Duncan Blackie u.a.

 

Der Zerfall Jugoslawiens
und
der Krieg auf dem Balkan

(Teil 1)

 

[Vorbemerkung]

Die Grundlage für diese Broschüre bildet eine Übersetzung aus dem Englischen. Der Titel des Aufsatzes The road to hell, der von Duncan Blackie im Herbst 1991 verfaßt worden ist, wurde um ein neues Kapitel am Ende von uns ergänzt, das die neuesten Entwicklungen in der Krisenregion auf dem Balkan diskutiert.

Der Aufsatz von Duncan Blackie ist zuerst in einer Zeitschrift erschienen, das viermal im Jahr von unserer englischen Schwesterorganisation Socialist Workers Party herausgegeben wird und den Titel International Socialism trägt. [1*]

Karte von Jugoslawien

 

 

Einleitung

Nur wenige Jahre vor dem Eintritt in das 21. Jahrhundert ertönen in Europa wieder die Schlachtrufe des 19. Jahrhunderts. Der Zerfall Jugoslawiens und der Beginn des Bürgerkriegs dort hat all jene in Verwirrung gestürzt, die bis dahin Jugoslawien als „Selbstverwaltungssozialismus“ oder „Dritten Weg“ zwischen Stalinismus und westlichem Kapitalismus oder auch nur als „Wunder“ eines „marktwirtschaftlich“ orientierten Sozialismus gepriesen hatten.

Mitte 1992 hat sich der Krieg auf immer weitere Regionen ausgeweitet; die Wirtschaft befindet sich im freien Fall.

Das Ausmaß dieser Krise laßt sich in wenigen Worten fassen. Die Zahl der Toten geht inzwischen in die Zehntausende. Hunderttausende haben Haus, Heimat und Arbeit verloren. Fluchtlingsströme fließen in verschiedene Richtungen, Bosnier und Kroaten fliehen aus den von Serben beherrschten Gebieten, Serben aus den von Kroaten kontrollierten Regionen. Menschen verschiedener Nationalitäten, die jahrzehntelang friedlich miteinander gelebt haben, schießen aufeinander und töten und verjagen sich gegenseitig.

Die Krise breitet sich auf immer neue Regionen aus, und sie macht auch nicht an den Grenzen des ehemaligen Jugoslawiens halt. Die Druckwelle der Krise geht weit über Jugoslawien hinaus und dehnt sieh über den halben Kontinent aus.

Die Mächtigen der Welt sahen die Gefahr kommen und sie versuchten, diese mit ungeeigneten Mitteln aufzuhalten. Leute um Georg Bush beschrieben die miteinander konkurrierenden Führer Jugoslawiens als „Schlagertypen“ und „Strolche“, die sich einer „Neuen Weltordnung“ in den Wege stellten. [1] John Major erklärte noch im Mai 1991, daß es „die erste Aufgabe sei, die Föderation zusammenzuhalten“ [2], aber schon wenige Monate später erklärte sein Außenminister Douglas Hurd resigniert, daß „der Zeitpunkt kommen wird, an dem die Menschen die Schnauze voll davon haben, sich gegenseitig zu töten.“ [3]

Unsere Herrscher sind darüber besorgt, daß Jugoslawien, das so lange eine Ausnahme war, eine Art Testfall des „Reformkommunismus“, nun zu einer anderen Sorte von Vorbild wird: zum Funken, der all ihre Hoffnungen in Osteuropa in Flammen aufgehen läßt.

Das Land ist der lebendige Beweis dafür, daß die Marktwirtschaft die Schrecken der Dritten Welt in ein industrialisiertes Land tragen kann. Es ist auch ein Beweis dafür, daß die Dominanz einer anhaltenden Wirtschaftskrise nationale

Gegensätze schüren und wieder erwecken kann, die die Großmächte nach dem Zweiten Weltkrieg und der Neuaufteilung der Welt einzudämmen gehofft hatten. Auf der anderen Seite sehen sie mit Schrecken die Aussicht auf einen Krieg von anderer Größenordnung als in Irland auf sich zukommen. Kleinere Mächte der Region könnten in den Krieg hineingezogen werden. Wie lange werden Rumänien und Albanien sich noch raushalten? Wie lange wird es noch dauern, bis Serbien, Bulgarien und Griechenland in einen Kampf um Mazedonien verwickelt sein werden?

Aus diesem Blickwinkel erscheint der Krieg einfach. Es handelt sich um eine Katastrophe erster Ordnung – unzählige ethnische Gruppen und Staaten kämpfen miteinander. Vielen Kritikern scheint der Hinweis auszureichen, es handele sich ja schließlich um den Balkan. Drei regionale Kriege und der Erste Weltkrieg haben hier begonnen. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte hier über ein Jahrzehnt Bürgerkrieg. Hier ist der Boden getränkt mit einer Geschichte von Konflikten, wo Politiker in der Vergangenheit naiv genug waren zu erwarten, daß Menschen verschiedener religiöser, ethnischer und nationaler Abstammung miteinander in Frieden leben könnten.

Hinter dieser Ausrede liegt eine grimmige Wahrheit. Jugoslawien hat seit langem die Marktwirtschaft eingeführt, mit Methoden, die nun die osteuropäischen Wirtschaften wiederbeleben sollen, wurde in Jugoslawien seit über 20 Jahren herumexperimentiert.

 

 

Jugoslawien von 1945 bis zum Krieg

Jede Diskussion der gegenwärtigen Krise muß mit einer Analyse des Systems beginnen, das jetzt zusammengebrochen ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im modernen Jugoslawien eine Gesellschaft errichtet, die seinerzeit Beifall sowohl auf der Linken wie auf der Rechten gefunden hatte. Selbst einige von denen, die den Niedergang miterlebt haben, schauen mit Trauer auf ein goldenes Zeitalter zurück. Branka Magas zum Beispiel, ein Sozialist, der früher das föderalistische System Jugoslawiens verteidigte, aber heute für die Verteidigung Kroatiens eintritt, schrieb, daß „die Legitimität des Nachkriegsstaats ... auf nationaler Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Arbeiterklasse beruhte.“ [4]

Jugoslawien war weder Mitglied des Warschauer Pakts noch der NATO. Die Befreiung von der italienischen und deutschen Besatzung geschah aus eigener Kraft und erfolgte in einem Bürgerkrieg, der an Härte und Bitterkeit in keinem anderen Land Osteuropas übertroffen wurde. Die Rote Armee der UdSSR spielte eine nebensächliche Rolle; sie erreichte Belgrad erst zum siegreichen Finale. Dies gab den jugoslawischen Kommunisten eine einzigartige Gelegenheit zur Unabhängigkeit.

Damit soll nicht gesagt werden, daß sie diesen Gegensatz zum übrigen Osteuropa geplant hatten. Tito war dem Stalinismus nicht weniger treu ergeben als die anderen osteuropäischen Kommunistenführer. Titos damalige Günstlinge, Djilas und Kardelij, waren die Speerspitzen der damaligen Kampagne Moskaus gegen die westlichen Kommunistischen Parteien für deren „Abweichungen“ und Zugeständnisse, die diese in den Jahren zuvor auf Befehl Stalins gemacht hatten.

Tito und seine Partei machten sich sofort daran, in Jugoslawien die UdSSR zu kopieren. Sie schufen eine neue Bürokratie und ehrgeizige, zentralisierte Wirtschaftspläne. Der Konflikt mit Stalin 1948 war keineswegs vorhergeplant, und es gab keine ideologischen Gründe. Er hatte seine Ursachen einerseits in den Forderungen der russischen herrschenden Klasse nach bedingungsloser Unterordnung unter Moskau und auf der anderen Seite im Selbstvertrauen der neuen jugoslawischen Herrscher, sich diesen zu verweigern.

Nach der Spaltung zwischen Tito und Stalin kam es zu einer Säuberungswelle in den westlichen kommunistischen Parteien. Betroffen waren all jene Mitglieder, die im jugoslawischen Weg ein neues Modell der nationalen Entwicklung ohne Stalin sahen. Die führende Zeitschrift der Kominform, Stalins Koordinierungsinstrument für die Kommunistischen Parteien, gab den Ton an: „Die bürgerliche, nationalistische Tito-Clique in Jugoslawien ist, nachdem sie einmal den antisowjetischen, antimarxistischen Weg eingeschlagen hat, zum logischen Ende ihres Antikommunismus gelangt – dem Faschismus.“

Viele Linke sahen angesichts solcher Anfeindungen in Tito eine Alternative zum Stalinismus.

Die trotzkistische Zeitschrift Vierte Internationale schrieb: „Die Russische Revolution war das Sprungbrett, von dem aus die Dritte Internationale ihren historischen Höhenflug begann. Die jugoslawische Revolution kann zum Sprungbrett werden, von dem aus die Vierte Internationale die Eroberung der Massen beginnen wird.“ [5]

Aber Titos Jugoslawien gab Sozialisten keinen Grund zum Jubel. Die Befreiung war von einer Bauernarmee erkämpft worden, nicht von Arbeitern. Ganz im Gegenteil: Während des Kriegs hatte Tito wiederholt die bulgarischen Kommunisten für ihre Beteiligung an Streiks kritisiert. [6] Die Verstaatlichungen, die es nach dem Krieg gab, waren Tito mehr oder weniger von den abziehenden Nazis hinterlassen worden. Die von den Nazis und anderen Besatzungsmächten konfiszierten Vermögen machten den Staat zum Eigentümer von rund achtzig Prozent der Industrie. [7] Die nachfolgende Entwicklung der jugoslawischen Wirtschaft, die im Vergleich zu den osteuropäischen Staaten nach einem etwas anderen Muster erfolgte, war eine Folge ökonomischer Zwänge.

Der Bruch mit der UdSSR kostete einen furchtbaren ökonomischen Preis. 1947 wurden 48,3 Prozent des Außenhandels mit der UdSSR, CSSR und Ungarn abgewickelt. Die Blockade Jugoslawiens durch Stalin senkte diesen Anteil auf Null. Die jährliche Wachstumsrate zwischen 1947 und 1951 betrug magere 1 Prozent. Der Versuch, die Industrie zu erweitern, um den „Sozialismus in einem kleinen Land“ aufzubauen, traf auf zwei Hindernisse. Das industrielle Startkapital war extrem schwach – unmittelbar nach Kriegsende gab es lediglich 500.000 Industriearbeiter – und die Blockade verschlimmerte die Lage noch. Zweitens mußte sich Tito mit der Stärke der Bauern abfinden, die das Rückgrat in der siegreichen Partisanenarmee gebildet hatten.

Eine Kampagne zur Kollektivierung der Landwirtschaft wurde begonnen, und ihre Ziele waren nicht minder ehrgeizig als die Stalins Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre. Sie geriet rasch in Schwierigkeiten. 1950 waren erst 17 Prozent des kultivierbaren Landes im Besitz von Kollektiven, aber der Widerstand der Bauern war bereits massiv, gerade in jenen Gegenden in den Grenzgebieten zwischen Bosnien, Serbien und Kroatien, wo die Partisanen während des Bürgerkriegs am erfolgreichsten gewesen waren. [8] 1952 betrug die Produktion gerade noch die Hälfte der Vorkriegswirtschaft. Titos neue herrschende Klasse sah sich zum Rückzug gezwungen. 75 Prozent alter Kollektive waren Ende 1953 wieder aufgelöst.

Vor diesem Hintergrund der Krise wird erst verständlich, wie es zum Experiment der „Selbstverwaltungswirtschaft“ kam, das von vielen als die wahre Triebkraft des jugoslawischen Wunders betrachtet wurde. Das Ziel war es, die Verantwortung für das Chaos auf die Schultern örtlicher Manager und möglichst auch der Arbeiter selbst zu laden. Seine Anziehungskraft übte der Begriff dadurch aus, daß er am wirklichen Sozialismus anzuknüpfen schien. Aber das war, wie wir noch zeigen werden, eine reine Illusion.

Die Selbstverwaltung schuf kein „Wunder“, und die „Selbstverwalter“ (die Arbeiterklasse) verwalteten nicht. Die Klassenunterschiede blieben bestehen, die Bürokraten hatten ein Einkommen, daß bis zu 40 Mal höher war als das der Arbeiter. Eine Untersuchung kam zum Ergebnis, daß 66 Prozent alter „Führungskader“, d.h. Direktoren und Parteifunktionäre, ein Auto der „mittleren“ oder „gehobenen“ Klasse fuhren. Gleichzeitig besaßen 91 Prozent der ungelernten Arbeiter überhaupt kein Auto. Achtzig Prozent der „Führungskader“ verbrachten ihren Urlaub in Bade- und Kurorten, während 73 Prozent der ungelernten Arbeiter gezwungen waren, zu Hause zu bleiben. [9] Bei einer Untersuchung antwortete auf die Frage, ob es im „selbstverwalteten“ Jugoslawien „nur eine Klasse gibt“, nur ein Prozent der Facharbeiter zustimmend. [10]

Jeder Glaube, daß die „Selbstverwaltung“ das bewußte Einschlagen eines „Dritten Weg“ bedeutete, wird durch den Ursprung dieser Idee widerlegt. Milovan Djilas, der damals einer der treuesten Mitarbeiter Titos war, berichtet über ihren Ursprung:

Tito ... wußte nichts davon, daß ein Gesetzentwurf über die Bildung von Arbeiterräten im Parlament eingebracht werden sollte, bis Kardelij und ich ihn darüber, während einer Parlamentssitzung im Foyer der Nationalversammlung, informierten. Seine erste Reaktion war: unsere Arbeiter sind dafür noch nicht reif! Überzeugt davon, daß dies ein wichtiger Schritt wäre, übten Kardelij und ich starken Druck auf ihn aus, und er begann nachzugeben, je länger er unseren Erklärungen zuhörte ... Tito lief hin und her, als wäre er ganz in seine eigenen Gedanken versunken. Plötzlich blieb er stehen und rief aus: „Fabriken, die den Arbeitern gehören – so etwas hat es noch nie gegeben!“ [11]

Das Ziel von Sozialisten ist es, daß die Fabriken den Arbeitern gehören. Aber die Arbeiter müssen sie sich selbst aneignen und haben sicher kein Interesse daran, eine Gesellschaft, wie sie in Jugoslawien unter Tito existierte, aufzubauen. Die jedes Jahr gewählten Vorstände erhielten die formelle Kontrolle über die alltägliche Geschäftsführung. 1951 wurde ihnen die Mitbestimmung über den Außenhandel gewährt.

In Wirklichkeit fällte die herrschende bürokratische Klasse alle wichtigen gesellschaftlichen Entscheidungen, genau wie in Osteuropa. Und ganz ähnlich umgab sich der Kern der Klasse mit einer privilegierten Bürokratie, die sämtliche Führungspositionen in Staat und Partei besetzte. 1978 gehörten 95,3 Prozent der Mitglieder der Parlamente (politische Kammern) der Schicht von Parteifunktionären, Berufsparlamentariern, Staatsfunktionären und Managern an; 2,4 Prozent wurden als Arbeiter, Bauern und Angestellte eingestuft. [12]

Ähnlich wie auf der Regierungsebene sah es auch in den Betrieben aus. Auf einem Kongreß der Selbstverwaltung in Sarajevo im Jahr 1971 waren von 1.200 Delegierten nur 80 Arbeiter. [13] Einige neuere Studien haben gezeigt, wie die Macht in den Fabriken, der Partei und in der Regierung von der herrschenden Klasse ausgeübt wurde, indem sie sich – im wesentlichen genau wie im Osten und im Westen – mit einer Hierarchie von Unteroffizieren und Stäben umgaben. Zum Beispiel wurde auf dem Serbischen Parteitag 1965 bekannt, daß im Bezirk Kragujeva 53 Prozent aller betrieblichen Selbstverwaltungsorgane aus Kommunisten bestanden. [14] Eine andere Untersuchung fand heraus, daß die Selbstverwaltung gegen Ende der sechziger Jahre dazu geführt hatte, daß „sich eine kleine, oligarchische Gruppe herausgebildet hatte, die sich aus Managern, Verwaltungsspitzen und politischen Funktionären zusammensetzte, ... die über die Selbstverwaltungskörper eine völlige Kontrolle ausübten.“ [15] Eine weitere Studie zeigte die „Bedeutung informeller Gruppen für die betrieblichen Machtstrukturen“ auf, „die in der Lage wären, Arbeiter zu maßregeln, die gegen sie opponierten“. [16]

Obwohl die Arbeiter nach den Statuten ihre eigenen Direktoren wählen konnten, behielt in der Realität die zentral gesteuerte Partei einen großen Teil der Kontrolle über deren Einsetzung:

Es gibt keinen Zweifel, daß letztere (die Regierung) eine entscheidende Rolle spielen konnte. Bis Mitte der 60er Jahre war das Unternehmen zum gewissen Grad organisatorisch und finanziell von der Kommune (örtlichen Behörden) abhängig, die selbst nach den Wirtschaftsreformen von 1965 eine begrenzte Verantwortung für die Ernennung von Direktoren durch einen Gesellschafterrat besaß. Wie Jerovske in seiner Untersuchung über die slowenischen Kommunen nachwies, schaltete sich die Regierung der Republik bei der Besetzung von Führungspositionen in den Großbetrieben ein. [17]

Ähnlich die Rolle der Gewerkschaften: Sie besaßen in Jugoslawien als unabhängige Arbeiterorganisationen nicht mehr Eigenständigkeit als in den übrigen stalinistischen Ländern. Einer der Führer des Gewerkschaftsverbandes war General Tempo, ein enger Vertrauter Titos, der später zum Oppositionellen wurde. Er wurde in diese Position vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei nach einem zweitägigen Streik im Bergwerk von Trbovjle im Januar 1958 eingesetzt. Tito erklärte ihm, daß unter den „Bedingungen der Selbstverwaltung“ Arbeit für das Zentralkomitee und die Gewerkschaften auf dasselbe hinauslief. [18]

Aber selbst Tempo verlor als Gewerkschaftsführer zu einem späteren Zeitpunkt das Vertrauen der Parteiführung. Im April 1967 wurde er seines Amtes enthoben. Die damals an Einfluß gewinnenden Reformer verdächtigten ihn, den Gewerkschaften eine zu große Unabhängigkeit zu gewahren. Nase Teme schrieb 1968, daß Tempos „Bestrebungen, die Gewerkschaften der Arbeiterklasse näher zu bringen, nicht nur auf Kritik traf, sondern auf eine regelrechte Kampagne in der Presse, in öffentlichen Äußerungen und in den politischen Körperschaften.“ [19]

Die „Selbstverwaltung“ hatte die sozialen Spannungen in den Betrieben nicht gemindert, und es gibt eine lange Geschichte von Kämpfen als Beweis hierfür. Eine Untersuchung über Arbeitsniederlegungen in den Jahren 1964-66 zeigte, daß von 231 Konflikten im Jahr 1965 165 wegen „unkorrekter Verteilung der persönlichen Einkommen“ stattgefunden hatten:

Ein Sprecher der Fabrik erklärte, daß ein Hauptproblem darin bestünde, daß die Arbeitslöhne direkt vom Ergebnis ihrer Arbeit und dem Erfolg des Betriebs abhingen, während die Einkommen der Verwaltungsstäbe festgelegt waren und in keiner Beziehung zur Leistung des Unternehmens standen. Der zweite Grund für Streiks waren schlechte Information der Arbeiter und Willkür vom Führungspersonal im Betrieb. Eine Ursache für die vergleichsweise große Zahl von Arbeitsniederlegungen war, daß die Arbeiter, die einmal zum Mittel des Streiks gegriffen hatten und damit Erfolg hatten, immer wieder darauf zurückgriffen. Eine Untersuchung der Parteileitung über einen Streik von 500 Arbeitern im Jahr 1969 im Automobilwerk von Rankovica zeigte, daß es bereits die zwölfte Arbeitsniederlegung im Unternehmen gewesen war ... Es gab auch eine Tendenz dahin, daß die Streiks sich nicht gegen das betriebliche Management sondern gegen die politischen Behörden richteten, und daß Arbeiter ihren Beschwerden durch Straßendemonstrationen Nachdruck verliehen. [20]

Das Wirtschaftssystem, das in Jugoslawien nach dem Krieg entstand, war staatskapitalistisch – eine bürokratisch gelenkte Wirtschaft, die von einer herrschenden Klasse mit großer Machtausstattung und mit Privilegien geführt wurde, die denen im übrigen Osteuropa gleichkamen. Die Selbstverwaltungsbürokratie wurde in den siebziger Jahren auf über 100.000 Menschen geschätzt. Ein Beobachter berichtete, daß die „Selbstverwaltung ein politischer Mythos ist, daß sämtliche wichtigen Entscheidungen immer noch in geschlossenen Parteiveranstaltungen gefällt werden“. [21] Aber Titos Staat legte nicht nur die Wurzeln für eine staatskapitalistische Entwicklung, sondern brachte auch eine Vielzahl von Völkern zusammen, die nahezu alle in der herrschenden Klasse vertreten waren.

 

 

Die nationale Frage

Wenn von der nationalen Frage im Zusammenhang mit Jugoslawien die Rede ist, kann man sicher sein, daß die große Vielzahl der verschiedenen Volksgruppen als das zentrale Problem genannt wird: zwei Schriftarten, sechs Republiken, 22 Nationalitäten usw. Aber der mörderische Charakter des Nationalismus heute ist nicht das Resultat solcher kultureller Verschiedenartigkeit, sondern hat unmittelbar politische und wirtschaftliche Quellen, die die nationalen Konflikte nähren. Die Hauptbruchlinien sind einfach zu verfolgen.

Serben und Kroaten stammen von den slawischen Stämmen ab, die sich im 7. Jahrhundert in Nordjugoslawien angesiedelt hatten. Bis 1914 lebten die Kroaten über 800 Jahre unter österreichischer Vorherrschaft und bis ins 19. Jahrhundert lebten die meisten Serben unter türkischer Herrschaft. [22] Die Art der Fremdherrschaft hinterließ unauslöschliche Spuren in der Region. Die Schwäche der Imperien zementierte eine wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit des Balkans, die später durch französische, britische und russische Intervention verlängert wurde. Die imperiale Schwäche prägte ebenso die Besonderheit der Entwicklung des Nationalismus. Während in Westeuropa die wirtschaftliche Entwicklung zur Vereinigung von Territorien zwang, führte die gebremste wirtschaftliche Entwicklung des Balkans und die Garantie beschränkter Autonomie für verschiedene Regionen durch das österreichische wie auch das türkische Imperium dazu, daß der Nationalismus hier zur regionalen Zersplitterung und Teilung beitrug. [23]

Völker wie die Serben und Kroaten, die eine sehr ähnlich geschichtliche Abstammung haben, bewahrten so ihre abgegrenzte Identität. Trotzdem lebten Serben, die aus dem türkischen Reich nach Norden flohen, über die längste Zeit ohne Streitigkeiten mit der dortigen Bevölkerung. Im gleichen Maß, wie das türkische Reich schwächer wurde, verlor es die Kontrolle über Serbien, und Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Serbien unter einer ländlichen Dynastie faktisch selbständig, um dann im Jahr 1878 auch offiziell die Unabhängigkeit zu erlangen. Zur gleichen Zeit eroberte Österreich-Ungarn Bosnien. Aber das Schicksal Serbiens blieb trotzdem weitgehend fremdbestimmt. Die Briten und die Russen sahen in Serbien eine nützliche Waffe sowohl gegen das Osmanische Reich als auch gegen Österreich-Ungarn.

Ms das Osmanische Reich zerfiel kam es daher zu drei Kriegen, wovon der erste zur staatlichen Unabhängigkeit Serbiens führte und die beiden nachfolgenden bewaffnete Beutezuge um Landnahme waren. Mittelgroße Länder gerieten in den Widerspruch, daß sie einerseits um die Befreiung von den Großmächten kämpften, sich andererseits gegenseitig und den kleinsten Nationalitäten des Balkans Land abjagten.

Die Entwicklung des Balkans prägte auch die übrigen Nationalitäten. Die Slowenen lebten ähnlich wie die Kroaten unter der Habsburger Monarchie, die ihnen ebenfalls einen hohen Grad an Autonomie zugestand. Die slowenische Sprache unterscheidet sich vorn Serbo-Kroatischen und die geographische Lage des Landes, weit hinter der Frontlinie des Osmanischen und Habsburgischen Reichs, führten dazu, daß Slowenien ein ziemlich geschlossenes Sprach- und Siedlungsgebiet blieb. [24] Der vielleicht größte Unterschied besteht zur albanisch sprechenden Bevölkerung. Diese haben keine slawische Abstammung und besitzen eine sehr verschiedene Geschichte und Kultur. Die meisten Albaner sind Moslems, viele sind jedoch auch katholisch. Sie kämpften gegen die Osmanen und standen mit den Serben Schulter an Schulter im Kampf auf dem Amselfeld (Kosovo). Aber die Geschichte und Stellung der albanisch sprechenden Bevölkerung führte – wie wir noch zeigen werden – zu ihrer besonderen Benachteiligung, sowohl vor wie nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Mazedonier im äußersten Süden Jugoslawiens besitzen ebenfalls eine eigene Sprache und Kultur. Eingekeilt zwischen Serben, Griechen und Bulgaren wurde ihr Territorium immer wieder umkämpft und von verschiedenen Mächten erobert und neu aufgeteilt. Der Vertrag von San Stefano im Jahr 1878 teilte es Bulgarien zu, wurde aber auf dem Berliner Kongreß im gleichen Jahr wieder abgetrennt. Ein Aufstand der Mazedonier im Jahr 1903 wurde von den Türken niedergeschlagen, und im darauffolgenden Jahr wurde das Land von serbischen Guerillakämpfern überfallen. Heute wird in Griechenland die Existenz einer mazedonischen Nationalität geleugnet, und einer der Glaubenssätze des serbischen Chauvinismus besagt, daß die Mazedonier „Südserben“ seien.

Bosnien-Herzegowina im Zentrum Jugoslawiens ist heute von Serben, Kroaten und Moslems bewohnt. Die Moslems dieser Region werden als eine besondere Nationalität betrachtet. Auch sie sind slawischer Abstammung, sprechen Serbo-Kroatisch, aber viele von ihnen stammen von einem Volk ab, das im 15. Jahrhundert zur christlichen Bogumil-Sekte konvertiert war. Nachdem die Region von den Osmanen erobert worden war, traten sie geschlossen zum Islam über. [25] In Montenegro im Süden Serbiens hatte seit dem 15. Jahrhundert ein eigenständiger Staat bestanden, der sich für osmanische und venezianische Eroberungsfeldzuge als uneinnehmbar erwies. Diese Geschichte verlieh Montenegro seine besondere nationale Identität. Die Montenegriner sprechen die gleiche Sprache wie die Serben, aber ihre Tradition der Unabhängigkeit führte dazu, daß sie sich als besondere Nation betrachten, oder auch als besonderer Teil der serbischen Nation. Als sich gegen Ende der achtziger Jahre die Konflikte zu verschärfen begannen, schürten serbische Nationalisten letztere Tendenz, um die Montenegriner auf die serbische Seite zu ziehen und um sie gegen andere Nationalitäten zu gewinnen.

Die letzte große Volksgruppe ist die der Ungarn, die etwa ein Fünftel der Bevölkerung des Wojwodina-Bezirks in der Serbischen Republik ausmachen. Die Wojwodina war ein Teil des Habsburgischen Reiches und im 19. Jahrhundert rnehrheitlich von Ungarn bewohnt. Aber die Habsburger Monarchie förderte die serbische Einwanderung, um eine Pufferzone gegen die Osmanen zubilden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Wojwodina für kurze Zeit Autonomie gewahrt. In der Nachkriegszeit bildete sie ein autonomes Gebiet innerhalb der serbischen Republik.

Das Konigreich der Serben, Kroaten und Slowenen wurde nach Ende des Ersten Weltkriegs aus dem Nachlaß des Osmanischen und Habsburgischen Reichs herausgeschnitten. Die Westmächte, besonders die Briten, förderten die Schaffung eines Staates, der eine vergrößerte Version des schon existierenden serbischen Königreichs war, das ihren Interessen gut gedient hatte. Der neue Staat wurde jedoch ebenso von kroatischen und slowenischen Großgrundbesitzern unterstützt. Die kroatischen Großgrundbesitzer hatten bis dahin auf die Österreichisch-Ungarische Monarchie zurückgreifen können, um den Widerstand der Bauern zu zähmen. Jetzt waren sie mit einem allgemeinen Aufstand konfrontiert, und sie stützten sich nun auf die einzig verfügbare Macht, die sie in der neuen Lage noch retten könnte – die serbische Armee. Die Oberklasse hatte „für den Einmarsch der serbischen Armee in Kroatien-Slowenien plädiert“. [26] Ähnlich waren die slowenischen Großgrundbesitzer für die Angliederung ihres Territoriums als Ganzes in das neue Königreich, um das Risiko einer Aufteilung des Landes zwischen Osterreich und Italien zu umgehen. [27]

Trotzdem war die Unterdrückung der Kroaten im neuen Staat von vornherein angelegt. Hohe Ämter wurden an Serben vergeben, und die Lateinische Schrift, die von den Kroaten geschrieben wird, war verboten. Banden von serbischen Chauvinisten wie die Tschetniks terrorisierten mit wohlwollender Förderung von oben andere Volksgruppen in gemischten Gebieten wie z.B. in Bosnien-Herzegowina. Die Wirtschaftskrise führte dazu, daß König Alexander 1929 mit einem Staatsstreich eine Militärdiktatur errichtete. Zwei verschiedene und konkurrierende Formen des kroatischen Nationalismus entstanden in dieser Ära. Die eine in Form der Ustascha zog viele Studenten in ihren Bann, die sich vom Faschismus angezogen fühlten. Eine wesentlich breitere Bewegung für größere Autonomie entwickelte sich jedoch in der Bauernschaft. Diese Bewegung fand ihren politischen Ausdruck in der Bauernpartei, die sich 1924-26 der Profintern (Rote Internationale Gewerkschaftsorganisation, Frontorganisation der Kommunistischen Internationalen) angeschlossen hatte. Sie forderte mehr Rechte für die Kroaten, wandte sich aber gleichzeitig gegen die Kollaboration mit ausländischen Mächten, die versuchten, aus den innerjugoslawischen Widersprüchen Kapital zu schlagen.

1941 wurde das Land dann von den Achsenmächten erobert und annektiert. Diese bedienten sich der gleichen Unterdrückungsmechanismen und Spaltungen, deren sich vor dem Krieg die alten Machthaber Jugoslawiens und deren ausländischen Unterstützer (vor allen Großbritannien) so erfolgreich bedient hatten. Deutschland (das seit 1938 auch Osterreich umfaßte), Italien, Ungarn, Albanien und Bulgarien annektierten Landesteile und errichteten Vasallenstaaten in den übrig gebliebenen Gebieten. Kroatien nahm dabei eine bevorzugte Stellung ein. Deutschland und Italien statteten den Staat mit der nötigen Macht aus, aber die allergrößte Schmutzarbeit wurde den Verbänden der Ustascha überlassen. Die Juden wurden massenhaft vernichtet. Neunzig Prozent der Zigeuner des Landes wurden ebenfalls von der Ustascha liquidiert. Auch die serbischen Bevölkerungsteile Kroatiens wurden zunächst massenhaft hingemetzelt, später wurde jenen Serben Gnade angeboten, die zum Katholizismus übertraten. [28]

Unter der Besetzung bildeten sich zwei Widerstandsbewegungen. Die erste, die Tschetniks, bestand vorwiegend aus serbischen Offizieren, die sich der Auslieferung des Landes an Deutschland widersetzten. Sie standen unter Führung des prowestlichen Monarchisten General Mihailowitsch, der an die Tradition der serbischen Vorherrschaft aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen anknüpfen wollte. Die andere, die Partisanen, stand unter Führung der Kommunistischen Partei, die das Land befreien und wiedervereinigen wollte. Die Partisanen gewannen schließlich die Oberhand, und dafür gab es zwei Gründe. Erstens schwankte Mihailowitsch zwischen Widerstand und Anpassung. Wiederholt macht er den Deutschen Angebote der Zusammenarbeit. Zweitens hatten die Partisanen verstanden, daß sich nur diejenigen durchsetzen könnten, denen es gelang, die nationalen Gegensätze zu überwinden. Die Briten begannen unter dem Eindruck der wachsenden Schlagkraft der Partisanen ihre Unterstützung von Mihailowitsch auf Tito zu verlagern. Churchill forderte: „Laßt uns herausfinden, wer mehr Deutsche tötet und geeignete Mittel finden, wie wir ihnen helfen können, noch mehr zu töten.“ [29]

Titos Erfolg beim Aufbau einer Bewegung, die Serben, Kroaten, Slowenen, Mazedonier und andere vereinigte, war beeindruckend. Die Einheit im Widerstand ermöglichte nicht nur die Befreiung des Landes, sondern hatte große Auswirkungen auf den Nachkriegsstaat. Eine davon war die Schaffung einer Mazedonischen Republik. Ohne dieses Zugeständnis wäre es nicht möglich gewesen, die Südfront zu halten. Die zweite war die Schaffung eines Staates, in dem die drei Jahrzehnte währende, systematische Ungleichheit zwischen Serben und Kroaten überwunden wurde. Aus diesem Grunde müssen die Chauvinisten von heute sich die Beispiele für nationale Greuel der jeweils anderen Seite auch aus der Zeit vor 1945 zusammenklauben; weder die Serben noch die Kroaten können behaupten, sie seien seit dem zweiten Weltkrieg als Nationalität unterdrückt worden. Die einzige Volksgruppe, die das zu Recht für sich reklamieren kann, sind die Kosovo-Albaner.

Wirtschaftlich haben die Kroaten nach dem Zweiten Weltkrieg besser abgeschnitten als das gesamte Jugoslawien. Die Kroaten sprechen Serbo-Kroatisch [30], eine der drei offiziellen Staatssprachen neben dem Slowenischen und dem Mazedonischen und die einzige anerkannte Sprache in der Armee. Im Jugoslawien Titos waren sie Herrschaftsapparat gut vertreten. Die folgende Tabelle, die die Vertretung der verschiedenen Nationalitäten in den Herrschaftspositionen der jeweiligen Territorien angibt, zeigt die krasse Differenz zu den Albanern:

Fuhrungspositionen (Vertretung der Nationalitäten in ihrer jeweiligen Republik) [31]

Nationalitäten

Anteil an der
gesamten Bev.
(in Prozent)

Anteil an
der Elite
des Landes

Kroaten in Kroatien

79,4

79,8

Moslems in Bosnien-Herzegowina

39,6

31,1

Ungarn in der Wojwodina

21,7

14,7

Albaner im Kosovo

73,7

34,5

Die angebliche Unterdrückung der Katholischen Kirche durch die Kommunisten, während gleichzeitig die Orthodoxe Kirche der Serben toleriert worden sei, wird häufig als Beweis für nationale Unterdrückung der Kroaten angeführt. Der katholische Kardinal Stepinac wurde z.B. nach Ende des Zweiten Weltkriegs gefangen gehalten. Diese Argumentation läßt jedoch die Tatsache unberücksichtigt, daß die Katholische Kirche praktisch zu einem Bestandteil des faschistischen Staates geworden war, den die Partisanen stürzten. Eine Anzahl von Kollaborateuren aus der Orthodoxen Kirche wurden am Ende des Kriegs ebenfalls in Gefängnisse gesteckt. [32]

Es wird sogar die groteske Behauptung aufgestellt, die Kroaten seien wirtschaftlich unterdrückt worden. Diese Behauptungen stützen sich auf zwei Argumente. Das erste ist, daß nach der Beseitigung eines Großteils der zentralen und föderalen Finanzhoheit (1963 kontrollierte der Staat 42,5 Prozent der Investitionen, 1971 nur noch 8,8) die Kontrolle an die Banken überging, die alle in Belgrad ihren Hauptsitz hatten. Das hinderte Kroaten jedoch nicht daran, wirtschaftlich wesentlich besser dazustehen als Serbien. Zweitens wird behauptet, daß die Kroaten höhere Steuern dafür bezahlten, weil sie die erfolgreicheren Betriebe hatten! [33]

 

 

Die doppelte Krise: Plan- und Marktwirtschaft versagen

War die Gründung des modernen Jugoslawien ursprünglich erfolgreich gewesen, so ergaben sich jedoch bereits sehr bald eine Reihe von Problemen, die letztlich auch zum Auseinanderbrechen des Staates führen sollten. Das erste Problem war die Tatsache, daß die Unabhängigkeit von der Sowjetunion – wie wir gesehen haben – mit einem hohen Preis bezahlt werden mußte. Die jugoslawische herrschende Masse war auf sich allein gestellt und mußte versuchen, Stalins Vorbild in einem Land mit gerade einem Zehntel der Fläche der UdSSR nachzueifern. Dies bedeutete notwendigerweise, auf dem Weltmarkt Handel zu treiben – mit all den Gefahren, die das mit sich brachte. 1956 wurde der Dinar abgewertet, einige der Firmen, die sich auf dem Weltmarkt nicht behaupten konnten, gingen Bankrott.

Das zweite, mehr strukturelle Problem, bestand darin, daß die herrschende Klasse zwar die Zugel der Kommandowirtschaft in ihren Händen hielt, sie jedoch bald merkte, daß dies nicht ausreichte, um erfolgreich zu sein. Wiederholt traten Handelskrisen als ein Teil des „Stop and Go“-Zyklus der Wirtschaft auf. Die Unfähigkeit der zentralen Planung, ein stabiles Wachstum zu sichern, führte zu einem Phänomen, das in einer Studie beschrieben wurde als „Konjunkturzyklen in Jugoslawien ... Auf Grund der dominierenden Stellung der Industrie in der jugoslawischen Wirtschaft, führen industrielle Zyklen zu Zyklen in allen anderen wirtschaftlichen Bereichen ...“ [34]

Jeder Versuch, durch den Einsatz zentraler Mittel in einem bestimmten Bereich geplantes Wachstum zu erreichen, führte wegen des Kapitalmangels zu Instabilität und Mangelerscheinungen in einem anderen Sektor. Anfang der sechziger Jahre trat die Inflation als ein Problem auf und blieb ein solches bis zum Ende des Jahrzehnts. Das Scheitern der Kommandowirtschaft wurde noch durch die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Teile der Bürokratie verschlimmert, die allesamt um Ressourcen auf Kosten der anderen rangelten.

In den sechziger Jahren begann die herrschende Klasse, eine Reihe von Reformen auszuprobieren, in der Hoffnung, daß ein neuer Mechanismus gefunden werden könne, um die versagende Kommandostruktur zu ergänzen. 1963 beschnitt eine neue Verfassung den Haushaltseinfluß des Bundes und übertrug den Republiken mehr Rechte. Der spezielle Investitionsfond – der darauf abzielte, Geld aus den reicheren Regionen abzuziehen, um die rückständigeren zu entwickeln – wurde gekürzt.

Zur gleichen Zeit jedoch, als die offizielle zentrale Planung zurückgedrängt wurde, erlangten andere zentrale Institutionen größere Bedeutung im Bereich der Geldbeschaffung und -zuteilung: die Banken. Um verschiedene Banken herum entstanden industrielle Konglomerate, die fast die Hälfte der gesamten Wirtschaft kontrollierten. Daher standen in Jugoslawien stets zwei Trends miteinander im Wettstreit – die dezentrale Orientierung der Bürokraten, deren Aufgabe es war, ihre regionalen Wirtschaftsprobleme zu lösen, sowie die Notwendigkeit, Ressourcen von der Zentrale aus zu mobilisieren. Es konnte niemals ein stabiles Gleichgewicht entstehen, weil der Druck des Weltmarkts ständig neue Prioritätensetzungen und Spannungen verursachte.

Die bürokratische Planung – die während der gesamten Periode fortdauerte – wurde sowohl von den sektionalen Interessen der Bürokratie als auch vom Druck des Marktes unterlaufen. Somit entwickelte sich eine Dauerkrise, in der wegen des Vorrangs des internationalen Wettbewerbs den profitableren Unternehmen der Vorzug gegeben wurde. Das gab den für diese Unternehmen zuständigen Bürokraten die Möglichkeit, mehr Autonomie und dadurch mehr Dezentralisierung zu fordern. Gleichzeitig wurden dadurch die schwächeren Teile der Wirtschaft noch stärker gefährdet und drohten zusammenzubrechen.

Immer wieder machte sich die Unfähigkeit der Bürokratie bemerkbar, die Wirtschaft auf einer zentralisierten Grundlage stabil auszuweiten. Jeder Versuch, sich mit dem Weltmarkt einzulassen, verschärfte die Widersprüche. „Auf diese Art und Weise entwickelten sich, was ein Beobachter, eine Reihe von Zyklen um den allgemeinen Trend zur Zentralisierung herum nannte, Liberalisierungszyklen, ökonomische Instabilität und weitere Liberalisierung.“ [35]

Diese Instabilität trat vor dem Hintergrund eines fast 20jährigen Wachstums auf. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts betrug von 1947-52 2,3 Prozent, von 1952-1960 9,8 Prozent und von 1960-68 6,8 Prozent. [36] Außerdem konnte die Bürokratie zu dieser Zeit zwei weitere Erfolge für sich verbuchen: Man hatte der Arbeiterklasse praktisch alle Früchte des Wachstums vorenthalten, Stieß aber kaum auf Widerstand. Eine nach 1965 ausbrechende Streikwelle erfaßte hauptsächlich kleinere Betriebe und konnte schnell unterdrückt werden. [37] Der Lebensstandard der Familien hatte 1960 das Vorkriegsniveau erreicht, alleinstehenden Arbeiter jedoch ging es schlechter als vor dem Krieg. [38]

Mitte der sechziger Jahre kam es innerhalb der Bürokratie zu einer Spaltung über die Frage, wie man auf die Instabilität reagieren solle. Die eine Fraktion, angeführt von Alexander Rankovic, wollte die Dezentralisierung rückgängig machen und mehr Gebrauch von der ökonomischen und politischen Macht der Belgrader Führung machen. Die bestimmende Tendenz unter Titos Führung allerdings trat für eine verstärkte Dezentralisierung, mehr Markt sowie mehr Rechte für die Republiken ein. [39] Das Setzen auf den Markt hätte, unter bestimmten Umständen, zur Entstehung eines gesamtjugoslawischen Marktes führen können. Die folgende Wirtschaftskrise jedoch trieb das Land in eine andere Richtung – hin zu miteinander konkurrierenden Republikwirtschaften.

Während der gesamten Zeit – von den späten sechziger bis zu den siebziger und achtziger Jahren – wurde die Krise des Staates, die sich als erstes durch das Versagen der bürokratischen Planung bemerkbar gemacht hatte, von zwei weiteren Krisen ergänzt. Die nationalen Fraktionen der herrschenden Klasse wurden zum einen durch die unterschiedlichen wirtschaftlichen Prioritäten auseinanderdividiert, und zum anderen prallten sie aufeinander, als sie versuchten, den Nationalismus zu benutzen, um den Arger von unten über ihr fortwährendes Versagen abzulenken.

 

 

Anmerkungen

1. Newsweek, 8.7.91

2. Financial Times, 27.5.91

3. Guardian, 21.9.91

4. B. Magas, New Left Review 174, S.31, London

5. I. Birchall, Workers Against the Monolith, London 1974, S.52 [Deutsche Übersetzung: Arbeiterbewegung und Parteiherrschaft, Gießen 1974, S.61.]

6. S. Vukmanovic, Struggle for the Balkans, London 1990

7. Yugoslavery, London 1991, S.11

8. ebenda, S.13

9. L.J. Cohen, The Socialist Pyramid, London 1989, S.53

10. ebenda, S.56

11. M. Djilas, The Unperfect Society, London 1969, S.158

12. L.J. Cohen, a.a.O., S.191

13. B. Mac Farlane, Yugoslavia: Politics, Economy and Society, London 1988, S.225

14. A. Carter, Democratic Reform in Yugoslavia: The Changing Role of the Party, London 1982, S.236

15. ebenda, S.240

16. ebenda, S.231-33

17. ebenda, S.229

18. ebenda, S.160

19. ebenda, S.160

20. ebenda, S.204

21. G. Tomic, Classes, Party Leaders and Ethnic Groups, in: D. Rusinow, Yugoslavia – a Fractured Federation, S.62-64

22. H. Poulton, The Balkans, Minorities and States in Conflict, London 1990, S.1

23. ebenda, S.2

24. ebenda, S.35

25. ebenda, S.7

26. I. Barac, The National Question in Yugoslavia, Cornell 1984, S.131

27. ebenda, S.138

28. R. Pearson, National Minorities in Eastern Europe 1848-1945, London 1983

29. Yugoslavery, a.a.O., S.9

30. Serbo-Kroatisch kann trotz der unterschiedlichen Dialekte und der zwei verschiedenen Alphabete als eine Sprache betrachtet werden. So wurde auch z.B. Türkisch keine neue Sprache, als es 1908 in die lateinischen Schrift konvertiert wurde.

31. L.J. Cohen, a.a.O., S.303-308

32. B. Mc Farlane, a.a.O., S.78

33. vgl. z.B. R. Bolland, Croatian Nationalism, in: Socialist Review, Melbourne 1990

34. B. Horvat, Business Cycles in Yugoslavia, 1971, S.228-9

35. M. Haynes, Nightmares of the Market, in: International Socialism 41, S.19, London

36. B. McFarlane, a.a.O., S.114

37. Yugoslavery, a.a.O., S.16

38. M. Miller, T. Piotrowicz, L. Sirc, H. Smith, Communist Economy Under Change, London 1963, S.162

39. B. Mc Farlane, a.a.O., S.25

 

Anmerkung von REDS – Die Roten

1*. Duncan Blackie, The road to hell, International Socialism 53, Winter 1991, S.29-56.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.12.2001