die Folgerung dieser theoretischen Verschiebung war ein Kampf von Lenin innerhalb der bolschewistischen Fraktion gegen den Einfluß der „Berufsrevolutionären“ oder „Komiteemänner“, auf die er ein oder zwei Jahre früher so viel Betonung gesetzt hatte. In der vorrevolutionären Periode der geheimen Aktivität lieferten diese „Komiteemänner“ die Stabilität und das Fachwissen, die notwendig waren, um die Partei unter solchen schwierigen Umständen fest zu gründen, aber sie wurden oft Opfer einer bestimmten routinemäßigen Haltung, die ihr reaktionäres Gesicht mit der Ankunft der Revolution enthüllte. Insbesondere waren sie die spürbare Verkörperung der Theorie, daß man „die Theorie der Arbeiterklasse von außen bringen“ mußte, und als solche neigten sie zu einer überlegenen Haltung gegenüber den Arbeitern, mit dem Ergebnis, daß es fast keine Arbeiter in den Komitees der Bolschewiki gab. Die Frage der Berufung der Arbeiter zu diesen Komitees kam beim 3. Kongreß der Bolschewiki im April 1905 hoch. Krupskaja hat die Debatte beschrieben:

Wladimir Iljitsch trat besonders warm für die Aufnahme der Arbeiter in die K;omitees ein. Auch Bogdanow, die „Ausländer“ und die Literaten waren dafür. Aber die Komiteemitglieder) waren dagegen. Wladimir Iljitsch regte sich auf, die Komitee Mitglieder ebenfalls ...

In der Diskussion führte Wladimir Iljitsch aus: „Ich denke, die Sache muß weiter gefaßt werden. Arbeiter in die Komitees aufzunehmen ist nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine politische Aufgabe. Die Arbeiter haben Klasseninstinkt, und bei einiger politischer Übung werden sie ziemlich schnell standhafte Sozialdemokraten. Ich wäre sehr dafür, daß in unseren Komitees auf je 2 Intellektuelle 8 Arbeiter kämen ...’

... Als Michailow (Pestolowski) einwarf: „In der Praxis werden also an die Intellektuelle nur geringe Forderungen gestellt, an die Arbeiter aber übermäßig hohe“, rief Wladimir Iljitsch dazwischen: „Sehr richtig.“ Und sein Zwischenruf wurde von den Komiteeleuten im chor übertönt: „Ganz falsch!“

Als Rumjanstjew ausführte: „Im Petersburger Komitee gibt es nur einen Arbeiter, obwohl wir schon seit 15 Jahren dort arbeiten“, rief Wladimir Iljitsch: „Das ist ganz unerhört!“. [17]

Die Debatte über Arbeiterbeteiligung an den Komitees, worüber, nebenbei bemerkt, Lenin vom Kongreß geschlagen wurde, war bloß ein Aspekt von Lenins Kampf gegen das konservative Sektierertum in den bolschewistischen Reihen. Eine andere Frage, worüber er mit seinen Anhängern eine Auseinandersetzung hatte, war die Haltung der Partei zum Sowjet. Trotzki, der Vorsitzende des Sowjets, hat die anfängliche Reaktion der Bolschewiki auf diese historische Organisation beschrieben.

Das Petersburger Komitee der Bolschewiki wurde am Anfang von einer solchen Innovation wie eine unparteiische Vertretung der kampfbereiten Massen erschrokken und konnte sich nichts Besseres zu tun finden, als dem Sowjet ein Ultimatum zu stellen: sofort ein sozialdemokratisches Programm annehmen oder sich auflösen. Der Petersburger Sowjet als Ganzes, einschließlich auch der Kontingent der bolschewistischen Werktätigen, ignorierte dieses Ultimatum, ohne mit der Wimper zu zucken. [18]

Aus dem Ausland sah Lenin die Sterilität dieses Ansatzes und stellte sich dagegen in einem Brief an die Zeitung der Partei Nowaja Schisn, worin er argumentierte, daß die Frage nicht hieß: Sowjet oder Partei, sondern „sowohl Sowjet der Arbeiterdeputierten als auch Partei“, [19] und daß es nicht zweckmäßig wäre, „wenn sich der Sowjet voll und ganz irgendeiner einzigen Partei anschließen würde“. [20] „Meines Erachtens“, schrieb Lenin, „ist der Sowjet der Arbeiterdeputierten als politisch führendes revolutionäres Zentrum keine zu breite, sondern im Gegenteil eine zu enge Organisation. Der Sowjet muß sich zur provisorischen revolutionären Regierung ausrufen oder eine solche bilden ...“ [21]

Der wesentliche Unterschied zwischen den „Komiteemännern“ und Lenin bestand darin, daß erstere in der Revolution den begriff der Partei anwenden wollten, der in der vorrevolutionären Periode funktioniert hatte, während Lenin die Partei völlig umorganisieren wollte, um die neuen Kräfte umzufassen und die neuen von der Revolution aufgeworfenen Aufgaben zu konfrontieren.

Wenn wir es nicht verstehen, kühn und mit Initiative neue Organisationen zu schaffen, dann müssen wir die inhaltlosen Ansprüche auf die Rolle der Avantgarde aufgeben. Wenn wir hilflos bei den bereits erreichten Grenzen, Formen und Rahmen der Komitees, Gruppen, Versammlungen und Zirkel stehenbleiben, beweisen wir damit unser Unvermögen. Tausende von Zirkeln entstehen jetzt überall, ohne unser Zutun, ohne irgendein bestimmtes Programm oder Ziel einfach unter dem Einfluß der Ereignisse ... Mögen alle solchen Zirkel, außer den bewußt nichtsozialdemokratisch entweder direkt in die Partei eintreten oder sich der Partei anschließen. Im zweiten Fall darf man weder die Annahme unseres Programms noch bindende organisatorische Beziehungen zu uns verlangen; es genügt der bloße Protest, die bloße Sympathie mit der Sache der internationalen revolutionären Sozialdemokratie ..., wenn die Sozialdemokraten energisch auf sie einwirken ... [22]

Der Parteiapparat stellte sich Lenins Appellen entgegen, aber der Verlauf der Ereignisse war auf seiner Seite. Bis November 1905 konnte er mit Befriedigung merken:

Ich habe auf dem III. Parteitag den Wunsch ausgesprochen, daß in den Parteikomitees auf etwa acht Arbeiter zwei Intellektuellen kommen sollen. Wie veraltet ist dieser Wunsch! Jetzt wäre es zu wünschen, daß in den neuen Parteiorganisationen auf einem Parteimitglied der sozialdemokratischen Intelligenz einige hundert sozialdemokratischen Arbeiter kommen. [23]

Genau wie Lenins theoretische Neubewertung der spontanen Fähigkeiten des Proletariats nicht eine Wiederkehr an den ökonomischen Fatalismus bedeuteten, ebensowenig bedeuteten seine neuen Ansichten über Parteiorganisation die Annahme der menschewistischen Position einer breiten Partei. Die unbegrenzte Ausdehnung, die von Lenin in der revolutionären Periode beabsichtigte, war nur möglich auf der Basis der soliden Vorbereitung der Partei vorher.

Droht der Sozialdemokratie Gefahr, wenn der von uns vorgelegte Plan durchgeführt wird?

Eine Gefahr könnte man darin sehen, daß mit einemmal Massen von Nichtsozialdemokraten in die Partei strömen. Dann würde die Partei in die Masse aufgehen, sie würde aufhören, der bewußte Vortrupp der Klasse zu sein, sie würde in den Nachtrab geraten. Das wäre unbedingt eine beklagenswerte Periode. Und diese Gefahr könnte zweifelsohne höchst ernste Bedeutung erlangen, wenn bei uns Neigung zur Demagogie vorhanden wäre, wenn die Grundlagen des Parteilebens ... völlig fehlten oder schwach und brüchig wären. Aber der springende Punkt ist eben, daß dieses „Wenn“ gar nicht vorhanden ist. Bei uns Bolschewiki hat es keinerlei Neigung zur Demagogie gegeben, im Gegenteil, wir haben ... von den in die Partei Eintretenden Klassenbewußtsein verlangt, die gewaltige Bedeutung der Kontinuität in der Parteientwicklung stets unterstrichen, Disziplin und Erziehung aller Parteimitglieder in einer der Parteiorganisationen propagiert ...

Vergeßt nicht, daß in jeder lebendigen und sich entwickelnden Partei stets unbeständige, wankelmütige und schwankende Elemente geben wird. Aber diese Elemente lassen sich von dem erprobten und fest zusammengeschweißten sozialdemokratischen Kern beeinflussen und werden sich weiterhin von ihm beeinflussen lassen. [24]

Die Erfahrung der „großen Generalprobe“ erhob also Lenins Theorie der Partei auf ein neues Niveau. Sie vertiefte seine Opposition gegen den Opportunismus und verstärkte seine Entschlossenheit, eine spezifisch revolutionäre Partei aufzubauen. Sie klärte auch sein Verständnis des Verhältnisses zwischen Partei und Klasse. Die Partei blieb eine Avantgarde, getrennt von der Klasse als Ganzes, aber jetzt ist sie die Partei der fortgeschrittenen Arbeiter – ein Teil der Klasse –, nicht die Partei der deklassierten Intelligenz, die den Sozialismus „von außen“ einführen. Aber nicht nur der Aufschwung der Revolution beeinflußte Lenin, die darauffolgende Periode der Reaktion fügte wichtige Elemente seiner Theorie der Partei hinzu.

 

 

2. Die Reaktion stählt

Nach der Niederschlagung der 1905er Revolution verschlang schreckliche Reaktion Rußland für einige Jahre. Die Demoralisierung setzte sich ein und die bolschewistischen Organisationen wurden zerschlagen.

Es ist interessant, Lenins Reaktion auf dieser Situation mit der von Marx nach der Niederschlagung der 1848er Revolutionen zu vergleichen. Marx löste den Bund der Kommunisten auf, ließ den Emigranten zu ihren Streitereien und zog sich zu seinem Studium [seiner Untersuchung] zurück. Lenin klammerte sich verzweifelt sowohl an die Resten [Überbleibsel] seiner Parteiorganisation als auch an die Vorstellung der Partei und verteidigte sie leidenschaftlich gegen alle Angriffe. „Mögen die erzreaktionären Schwarzhunderter ... triumphieren und heulen“, schrieb er, „mag die Reaktion wüten ... Die Partei, die es verstehen wird, sich noch stärker zur zielbewußten Arbeit in enger Verbindung mit den Massen zu konsolidieren, die Partei der fortgeschrittenen Klasse, die es verstehen wird, deren Vorhut zu organisieren, die ihre Kräfte so lenken wird, daß sie jede Lebensäußerung des Proletariats im sozialdemokratischen Geiste beeinflussen wird – die Partei wird siegen, komme, was da wolle.“ [25]

Um die Art Partei, die er wollte, zu bewahren und aufzubauen, mußte Lenin viele Fraktionskämpfe führen. Die drei wichtigsten davon waren gegen (a) das rechte „Liquidatorentum“, (B) den linksradikalen „Otzowismus“ (“Abberufertum“) und (d) den zentristischen „Versöhnlerismus“. Diese Streiten wurden sehr heftig und sehr verworren, und das theoretische Niveau der von ihnen erzeugten Polemiken war nicht immer sehr hoch. Folglich muß man sie nicht hier detailliert beschreiben, aber nichtsdestotrotz gingen bestimmte allgemeine Prinzipien daraus hervor, die man merken sollte und die Lenin in späteren Jahren zustatten kamen [gute Dienste leisteten]. [26] Erstens, daß die Partei nicht nur eine Organisation für den Angriff ist, sondern auch für den „Rückzug in guter Ordnung“. „Von allen angeschlagenen oppositionellen und revolutionären Parteien haben sich die Bolschewiki in größter Ordnung zurückgezogen, mit geringsten Verlusten für ihre ‚Armee’, bei größter Erhaltung ihres Kerns ...“ [27] Zweitens, das Prinzip, „illegale Arbeit mit unbedingter Ausnutzung der „legalen Möglichkeiten’ zu verbinden“. [28] Drittens, das Prinzip der Durchführung des Kampfes gegen den Opportunismus bis hin zu seinen organisatorischen Schlußfolgerungen und der Spaltung mit allen nicht revolutionären Elementen.

Gerade dieser letzte Punkt war das unverwechselbare Kennzeichen des Leninismus und führte 1912 zur formellen Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (Bolschewiki) als völlig getrennte und unabhängige Partei. Kautsky hatte Bernstein theoretisch bekämpft, aber die Revisionisten wurden nicht aus der SPD ausgeschlossen. Rosa Luxemburg bekämpfte Kautsky und das Zentrum der SPD, baute aber keine getrennte Organisation auf. Trotzki war gegen das Liquidatorentum und den Otzowismus und war ebenso kritisch der politischen Linie der Menschewiki gegenüber wie Lenin, [29] und trotzdem arbeitete er gegen eine Spaltung. Es war auch ein Fortschritt im Vergleich mit der eigenen früheren Position Lenins insofern, daß die 1903er Spaltung zum großen Teil das Werk der Menschewiki und Lenin häufig bereit gewesen war, die Wiedervereinigung zu überlegen, während er jetzt endgültig mit dem Menschewismus brach.

Das Ergebnis der entschlossenen Kämpfe Lenins während der Reaktion war, daß die Bolschewiki ihr Leben als völlig unabhängige Partei anfing, gerade als die Arbeiterbewegung sich wiederbelebte. Die langsam sich erholende Bewegung bekam einen großen Anstoß aus dem Massaker der Goldbergarbeiter an der Lena am 4, April 1912, er eine Welle von Streiks, Protestversammlungen und -demonstrationen überall im Land verursachte, die ihren Höhepunkt in einem 400.000-starken Streik am 1. Mai erreichte. Lenin intervenierte in diese Situation durch die Veröffentlichung einer legalen Tageszeitung, Prawda, deren erste Ausgabe 18 Tage nach dem Massaker an der Lena erschien. Prawda kombinierte eine kompromißlose politische Linie [30] mit zahlreichen Berichten von Arbeitern selbst, die ihre tagtäglichen Bedingungen und Kämpfe aufzeichneten. In einem Jahr wurde 11.000 solche Briefe und Berichte von Arbeitern veröffentlicht. [31] Die Auflage der Prawda erreichte über 40.000 und die Bildung von Arbeitergruppen, um Geld für die Zeitung zu sammeln, kompensierte für die Mangel an einer legalen Massenpartei. Auf den Basis einer mühsamen Analyse dieser Sammlungen zeigte Lenin, daß die Bolschewiki die deutliche Hegemonie über die politisch bewußten Arbeitern gewonnen hatte. 1913 bekam Prawda Spenden von 2.181 Gruppen, während die menschewistischen Zeitungen Spenden von 661 Gruppen bekamen. Bis zum 13. Mai 1914 betrug die Zahl der Spenden für Prawda 2.873, im Gegensatz zu 671 für die Menschewiki. [32] Daraus folgerte Lenin: „Der Prawdismus, die prawdistischen Beschlüsse, die prawdistische Taktik haben ... 4/5 der klassenbewußten Arbeiter Rußlands vereinigt.“ [33] Lenin war also der erste Marxist, der eine Partei geschaffen hatte, die ausschließlich aus Revolutionären ohne einen reformistischen oder opportunistischen Flügel bestand und die eine beträchtliche Basis in der Arbeiterklasse hatte.

 

 

3. Die revolutionärste Sektion der Zweiten Internationale

Zu diesem Zeitpunkt ist es nützlich, zu untersuchen, wie die Bolschewistische Partei, die greifbare Verkörperung der Ideen Lenins über die Partei, wirklich in der Praxis aussah, und zu sehen, wie sie sich mit Drehern „orthodoxeren“ sozialdemokratischen Parteien vergleichen ließ.

Erstens waren die Bolschewiki selbstverständlich eine illegale Partei, die in einem Land arbeitete, wo es keine demokratischen Freiheiten und keine wirksamen Gewerkschaften gab, während die meisten sozialdemokratischen Organisationen im Westen lange her ihre Legalität gewonnen hatten. Folglich entwickelten die Bolschewiki nicht wie z.B. die SPD eine breite Schicht von Funktionären, die aus lokalen Funktionären, Gewerkschaftsführern, Parlamentsabgeordneten, Stadträten usw. bestand, und konnten sie auch nicht entwickeln. Diese Schicht ist unvermeidlich dem enormen „mäßigenden“ Druck von ihrer Umgebung ausgesetzt. Erhoben auf eine privilegierte Position gegenüber den Arbeitern an der Basis, finden solche Funktionäre, daß es für sie eine bestimmte Rolle zu spielen gibt, nicht bloß in der Arbeiterbewegung, sondern auch innerhalb des Kapitalismus, als Vermittler zwischen den Klassen, und deshalb haben sie ein Interesse am gesellschaftlichen Frieden. Sie bilden daher eine größere konservative Kraft. Innerhalb der internationalen Sozialdemokratie funktionierte diese Schicht als permanente Basis für den Reformismus. Die Tatsache, daß die bolschewistische Führung und ihre Kader vor Ort näher an der Gefängniszelle bzw. am sibirischen Exil standen, als an Ministerposten und am Beamtentum der Gewerkschaften, und daß die Partei selbst nicht mehr als einen abgenutzten Verwaltungsapparat hatte, machte die Partei relativ (aber nicht völlig) sicher vor der bürokratischen routinemäßigen Arbeitsweise.

Zweitens war die Zusammensetzung der Bolschewistischen Partei hoch proletarisch. David Lane hat die folgende Aufschlüsselung der bolschewistischen Mitgliedschaft für 1905 produziert: Arbeiter, 61,9 Prozent; Bauern, 4,8 Prozent; Angestellte, 27,4 Prozent; Sonstige, 5,9 Prozent; [34] und er kommt zum Schluß: „Wenn man sie nach den unteren Ebenen der Partei und besonders nach ihrer Unterstützung unter dem Volk beurteilt, darf man sagen daß die Bolschewiki eine ‚Arbeiterpartei’ waren“, während „es wahrscheinlich scheint, daß die Menschewiki verhältnismäßig mehr ‚kleinbürgerliche’ Mitglieder und weniger Unterstützter aus der Arbeiterklasse in den unteren Ebenen hatten“. [35] Während der Reaktion gab es einen Massenauszug der Intellektuellen aus der Bewegung, während die Betriebszellen, obwohl isoliert, besser überlebten, was die Proletarisierung der Partei steigerte. die obengenannte Analyse Lenins von den Geldsammlungen zwischen 1912 und 1914 bestätigt dieses Bild. Von allen Spenden zur Prawda im ersten Quartal von 1914 kamen 87 Prozent von Arbeitersammlungen und 13 Prozent von Nichtarbeitern, während nur 44 Prozent der Spenden an die menschewistischen Zeitungen von Arbeitern kamen und 56 Prozent von Nichtarbeitern. [36]

Die Kombination des illegalen Status der Partei und ihrer proletarischen Zusammensetzung führte zu einer organisatorischen Struktur, die sich radikal von der normalen sozialdemokratischen Tradition unterschied. Trotz ihrer revolutionären Rhetorik bestand die wesentliche Strategie der meisten Parteien der Zweiten Internationale darin, die parlamentarische Mehrheit zu erringen. Folglich wurden die grundsätzlichen Einheiten dieser Partei nach Wohnort oder geographisch organisiert, um die Mobilisierung der Parteimitgliedschaft für Wahlkampagnen in den entsprechenden Wahlkreise zu erleichtern. In Rußland führten das Fehlen von Parlamentswahlen (die Wahlen, die für die Duma stattfanden, wurden auf betrieblicher Basis organisiert) und die Notwendigkeit der Heimlichkeit die Bolschewiki dazu, ihre Organisation auf den Betrieben zu stützen. Osip Pjatnitski, ein alter bolschewistischer Organisationsmann, berichtet: „Während aller Perioden existierte die untere Parteiorganisation der Bolschewiki im Arbeitsplatz eher als im Wohnort.“ [37] Trotz der Kleinigkeit der Bolschewistischen Partei führte diese Struktur zu einem engeren Verhältnis zwischen der Partei und dem Proletariat als das, was von anderen sozialdemokratischen Parteien erreicht wurde; ihr Kontakt mit den Betrieben neigte dazu, indirekt durch die Kontrolle über die Gewerkschaften zu laufen und dabei gab es eine bestimmte Arbeitsteilung zwischen dem von den Gewerkschaften behandelten industriellen Kampf und dem von der Partei behandelten politischen Kampf. Keine solche De-facto-Trennung fand mit den Bolschewiki statt. Pjatnitski hat die Arbeit der bolschewistischen Betriebszellen beschrieben:

Im zaristischen Rußland ... nutzten die Zellen alle Beschwerden in den Betrieben: die Schroffheit der Vorarbeiter, Lohnabzüge, Bußgelder, das Versäumnis, medizinische Hilfe bei Unfällen zu liefern usw., für mündliche Agitation an der Werkbank, durch Flugblätter, Versammlungen bei der Betriebs Tor bzw. im Betriebshof, und getrennte Versammlungen der klassenbewußteren und revolutionären Arbeiter. Die Bolschewiki zeigten immer die Verbindung zwischen dem Mißbrauch in den Betrieben und der Herrschaft der Autokratie ... Gleichzeitig wurde die Autokratie in der Agitation der Parteizellen mit dem kapitalistischen System verbunden, so daß ganz am Anfang der Entwicklung der Arbeiterbewegung die Bolschewiki eine Verbindung zwischen dem ökonomischen und dem politischen Kampf feststellten [bewiesen]. [38]

So war die Bolschewistische Partei nicht bloß die politische Vertretung der Arbeiterklasse, sondern eine interventionistische Kampfpartei, die danach strebte, die Klasse in all ihren Kämpfen zu führen und zu leiten.

Auch wichtig war die Jugend der Parteimitgliedschaft. 1907 waren zirka 22 Prozent der Parteimitglieder unter 20 Jahre alt; 37 Prozent waren zwischen 20 und 24 und 16 Prozent zwischen 25 und 29. [39] Trotzki hat über die Bedeutung davon bemerkt: „In der Illegalität war der Bolschewismus stets eine Partei der jungen Arbeiter. Die Menschewiki stützten sich auf die gediegenen Facharbeiter, die Oberschicht des Proletariats. Herablassend prahlten sie damit gegenüber den Bolschewiki, bis die späteren Ereignisse ihnen unbarmherzig ihren Fehler aufzeigten, denn im entscheidenden Augenblick riß die Jugend die reiferen Schichten und sogar die Alten mit.“ [40] Und Lane bemerkt: „Die Bolschewiki waren jünger als die Menschewiki in den niedersten Schichten der Partei und noch mehr unter den ‚Aktivisten’ als unter den normalen Mitgliedern. Das deutet darauf hin, daß die organisatorische Struktur der Bolschewiki den Jugendlichen erlaubte, leichter zu Positionen der Verantwortung zu verlangen, als die der Menschewiki ... Politisch boten diese junge Männer vielleicht dynamischere und energischere Führung der bolschewistischen Fraktion.“ [41] Sicherlich war die Jugend der Partei ein weiterer größerer Faktor dabei, sie von einer konservativen routinemäßigen Arbeitsweise zu befreien.

Letztens war die Bolschewistischen Partei eine disziplinierte Körperschaft. Das innere Regime der Partei wurde als demokratischen Zentralismus bezeichnet, aber diese Phrase an sich hat keine große Bedeutung. Als organisatorische Formel war sie überhaupt nicht spezifisch leninistisch, da sie theoretisch sowohl von den Menschewiki als auch von vielen anderen sozialdemokratischen Parteien akzeptiert wurde. [42] Was bedeutend war, war die Interpretation, die dem demokratischen Zentralismus in der Praxis gegeben wurde. Lenin definierte ihn als „Einheit der Aktion, Freiheit der Diskussion und Kritik“, [43] wobei er Freiheit der Kritik innerhalb des Rahmens des Parteiprogramms meinte, bei eine bestimmte Entscheidung getroffen wurde, dann die Durchführung dieser Entscheidung durch die einheitliche Partei. Keine Partei, die sowohl einen revolutionären als auch einen reformistischen Flügel enthält, d.h. Gruppen mit grundsätzlich voneinander abweichenden Zielen, kann in der Praxis eine disziplinierte Organisation sein. So, obwohl die deutsche Sozialdemokratie große Wichtigkeit der Zentralisation der Verwaltung und der Einheit der Partei zuschrieb, hatte sie eine sehr lässige Haltung gegenüber Verstößen gegen Disziplin seitens Würdenträger der Partei, Gewerkschaftsführer usw. Disziplin existiert, um Aktionseinheit zu erreichen, aber wenn die organisatorische Einheit vor dem Prinzip steht, dann verschwindet die wirkliche Disziplin unvermeidlich. „Ohne Organisation der Massen“, schrieb Lenin, „ist das Proletariat nichts. Organisiert ist es alles. Organisiertheit ist Einheit der Aktion, ist Einheit des praktischen Handelns. Selbstverständlich sind aber alle Aktionen und alles Handeln nur deshalb und insofern von Wert, als sie vorwärtsbringen und nicht zurückwerfen ... Organisation ohne ideologischen Inhalt ist Unfug, der die Arbeiter in der Praxis in klägliche Nachläufer der machthabenden Bourgeoisie verwandelt ... Deshalb dürfen klassenbewußte Arbeiter niemals vergessen, daß es so ernsthafte Verletzungen der Prinzipien geben kann, daß der Bruch aller organisatorischen Beziehungen zur Pflicht wird.“ [44]

Die Bolschewistische Partei wurde durch ihre Situation dazu gezwungen, diszipliniert zu sein, und konnte die erforderliche Disziplin erreichen, weil sie politisch einheitlich war. Aber es ist wichtig, zu verstehen, daß diese Disziplin nicht, wie oft behauptet wurde, unabhängige Initiative aus der Basis der Partei ausschloß. Dieselben repressiven Bedingungen, die die Aktionseinheit zur Notwendigkeit machten, zwang die lokalen Sektionen der Partei auch dazu, selbständig zu handeln. Pjatnitski schreibt:

Die Initiative der lokalen Parteiorganisationen, der Zellen, wurde ermutigt. Hätten die Bolschewiki von Odessa, oder Moskau oder Baku oder Tiflis immer auf Weisungen des Zentralkomitees, der Provinzkomitees usw. gewartet, die häufig während der Jahre der Reaktion und des Kriegs wegen Verhaftungen überhaupt nicht existierten, was wäre das Ergebnis gewesen? Die Bolschewiki hätten nicht die werktätigen Massen erobert und überhaupt einen Einfluß über sie ausgeübt. [45]

Alle diese Faktoren kombinierten und machten Lenins Bolschewistische Partei am Vorabend des Ersten Weltkriegs, mit den Worten Trotzkis, zur „revolutionärsten – eigentlich der einzigen revolutionären – Sektion der Zweiten Internationale“. [46]

 

 

4. Der Bruch mit der Sozialdemokratie

Trotzkis Charakterisierung [Bezeichnung] der Bolschewiki als „die einzige revolutionäre Sektion der Zweiten International zeigt jedoch auch die Grenzen der Leninschen Errungenschaften bis zu diesem Zeitpunkt, denn sie macht die Tatsache deutlich, daß die Bolschewiki eine Sektion der Sozialdemokratie blieben. Das an sich zeigt, daß, obwohl Lenin in der Praxis eine Partei entwickelt hatte, die total von der sozialdemokratischen Norm abwich, er noch nicht die Erfahrung zu einer deutlichen und neuen Theorie der Partei bewußt verallgemeinert hatte. Erst der Zusammenbruch der Internationale vor dem Weltkrieg [angesichts des Weltkriegs] verursachte Lenins vollständigen theoretischen Bruch mit dem alten Sozialismus und die Geburt einer spezifisch leninistischen Theorie der Partei.

Lenin, wie wohl bekannt, wurde völlig überrascht durch die Unterstützung, die alle wichtigen europäischen sozialistischen Parteien dem Krieg gaben, ihrer ganzen vorherigen Politik zum Trotz. Seine erste Reaktion auf die Ausgabe von Vorwärts, die die Abstimmung der SPD für die Kriegskredite berichtet, war, daß es sich um eine Fälschung handeln mußte. Aber als er einmal den Ausmaß der Kapitulation begriffen hatte, entwickelte sich sein Denken sehr rasch. Lenins absolut erster Artikel nach dem Ausbruch des Krieges, „Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg“, der nicht später als den 28. August 1914 geschrieben wurde, verurteilte nicht nur die Führer der internationalen Sozialdemokratie für ihren „Verrat am Sozialismus“ [47] und hielt den „ideologischen und politischen Zusammenbruch der Internationale“ [48] fest, sondern auch identifizierte in diesem Verrat und Aufgabe der früheren Positionen eine Fortsetzung von Tendenzen, die vor dem Krieg lange am Werk gewesen waren. Der Sozialchauvinismus wird als das Produkt und die Entwicklung des Opportunismus identifiziert. „Die Hauptursache dieses Zusammenbruchs [der Internationale] ist darin zu suchen, daß in ihr faktisch der kleinbürgerliche Opportunismus überwiegt ... Das sogenannte ‚Zentrum’ der deutschen sozialdemokratischen Partei und der anderen sozialdemokratischen Parteien hat praktisch vor den Opportunisten feige kapituliert.“ [49] Daraus zog Lenin sofort den Schluß: „Aufgabe der künftigen Internationale muß es sein, sich dieser bürgerlichen Richtung im Sozialismus unwiderruflich und entschieden zu entledigen.“ [50]

Ab diesem Punkt wollte Lenin nichts zu tun haben mit Schemen, die Internationale wiederzuvereinigen bzw. wiederzubeleben. „Man muß diesen Zusammenbruch im Gegenteil offen zugeben und seine Ursachen begreifen, damit man einen neuen festeren sozialistischen Zusammenschluß der Arbeiter aller Länder herbeiführen kann.“ [51] Bis zum 1. November hatte das Zentralkomitee der Bolschewiki die Parole ausgegeben: „Es lebe die vom Opportunismus befreite proletarische Internationale!“ [52] Im Dezember fragte Lenin: „Wäre es dann nicht besser, auf den von ihnen beschmutzten und erniedrigten Namen ‚Sozialdemokraten’ zu verzichten und zur alten marxistischen Bezeichnung Kommunist zurückzukehren?“ [53], und bis Februar 1915 hatte sich die Parteikonferenz der Bolschewiki sich offiziell schließlich zur Gründung einer „Dritten Internationale“ verpflichtet. [54]

Bis 1914 hatte Lenin sich als orthodoxer Sozialdemokrat betrachtet, der auf den eigentümlichen Bedingungen des zaristischen Rußlands die bewährte Theorie und Methode von Kautsky und Bebel anwandte. Aber die Entscheidung zugunsten einer Dritten Internationale bedeutete nicht eine Entschlossenheit, diese von ihrer Führer aufgegebene Tradition zu wahren, sondern eine radikale Ablehnung davon. Lenin erhob zwei miteinander verbundene Vorwürfe gegen die zweite Internationale: a) daß sie das Produkt einer verlängerten Periode des „Friedens“ war – „Friede“ bedeutete hier nicht nur Frieden zwischen Nationen, sondern auch relativen Frieden zwischen den Klassen –, während deren sie sich an legale Methoden und das Wachstum ihrer legalen Massenorganisationen angewöhnt hatte, daß sie nicht bereit und dazu unfähig war, den notwendigen Übergang zu illegaler Arbeit vollzuziehen; und b) daß sei eine Koalition zwischen Revolutionären und Opportunisten zugunsten der letzten war.

Der Typus der sozialistischen Parteien in der Epoche der II. Internationale war die Partei, die in ihrer Mitte einen Opportunismus duldete, der sich in Jahrzehnten der „friedlichen“ Periode immer mehr ausbreitete ... Dieser Typus hat sich überlebt. Wenn der Krieg 1915 enden sollte, werden sich dann Sozialisten von Verstand finden, die sich 1916 an den Wiederaufbau der Arbeiterparteien zusammen mit den Opportunisten machen möchten, nachdem sie aus Erfahrung wissen, daß diese Opportunisten bei der nächsten, wie immer gearteten Krise alle ohne Ausnahme ... auf der Seite der Bourgeoisie sein werden ... [55]

Im Vergleich mit der Zweiten Internationale, die Kautsky passend als „Werkzeug für den Frieden, ungeeignet für den Krieg“, [56] sollte die Dritte Internationale genau ein Werkzeug des Krieges sein – den internationalen Bürgerkrieg gegen die imperialistische Bourgeoisie – und deshalb könnte sie in ihren Reihen weder eine fünfte Kolonne noch Zauderer dulden. als er diese Kritik der Sozialdemokratie durchführte, ist es deutlich, daß Lenin seine Ideen auf seine Erfahrungen mit den Bolschewiki und dem Kampf gegen den Menschewismus beruhte, aber jetzt zum ersten Mal wurden diese Erfahrungen und die zahlreichen theoretischen Einsichten, die sie begleiteten, international verallgemeinert zu einer neuen Theorie der Partei, die überall die alten Organisationsformen ersetzen sollte.

Eine neue Theorie der Partei konnte jedoch nicht alleine stehen; sie bedarf der umfassenden Erneuerung des Marxismus. Denn eine Theorie der Partei ist bloß die Anwendung auf Organisation einer Analyse des Klassenkampfs als Ganzes. Die sozialdemokratischen Parteien waren sowohl Erzeuger als auch Erzeugnis einer mechanistischen und fatalistischen Interpretation des Marxismus, worin die Vereinigung des Proletariats und das Wachstum seiner politischen Partei als etwas betrachtet wurden, das sich reibungslos und harmonisch in einer ständig aufsteigenden Linie als unvermeidliche Folge der kapitalistischen Entwicklung fortsetzen würde. Die Aufgaben der Marxisten in diesem Schema wurden von Kautsky formuliert, wie folgt: „Die Organisation aufbauen; alle Machtpositionen gewinnen, die wir durch unsere eigene Stärke gewinnen und sicher halten können; den Staat und die Gesellschaft studieren und die Massen ausbilden; andere Ziele können wir weder uns noch unseren Organisationen bewußt und systematisch setzen“, [57] und er formulierte das Ziel folgendermaßen: „Die Eroberung der Staatsmacht, indem wir eine Mehrheit im Parlament gewinnen und das Parlament zum Rang des Meisters der Regierung.“ [58] Das letzte würde unvermeidlich verwirklicht werden, vorausgesetzt nur, daß die Partei die Störung [Zerschlagung] ihrer gepriesenen „Organisationen“ vermiede und nicht in törichte bzw. verfrühte Konflikte eingezogen würde. In der Praxis wurde die Vermeidung solcher Zwischenfälle zum Hauptanliegen vieler sozialdemokratischen Führer. In den ersten Jahren des Krieges machte Lenin sich daran, diese Perspektive zu zerlegen und eine neue theoretische Grundlage für die künftige Dritte Internationale zu bilden. Dieses Projekt führte Lenin in drei Hauptbereiche der theoretischen Untersuchung: a) Philosophie; b) Ökonomie (die Analyse des Imperialismus); und c) Politik (den Staat). Jeder von diesen hatte eine wichtige Bedeutung für seine Theorie der Partei und deshalb, obwohl es nicht hier möglich ist, sich sehr tief mit irgendeiner dieser Fragen zu befassen, ist es notwendig, mindestens die wichtigsten Verbindungen zu zeigen.

In bezug auf Philosophie haben wir schon argumentiert, daß der Schlüssel zu Lenins Haltung in der ursprünglichen Spaltung mit den Menschewiki seine Ablehnung des fatalistischen (“tailist“ ?) Ansatzes der letzteren zu Problemen der Organisation. Zu jenem Zeitpunkt war Lenins Position eher das Produkt seines ausgeprägten politischen Instinkts und des praktischen Verurteilungsvermögens als das Produkt eines philosophischen Bruchs mit dem mechanischen Materialismus, wie durch seine Formulierungen im Buch Materialismus und Empiriokritizismus [59] veranschaulicht wird. Ende 1914 stürzte Lenin ins Studium von Hegel, insbesondere von Hegels Wissenschaft der Logik. Lenin, wie Marx, schrieb nie seine Dialektik, aber nichtsdestoweniger zeigen seine Randnotizen über Hegel [60] deutlich die philosophische „Revolution“, die durch dieses Lesen verursacht wurde. Für das erste Mal begreift Lenin die marxsche Dialektik deutlich und nimmt sie auf. Durch die Wiederherstellung dieser Dialektik und der Praxis zu ihrem berechtigten Platz in der marxistischen Weltanschauung, [61] stellte Lenin die philosophische Basis für eine Partei fest, die darauf zielte, nicht passiv die Arbeiterklasse zu widerspiegeln, noch auf die Ausarbeitung der eisernen Gesetze der Geschichte zu warten, sondern tatsächlich in die Gestaltung der Geschichte einzumischen.

In bezug auf Ökonomie bestand Lenins Aufgabe darin, zu zeigen, daß die objektive Lage reif war für die Schaffung einer neuen internationalen Partei, die revolutionär war nicht nur in ihren Endzielen, sondern auch in ihrer unmittelbaren Befürwortung und Vorbereitung von revolutionären Kampfmethoden.

In seinem Büchlein Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus beabsichtigte Lenin, zu zeigen, das auf einem Weltmaßstab die Revolution auf der Tagesordnung stand. Lenins Argumentation, nur die wesentlichen Punkte, lautete, daß der Imperialismus das Produkt der Verwandlung, durch das Gesetz der Konzentration des Kapitals, des Kapitalismus, der sich auf der freien Konkurrenz stützte, in sein Gegenteil, den Monopolkapitalismus, war. Diese wurde begleitet von der Vorherrschaft des Finanzkapitals über das Industriekapital, und der Akkumulation eines Kapitalüberschusses, der nur rentable Absatzmärkte [?] in rückständigen Ländern finden könnte, wo die Arbeit billig und das Kapital knapp war. Folglich war die Welt zwischen den großen Monopolen und ihren jeweiligen „heimischen“ Regierungen aufgeteilt worden. Da eine solche Aufteilung nur auf der Basis der relativen Stärke stattfinden konnte und das die relativen Stärken der Monopole und der kapitalistischen Mächte nicht stabil bleiben würde, so würde sich unvermeidlich ein Kampf für die Umverteilung einsetzen, wieder auf der Basis der Stärke (d.h. Krieg). Auf dieser Basis würde jede Erringung des Friedens nur das Vorspiel für einen neuen Krieg sein. Vor allem verschärfte der Imperialismus den Widerspruch zwischen der Vergesellschaftung der Produktion und ihrer privaten Aneignung; und daher kennzeichnete der Imperialismus den Anfang des Rückgangs des Kapitalismus und die Eröffnung der Ära von „Kriegen und Revolutionen“.

Zusätzlich zur Begründung der objektiven Basis für eine neue revolutionäre Internationale lieferte Lenins Analyse des Imperialismus auch eine ökonomische Grundlage für seine Kritik der Zweiten Internationale. Lenin erinnerte sich an Engels Bemerkungen über die Verbürgerlichung eines Teils des englischen Proletariats aufgrund des industriellen und kolonialen Monopols Englands [62] und er argumentierte, imperialistische Monopole hätten „Extraprofite“ aus ihrer Ausbeutung der Kolonien gewonnen und die „Bourgeoisie einer imperialistischen ‚Groß’macht ist ökonomisch in der Lage, die oberen Schichten ‚ihrer’ Arbeiter zu bestechen“. [63] Im 19. Jahrhundert war das nur in England möglich, aber es hatte das seit Jahrzehnten gearbeitet, um die Arbeiterbewegung zu korrumpieren. Jetzt andererseits „kann jede imperialistische ‚Groß’macht kleinere (als in England 1848-1868) Schichten der ‚Arbeiteraristokratie’ bestechen, und besticht es auch.“ [64] In dieser Weise „hat die Bourgeoisie schon in allen Ländern ‚bürgerliche Arbeiterparteien’ der Sozialchauvinisten ... sich dienstbar gemacht“. [65] So stellte Lenin fest, daß der Opportunismus, bzw. der Reformismus, in der Arbeiterbewegung nicht bloß eine alternative Lehrmeinung, ein Zeichen der Unreife oder auch einfach ein Produkt des Drucks der bürgerlichen Ideologie war; vielmehr wurde er „ökonomisch ‚begründet’“. [66] Der Opportunismus war die Aufopferung der allgemeinen Interessen des Proletariats zu den unmittelbaren Interessen verschiedener Gruppen von Arbeitern. Die Vorstellung „bürgerliche Arbeiterpartei“ bedeutet, daß der Opportunismus als Agent des Klassenfeinds innerhalb der Reihen des Proletariats betrachtet wird.

Diese Definition des Opportunismus, die kein Marxist früher so deutlich formuliert hatte, ist wesentlich für Lenins Theorie der Partei. Sie ist der grundsätzliche Grund, warum die Partei streng alle reformistische Tendenzen aus ihren Reihen ausschließen muß. Sie ist eine Anerkennung, daß die revolutionäre Partei nicht nur für den Kampf gegen die Bourgeoisie organisiert werden muß, sondern auch (in einer anderen Weise) gegen bürgerliche Organisationen innerhalb der Arbeiterklasse. Sie ist ein Verständnis und eine Erklärung der Schwierigkeiten, die der Übergang von der Klasse-an-sich zur Klasse-für-sich mit sich bringt. 1901 hatte Lenin dieses Problem begriffen aber es als Ergebnis der Unfähigkeit der Arbeiterklasse erklärt, sozialistisches Bewußtsein durch seine eigene Anstrengungen zu erreichen. Jetzt erklärte er es als Ergebnis des Widerspruches zwischen den historischen und den unmittelbaren Interessen des Proletariats, der für beschränkte Perioden und für beschränkte Schichten über das endgültige Bedürfnis nach Klasseneinheit vorherrschen könnte. Die sozialistische Vereinigung der Arbeiterklasse entwickelt sich dialektisch durch inneren Kampf. Als Agent dieses Kampfes muß die revolutionäre Partei ihre Mitgliedschaft auf denjenigen beschränken, für die die allgemeinen Interessen des Proletariats höher als unmittelbare Interessen stehen, mit einem Wort, auf Internationalisten.

Letztens gibt es die Frage des Staates, die auch die Debatten über Imperialismus und den Krieg nach vorne gebracht wurde. [67] Das Wesen der sozialistischen Revolution besteht in der Übertragung des Staatsmacht von der Bourgeoisie zum Proletariat. Da die Organisation der Partei notwendigerweise zum Teil von den Aufgaben bestimmt wird, die sie in der Revolution durchführen muß, ist die Frage, wie diese Übertragung der Macht vorgestellt wird, von großer Bedeutung für die Theorie der Partei. Die Theoretiker der Zweiten Internationale schlossen die Gewalt, besonders defensive Gewalt, im Kampf um die Macht nicht aus, aber im wesentlichen erwarteten sie, daß die Revolution den Staatsapparat selbst unversehrt lassen würde. Die Rolle der Partei würde darin bestehen, den bestehenden Staat zu übernehmen – zweifellos würde sie das leitende Personal wechseln –, ihn umzuorganisieren usw., aber ihre Struktur nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Mit einer solchen Ansicht über die Aufgaben der Revolution hinsichtlich des Staates, muß man unvermeidlich den Mittelpunkt des Klassenkampfs im Parlament und in Parlamentswahlen sehen. Daher schrieb Kautsky: „Diese ‚direkte Aktion’ der Gewerkschaften kann sich nur als Ergänzung und Verstärkung nicht als Ersetzung der parlamentarischen Tätigkeit zweckmäßig betätigen“; [68] und: „[Das Parlament gehört] zu den wirksamsten Hebeln, das Proletariat aus seiner wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und moralischen Erniedrigung zu erheben.“ [69] Daraus folgt, daß die Führung der Partei allmählich auf die parlamentarische Vertretung verlegt wird, da gerade durch eine parlamentarische Mehrheit die revolutionäre Regierung gebildet werden sollte. In dieser Vorstellung ist die Rolle der Basis der Partei, und noch mehr die der Arbeiter außerhalb der Partei, wesentlich passiv: Denn, obwohl sie vielleicht gefordert werden werden, zu kämpfen, wird von ihnen erwartet, weder die neue Machtstrukturen selbst zu schaffen, noch sich an ihrer Leitung zu beteiligen. Die bürokratische Vorstellung der Revolution seitens der Sozialdemokratie brachte eine bürokratische Organisation der Partei mit sich.

Für die Bolschewiki, wie oben gezeigt, hatte nichts davon gegolten, weil kein moderner Staat in Rußland existierte und sie von Anfang an illegal gewesen waren. Aber jetzt, wo er die neue Internationale vorhatte, mußte Lenin dieses Problem theoretisch konfrontieren. Das Ergebnis war, daß er Marx’ Verallgemeinerung aus der Erfahrung der französischen Revolutionen von 1848-52 und 1871 wiederentdeckte, klärte und systematisierte, die lautet: „Die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen.“ [70] Lenin faßte die Frage in seinen Notizbüchern zusammen, wie folgt:

Änderungen nach 1871? Sie sind alle solche, oder ihre allgemein Natur bzw. ihre Summe ist solche, daß überall die Bürokratie in die Höhe geschossen ist (beide im Parlamentarismus, darin – in lokaler Selbstverwaltung, in den Aktiengesellschaften, im Trust und so weiter). Das ist die erste Sache. Und zweitens: die „sozialistischen“ Arbeiterpartei haben durch ¾ in eine ähnliche Bürokratie „eingewachsen“. Die Spaltung zwischen den Sozialpatrioten und den Internationalisten, zwischen den Reformisten und den Revolutionären hat folglich eine viel tiefer gehende Bedeutung: Die Reformisten und die Sozialpatrioten den bürokratischen Staatsapparat „vervollkommnen“, während die Revolutionären ihn „zerschlagen“ müssen, diesen „bürokratisch-militärischen Staatsapparat“, ihn zerschlagen und durch die „Kommune“ ersetzen, einen neuen „Halbstaat“.

Man könnte wahrscheinlich das Ganze kurz und drastisch so ausdrücken; Ersetzung des alten (“fertigen“) Staatsapparat und Parlamente durch Sowjets von Arbeiterdeputierten und ihre Verwalter. Darin liegt das Wesen!! [71]

Eine Partei, die sich darauf zielt, den Staat zu zerschlagen, kann nicht in der gleichen Weise organisiert werden, wie eine Partei, die vorhat, ihn zu übernehmen. Ihr Mittelpunkt muß nicht im Parlament liegen, sondern in Betrieben, aus denen der neue Staat entstehen wird. Die Basis der Partei kann nicht einfach passive Wähler oder auch Propagandisten sein. Sie selbst müssen Führer ihrer Mitarbeiter [Kollegen], Aufbauer ihres eigenen neuen Staatsapparats sein. Außerdem schloß die These, daß der bürgerliche Staat zerschlagen werden müßte, endgültig die Option [Möglichkeit] einer friedlichen oder konstitutionellen [verfassungsmäßigen] Revolution, auch für die „Freiesten“ von demokratischen Republiken. [72] Die proletarische Revolution würde definitionsgemäß einen Massenkampf um die Macht beinhalten und deshalb müßte jede revolutionäre Partei so organisiert werden, daß sie einen solchen Kampf führen könnte. Das hieß die Schaffung von parallelen legalen und illegalen Apparaten, die Organisation von Kampfabteilungen, die Schaffung von Parteigruppen innerhalb der Streitkräfte usw.

Letztens änderte Lenins Theorie des Staates radikal die aktuellen Vorstellungen des Verhältnisses zwischen der Partei und dem Arbeiterstaat während und nach der Machteroberung. Wenn die Revolution die Übernahme des bestehenden Staats bedeutet, dann wird der Klasseninhalt des Staates durch die Partei definiert, die die Kontrolle darüber ausübt. Die Partei und der Staat müssen sich zusammenschmelzen. In diesem Sinne war für die Sozialdemokratie die Partei das Embryo des neuen Staats. Lenins Theorie der Ersetzung des bestehenden Staats durch Sowjets [Arbeiterräte] legte eine klare Unterscheidung zwischen dem Arbeiterstaat und der revolutionären Partei fest. Der Klasseninhalt des neuen Staates wird durch die Tatsache definiert, daß er die Schaffung der Arbeiterklasse als Ganzes ist und die gesamte Klasse in ihren Funktionen einbezieht. „Im Sozialismus wird ... wird sich die Masse der Bevölkerung zur selbständigen Teilnahme nicht nur an Abstimmungen und Wahlen, sondern auch an der laufenden Verwaltungsarbeit erheben.“ [73] Die Rolle der Partei besteht nicht darin, der Arbeiterstaat zu sein, sondern die fortgeschrittene Minderheit zu sein, die den Prozeß der Schaffung und der Konsolidierung des neuen Staates leitet und führt. Wie Chris Harman es ausgedrückt hat: „Der Sowjetstaat ist die höchste konkrete Verkörperung der Selbstaktivität der gesamten Arbeiterklasse; die Partei ist der Teil der Klasse, der sich der welthistorischen Bedeutung seiner Selbstaktivität am bewußtesten ist.“ [74] Gerade weil die Partei und der Staat nicht identisch sind, kann mehr als eine Partei um Einfluß und Regierungsamt innerhalb des Rahmens der Einrichtungen der Staatsmacht des Arbeiterrats konkurrieren.

Daher war Lenins Theorie des Staats eine unentbehrliche Ergänzung seiner Theorie der Partei. Gerade diese versicherte, daß die Beschränkung der Partei auf die fortgeschrittene Minderheit des Proletariats, darauf schließen ließ, daß die Partei sich für die Partei als Ganzes ersetzen kann bzw. versuchen kann, die Macht als Minderheit zu ergreifen. Gerade die Theorie des Staats brachte die leninistische Theorie der Partei in Einklang mit dem grundsätzlichen Prinzip des Marxismus, „daß die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muß“. [75]

Als Ergebnis dieser wenigen Jahre der intensiven theoretischen Arbeit waren die theoretischen Grundlagen der Zweiten Internationale völlig widerlegt und Lenins neue Theorie der Partei war jetzt im vollen Ausmaß gestaltet (was nicht heißt, daß weitere Zusätze oder Entwicklungen ausgeschlossen wurden). Die neue Theorie stellte nicht einen isolierten Durchbruch dar. sondern die krönenden praktischen Schlußfolgerungen einer allumfassenden Erneuerung der marxistischen Weltanschauung. Noch kam sie ein Moment zu früh. Jetzt stand sie vor der entscheidenden Probe der Praxis mit dem Ausbruch der Russischen Revolution in Februar 1917. Die Frage , die wir jetzt stellen müssen ist: Wie weit war sie dieser Probe gewachsen?

 

 

 

Anmerkungen

1. s. Lenin, Werke, Bd.17, Moskau 1962, S.59.

2. ebenda, Bd.19, S.291.

3. ebenda, Bd.19, S.288.

4. Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven, ohne Ortsangabe ohne Datum, S.87.

5. Die schlimmsten Täter in dieser Hinsicht sind selbstverständlich offizielle sowjetische Historiker und Theoretiker, für die Lenin zum unfehlbaren Papst geworden ist, aber es gibt auch eine Tendenz in diese Richtung auch in Werken wie denen von Lukacs.

6. Trotsky, Hands off Rosa Luxemburg, in Mary Alice Waters (Hrsg.), Rosa Luxemburg Speaks, New York 1970, S.444.

7. Lenins Argumente sind in der Broschüre Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, in Lenin, Werke, Bd.9, zusammengefaßt.

8. Beschluß der 1905er kaukasischen Konferenz der Menschewiki, zit. ebenda, S.82.

9. Für Lenins Verurteilung davon und seinen Vergleich zwischen Plechanows Haltung zu 1905 und Marx’ zur Pariser Kommune s. Lenin, Werke, Bd.12, S.99-104.

10. Lenin, Werke, Bd.16, S.387.

11. Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, in Lenin, Werke, Bd.9, S.3-4.

12. Lenin, Werke, Bd.10, S.16.

13. Lenin, Zwei Taktiken ..., S.128.

14. Lenin, Werke, Bd.13, S.100.

15. Lenin, Two Tactics ..., S.155.

16. Lenin, Zwei Taktiken ..., S.4.

17. N. Krupskaja, Erinnerungen an Lenin, Berlin 1960, S.142-3.

18. Trotsky, Stalin, London 1968, S.64-5.

19. Lenin, Werke, Bd.10, S.3.

20. ebenda, S.4.

21. ebenda, S.7.

22. ebenda, Bd.8, S.209-10.

23. ebenda, Bd.10, S.20.

24. ebenda, S.15-6.

25. ebenda, Bd.15, S.355.

26. Lenin faßte die Erfahrung der Bolschewistischen Partei zusammen, mit besonderer Betonung auf die Periode der Reaktion, als Basis für seine Argumente gegen den Linksradikalismus in seiner Broschüre Der „linke Radikalismus“ die Kinderkrankheit im Kommunismus.

27. Lenin, Der „linke Radikalismus“ die Kinderkrankheit im Kommunismus, in Lenin, Ausgewählte Werke, Moskau 1982, S.570

28. ebenda, S.571.

29. s. Trotsky, Our Differences, in 1905, New York 1971, S.299-318.

30. Wegen der Zensur mußte man äsopische Sprache benutzen. So nannte man das bolschewistische Programm „die unbeschnittenen Forderungen von 1905“.

31. s. Tony Cliff, Lenin’s Pravda, International Socialism 67, London 1974, S.12.

32. s. Lenin, Werke, Bd.20, S.367.

33. ebenda.

34. D. Lane, The Roots of Russian Communism, Assen 1969, S.26.

35. ebenda, S.50.

36. Lenin, Werke, Bd.20, S.370.

37. O. Piatnitsky, The Bolshevisation of the Communist Parties by Eradicating Social-Democratic Traditions, Veröffentlichung der Kommunistischen Internationale 1934, gedruckt von London Alliance in Defence of Workers’ Rights, London ohne Datum, S.5.

38. ebenda, S.6.

39. Zahlen gerechnet nach D. Lane, a.a.O., S.37.

40. Trotzki, Die verratene Revolution, in L. Trotzki, Schriften Bd.1:2, Sowjetgesellschaft und Stalinistische Diktatur 1936-1940, Hamburg 1988, S.851.

41. D. Lane, a.a.O., S.37.

42. Leonard Schapiro bemerkt: „Man wird sich daran erinnern, daß im russischen Zusammenhang die Phrase aus der deutschen sozialdemokratischen Bewegung stammte und zum ersten Mal 1865 von J.B. Schweitzer, einem der Hauptanhänger Lassalles, verwendet wurde.“ (Leonard Schapiro, The Communist Party of the Soviet Union, London 1970, S.75 Anm.

43. Lenin, Werke, Bd.11, S.314.

44. ebenda, S.314-5.

45. O. Piatnitsky, a.a.O., S.13.

46. Trotsky, Stalin, S.168.

47. Lenin, Werke, Bd.21, S.2.

48. ebenda.

49. ebenda, S.2-3.

50. ebenda, S.3.

51. ebenda, S.18.

52. ebenda, S.21.

53. ebenda, S.82.

54. ebenda, S.151.

55. ebenda, S.99-100.

56. Kautsky, WO?

57. Kautsky, zit. in Lenin, Marxism on the State, Moskau 1972, S.78.

58. ebenda.

59. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in Lenin, Werke, Bd.14.

60. Lenin, Philosophischen Hefte, in Lenin, Werke, Bd.38.

61. Dieses Thema wird ausführlicher in bezug auf Gramsci in Kapitel 6 diskutiert.

62. s. Engels an Marx, 7. Oktober 1858, MEW, Bd.29, S.358, und Engels an Karl Kautsky, 12. September 1882, MEW, Bd.35, S.357.

63. Lenin, Werke, Bd.23, S.112.

64. ebenda, S.113.

65. ebenda, S.114.

66. ebenda.

67. Weil Lenin das Buch Staat und Revolution in August-September 1917 schrieb, wird es häufig angenommen, daß die Inspiration für diesen theoretischen Fortschritt aus der Erfahrung der Russischen Revolution kam. Tatsächlich wies Lenin auf den Bedarf einer theoretischen Untersuchung des Staats als Reaktion auf einem Artikel von Bucharin (s. Lenin, Werke, Bd.23, S.165-6) und bis Februar hatte alle Vorbereitungen dafür vollzogen. Seine Notizbücher sind veröffentlicht worden als Lenin, Marxism on the State: Preparatory Materials for the Book: State and Revolution, Moskau 1972. (Aus irgendwelchem Grund sind sie nicht in der englischen Ausgabe der Collected Works (Werke ?) veröffentlicht worden.) Eine Überprüfung dieses Materials zeigt, daß es alle wesentlichen Ideen des Buchs Staat und Revolution enthält.

68. Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, Berlin 1909, S.79, zit. in Chris Harman, Partei und Klasse, Frankfurt/M. 1989, S.10

69. Karl Kautsky, Das Erfurter Programm, Stuttgart 1908, S.225, zit. ebenda, S.11.

70. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in MEW, Bd.17, Berlin 1962, S.336.

71. Lenin, Marxism on the State, S.50-1.

72. Das zu sagen, heißt überhaupt nicht, daß die Revolution notwendigerweise eine große Menge Blutvergießen bedeuten wird. Das wird vom Kräfteverhältnis und der Reaktion der herrschende Klasse abhängen. Aber sie bedeutet notwendigerweise die Anwendung von „illegaler“ und „verfassungswidriger“ physische Gewalt, genau deswegen, weil die Revolution die alte Legalität, die alte Verfassung und die entsprechenden Machtstrukturen stürzt.

73. Lenin, Staat und Revolution, in Lenin, Ausgewählte Werke, Moskau 1982, S.379.

74. Chris Harman, Partei und Klasse, Frankfurt/Main 1989, S.23.

75. Selbstverständlich entsprach die Wirklichkeit nach der Revolution in Rußland (wir werden diese Frage in bezug auf die tatsächliche Machtergreifung in Oktober wieder diskutieren) diesem Schema überhaupt nicht. Am Anfang langsam, aber dann mit zunehmender Geschwindigkeit) fingen Partei und Staat, sich zusammenzuschmelzen, bis bald sie im Grunde identisch waren. Aber das war nicht eine allmähliche Übertragung der Theorie in die Praxis. vielmehr war es ein Aspekt des Verfalls der Revolution als Ganzes, die durch die Kombination der Isolation Rußlands, seiner Rückständigkeit, der Verwüstung seiner Wirtschaft und der Dezimierung sowie Demoralisierung der russischen Arbeiterklasse erzeugt wurde.

 


Zuletzt aktualisiert am 6.2.2002